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Politisches Erdbeben in der Schweiz

Blocher-Partei steht vor der Spaltung

Von Steffen Klatt, St. Gallen *

Die seit Jahrzehnten stabile Parteienlandschaft der Schweiz gerät in Bewegung. Die größte Partei des Landes, die rechtsnationale SVP, steht vor der Spaltung. Damit erhält die Oppositionspolitik der Partei des rechtspopulistischen Milliardärs Christoph Blocher einen weiteren Dämpfer.

Die hohe Zeit der frischgebackenen Oppositionspartei ist vorüber. Erst verlor die Schweizerische Volkspartei (SVP) am Sonntag (1. Juni) die Volksabstimmung über die Verschärfung des Einbürgerungsrechts. Mit nur 36 Prozent Zustimmung für ihre Initiative gewann sie kaum Stimmen über ihr eigenes Lager hinaus. Am Montag (2. Juni) folgte der zweite Schlag: Der liberale Flügel der SVP, der vor allem im Kanton Bern stark ist, will eine eigene Partei bilden. Mit von der Partie ist Verteidigungsminister Samuel Schmid, der seit langem auf Kriegsfuß mit der Führung seiner Partei steht.

Noch ist offen, wie groß die neue Partei werden wird. Allerdings wird nicht damit gerechnet, dass die liberalen Abweichler die gesamte Berner Kantonalpartei überzeugen können, aus der gesamtschweizerischen SVP auszutreten. Zumal die Anhänger des Zürcher Milliardärs Christoph Blocher, der im Dezember als Justizminister der Schweiz abgewählt worden war, im Kanton Bern ebenfalls stark vertreten sind.

Sicher scheint dagegen, dass der Großteil der alten SVP Graubünden der neuen Partei angehören wird. Denn deren Ausschluss durch die Führung der SVP Schweiz am Sonntag gab letztlich den Ausschlag für den Austritt der Berner Parteiliberalen. Grund des Ausschlusses war, dass sich die Graubündner nicht von Eveline Widmer-Schlumpf trennen wollten. Die einstige Finanzministerin Graubündens war im Dezember vom Parlament an Stelle Blochers in die Schweizer Regierung gewählt worden.

Auch in einigen anderen Kantonen gibt es liberale SVP-Politiker, doch meist im Ruhestand oder in der zweiten Reihe. Ob es am Ende für die neue Partei reicht, um im Berner Nationalrat – dem Bundesparlöament – fünf Parlamentarier für eine Fraktion zusammenzubekommen, ist daher fraglich. Wer Karriere machen will, bleibt wohl lieber bei der bisher erfolgreichen SVP. Deren derzeitiger Chef, der 33-jährige St. Gallener Toni Brunner, gibt sich deshalb gelassen: »Reisende soll man nicht aufhalten.«

Mit der Abspaltung der Liberalen von der SVP zerfällt auch der Rest des Schweizer Konkordanzsystems: Seit Ende der 50er Jahre haben die vier größten Parteien des Landes – außer der SVP sind das die Sozialdemokraten, die Freisinnigen und die Christdemokraten – stets gemeinsam regiert. Nach der Abwahl Blochers erklärte die SVP diese Konkordanz für tot. Tatsächlich ist mit dem Austritt Schmids und dem Ausschluss Widmer-Schlumpfs aus der SVP die bisher stärkste Partei des Landes nicht mehr in der Regierung vertreten. Dafür hat die neue künftige Kleinstpartei gleich zwei der sieben Regierungssitze – die größeren Christdemokraten dagegen nur einen und die Grünen mit ihren zehn Prozent Wähleranteil gar keinen.

Die Abstimmung am Sonntag hat indes gezeigt, dass viele Positionen der SVP, anders als während ihres Aufstiegs in den 90er Jahren, nicht mehr mehrheitsfähig sind. Sie kann zwar auf eine stabile Wählerschaft zählen. Dafür aber lehnt der große Rest der Schweizer ihre Politik um so heftiger ab. Die SVP kann auch nicht mehr im gleichen Maße wie früher ihre einstige Trumpfkarte ziehen: Christoph Blocher als Architekt des SVP-Aufstiegs ist müde geworden. Der 67-jährige Rechtspopulist wirkt bei Auftritten zunehmend geschwätzig, seine Witze und Pointen wirken abgenutzt. Die SVP hat zwar viele disziplinierte Parteisoldaten nachgezogen. Doch die überragenden Strategen fehlen.

Die schweizerischen Politiker haben nun bis zum Oktober 2011 Zeit zu lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Erst dann wird wieder auf nationaler Ebene gewählt werden. Und bis dahin wird mit wechselnden Mehrheiten regiert werden – wie immer in der Eidgenossenschaft

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2008


Willkommen im Einwanderungsland

Die SVP verlor am Sonntag. Verliert sie jetzt sich selbst?

Von Sina Bühler **

Rund 64 Prozent stimmen gegen die willkürliche Einbürgerung. Und Parteipräsident Toni Brunner meint zum Volkswillen: «Heute ist wieder ein Stückchen Demokratie verloren gegangen und wieder ein bisschen Richterstaat mehr.» Hat das Volk doch nicht immer recht? Grosses Umdenken in der SVP? Ist die direkte Demokratie plötzlich undemokratisch? Meint Brunner nun Richterstaat oder Rechtsstaat? Zum Zeitpunkt, als die ersten Hochrechnungen zur katastrophalen Niederlage seiner Partei bei der Einbürgerungsinitiative eintrafen, war im Zürcher Hotel Marriot Toni Brunners Brust gebläht; er sprach gerade über das kindische Ausschlussverfahren von Bundesrätin Widmer-Schlumpf.

Dabei ging es doch um die «wichtigste Abstimmung des Jahres» (Brunner), und die SVP hatte vor ein paar Wochen noch einmal doppelt so viele Plakate aufgezogen, weil die Meinungsumfragen plötzlich ein Nein zur Initiative voraussagten. Die Schweiz war übersät von den braunen Armen, die nach roten Pässen griffen. Vielleicht war das zu viel, wie bei dieser Partei alles etwas zu viel war in letzter Zeit.

Denn am Sonntag (1. Juni) geschah etwas - fast wie in José Samaragos Roman «Die Stadt der Sehenden»: Bei den Wahlen in einer namenlosen Stadt legen dort über siebzig Prozent der Stimmenden einen weissen Zettel in die Urne. Ohne dass eine Kampagne dahinter zu erkennen wäre. Als die Regierung - erstaunt - die Wahl wiederholt und ihre Spitzel die Stimmenden überwachen, ist der Anteil noch höher. Achtzig Prozent weisse Zettel, und niemand scheint sich mit niemandem abgesprochen zu haben, niemand weiss, wie es dazu kam. Samaragos Roman ist eine Parabel über Politikverdrossenheit. Bei der Einbürgerungs­initiative war es ähnlich: jedenfalls was den aktuellen Ton in der Politik, vielleicht auch nur in der Ausländer­Innenpolitik angeht.

Während die SVP sich in den letzten Wochen vor allem mit sich selbst beschäftigt hat, scheint die linke und liberale Schweiz sich endlich mobilisiert zu haben. Jene Gruppe, die vielleicht schon dachte, Politik gehe sie nichts mehr an - ermüdet davon, immer überstimmt zu werden. «Übermobilisieren», nannte das SP-Präsident Christian Levrat. «Wir brauchen jede Frau, jeden Mann bei dieser Abstimmung. Sie ist noch zu gewinnen, aber dazu müssen wir alle unsere Leute dazu bringen, ein Nein in die Urne zu legen», sagte er im Interview mit der WOZ (siehe Nr. 21/08). Das gelang.

Es ist zum ersten Mal in acht Jahren, dass sich über sechzig Prozent der Stimmenden für AusländerInnen und vor allem für einen gerechten und würdigen Umgang mit deren Rechten ausgesprochen haben. Damals, im September 2000, war die Volksinitiative «Für eine Regelung der Zuwanderung» («18-Prozent-Initiative») genauso heftig abgelehnt worden. Sie war aber ungleich rassistischer und ausgrenzender als die Einbürgerungsinitiative. Damals hiess der Slogan der Rechten: «Die Schweiz ist kein Einwanderungsland». Sie ist es eben doch, sie will es sein, und genau davon kann die Linke nun ausgehen und ihre Politik entsprechend definieren.

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland, und das merken auch die, die das gar nicht gut finden. Was tun sie? Auf «Tele Züri» meinte eine Vertreterin der SVP-Frauen: «Ich gehe nie mehr abstimmen. Sollen doch die Ausländer entscheiden, was mit der Schweiz passiert.» Dass sich die SVP nicht nur per Parteiausschluss selber auflöst, sondern dass auch die WählerInnen nicht mehr mögen: Was wollte man mehr?

** Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 5. Juni 2008 (Kommentar)


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