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Wie in Rambouillet

Kosovo: Der Terror gegen Minderheiten geht weiter, dennoch werden die Vereinten Nationen in Kürze zu Endstatus-Gesprächen laden

Von Jürgen Elsässer

Die Albaner im Kosovo kommen ihrem wichtigsten Ziel, der Proklamation eines eigenen Staates, immer näher. Bis Ende Oktober wird der UN-Sicherheitsrat einen Report debattieren, den Kofi Annans Sonderbeauftragter Karl Eide vor kurzem über die Lage in der Provinz vorgelegt hat, und auf dieser Grundlage zu den so genannten Endstatusgesprächen einladen. Ginge es nur nach den NATO-Mächten, stünde deren Ergebnis schon fest: In allen westlichen Hauptstädten wird einhellig die Unabhängigkeit favorisiert.

Trotz der Kapitulation Slobodan Milosevic nach dem 78-tägigen Luftkrieg 1999 scheuten die Sieger damals vor der formellen Abspaltung des Kosovo zurück. Die UN-Resolution 1244 vom Juni 1999 hielt an der Zugehörigkeit zum Staat Jugoslawien fest, billigte lediglich die Einrichtung einer UN-Übergangsverwaltung (UNMIK) und die Stationierung einer NATO geführten Protektoratstruppe (KFOR) "zur Sicherung der Menschenrechte".

Der Grund für die Zurückhaltung lag auf der Hand: Zwar waren nach dem Ende der Bipolarität 1989/90 von Mittelasien über das Baltikum bis hin zum Balkan eine ganze Reihe neuer Staaten entstanden. International anerkannt wurden bis heute aber nur jene, die aus den Teilrepubliken von Vielvölkerstaaten hervorgegangen waren, also etwa Kroatien oder Moldawien. Nicht völkerrechtlich sanktioniert wurden dagegen Sezessionen von administrativen Einheiten unterhalb dieser Ebene, etwa die Loslösung der serbischen Krajina-Republik von Kroatien oder der prorussischen Djenstr-Republik von Moldawien. An dieses Prinzip hielt sich der Westen bis dato selbst dann, wenn Separatisten pro NATO auftraten wie die Rebellenbewegung im Südsudan oder die auf Autonomie bedachten Kurden im Nordirak. Kosovo hatte auch im titoistischen Jugoslawien niemals den Status einer Republik. Würde seine Staatlichkeit nun durch die UNO legitimiert, wäre das ein Präzedenzfall mit unkalkulierbaren Folgen - nicht nur für den Balkan.

Dass die albanischen Separatisten verstärkt Rückenwind für ihre Bestrebungen haben, ist um so erstaunlicher, da ihr Terror in den vergangenen Wochen wieder zugenommen hat. Am 27. August wurden zwei Serben in ihrem Auto in die Luft gesprengt und zwei weitere schwer verletzt. Am 28. September gab es ein Attentat auf den höchsten serbischen Offizier in der (ansonsten von Albanern dominierten) Polizei der Provinz. Am 1. Oktober wurde eine Bombe unter einem UN-Fahrzeug in Pris?tina entdeckt und gerade noch rechtzeitig entschärft. Am 4. Oktober zerstörte ein Sprengsatz ein UN-Fahrzeug im Südost-Kosovo. Am 12. Oktober wurde ein Angehöriger der türkischen Volksgruppe in Prizren erschossen. Seit dem Abzug der jugoslawischen Armee und dem Einrücken der KFOR vor sechs Jahren wurden etwa 2.500 Serben und andere Nichtalbaner ermordet oder verschleppt (und blieben verschwunden). Über 200.000 Angehörige von Minderheiten wurden im gleichen Zeitraum aus der Provinz vertrieben. Von ihnen haben sich bislang gerade einmal 12.000 zur Rückkehr entschließen können, nur ein Indiz von vielen für die als unsicher und instabil empfundenen Verhältnisse.

Auch in Karl Eides Bericht von Anfang Oktober finden sich Splitter dieser Realität. So referiert der UN-Sonderbeauftragte "weitverbreitete Ansichten, dass gegenwärtig genauso viele oder mehr Serben aus dem Kosovo fliehen als dorthin zurückkehren". Um es sich mit der albanischen Seite nicht zu verderben, wird eine klare Schuldzuschreibung jedoch vermieden. Kein Wort zur Beteiligung von Einheiten des Kosovo Schutzkorps (KPC), das nach der Unabhängigkeitserklärung zur Armee werden soll, an den Pogromen im März 2004. Vielmehr sei die Gewalt auf "das Gefühl der Stagnation und die angespannten Beziehungen zwischen Albanern und Kosovo-Serben" zurückzuführen.

Schon an dieser Stelle scheint die Hauptfigur in Eides Argumentation auf: Beiden Ethnien ist nicht über den Weg zu trauen, und die Fortexistenz des Status quo ("Stagnation") macht sie noch unberechenbarer. Mehrfach erwähnt Eide als positive Alternative Bosnien-Herzegowina - ein formal selbstständiger Staat, der aber de facto von einem westlichen Gouverneur wie ein Protektorat regiert wird: Dieser von der UNO abgesegnete "High Representative" kann anstelle des Parlaments Gesetze erlassen, er darf Gerichtsurteile aufheben und Minister absetzen. Unabhängig von allen Statusfragen müsse - so Eide - die "weitere Präsenz" der NATO inklusive der US-Armee gewährleistet werden, allerdings bei heruntergefahrener Truppenstärke. Dafür solle dann die EU einspringen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Endstatus-Verhandlungen verlaufen wie die Vorkriegs-Konferenz von Rambouillet im Februar und März 1999: Damals saßen die serbische und albanische Delegation niemals an einem Tisch. Westliche Unterhändler transportierten ihre Vorschläge jeweils von einer separaten Besprechung zur nächsten - und sattelten dabei immer mehr zu Ungunsten Belgrads drauf. Chef dieser Shuttle-Diplomatie in Sachen Kosovo wird aller Voraussicht nach der Finne Marti Ahtisaari werden. Er überredete im Juni 1999 den damaligen jugoslawischen Präsidenten Milosevic zur Einstellung der Kampfhandlungen - mit dem Argument, die Vereinten Nationen übernähmen treuhänderisch die Kontrolle über das Kosovo. Stattdessen rückte die NATO ein.

* Von Jürgen Elsässer erschien 2004: Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess, Verlag Kai Homilius

Aus: Freitag 42, 21. Oktober 2005



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