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Kosovo nach den Wahlen: Vor schwierigen Statusverhandlungen

Ausgewählte Pressestimmen zum Wahlergebnis und zur Wahlabstinenz der Serben - Was macht die UNO?

Die zweiten Parlamentswahlen seit dem Abzug der serbischen Streitkräfte 1999 aus der unter UNO-Protektorat stehenden Provinz verliefen "friedlich, demokratisch und ohne Zwischenfälle", teilte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit. Die Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent, und wie erwartet siegten der als moderat geltende Präsident des Kosovo, Ibrahim Rugova, und seine Demokratische Liga (LDK). Laut inoffiziellen Ergebnissen verfehlten sie mit rund 47 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit. Es folgen mit 27 Prozent die Demokratische Partei (PDK), des Ex-Oberbefehlshabers der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK), Hashim Thaci, und mit acht Prozent die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK), angeführt vom Ex-UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj. Ins Parlament schaffte es auch der für prowestlich gehaltene Schriftsteller Veton Suroy mit seiner Partei ORA.

Soweit die Zahlen. Was aber bedeutet dieser Wahlgang am 23. Oktober für die Zukunft der serbischen Provinz? Rugova erklärte umgehend, die sei ein "großer Tag" für den Kosovo auf "seinem Weg in die Unabhängigkeit". Nur ein unabhängiger Kosovo als Mitglied der EU und Nato würde die Stabilität in der Region garantieren. Die Selbstständigkeit der Provinz, die laut der UNO-Resolution 1244 immer noch ein Bestandteil der Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro ist, ist das gemeinsame Ziel aller albanischen Parteien, mögen sie sonst auch noch so zerstrittenen sein.

Statt auf drei wurde das Parlament diesmal auf vier Jahre gewählt. Die zukünftige Regierung werde mit "weitaus mehr Verantwortung ausgestattet sein als die bisherige", teilte der Leiter der UNO-Übergangsverwaltung (UNMIK), Jessen Soren Petersen, mit. Dem Aufruf des national-konservativen serbischen Premiers, Vojislav Kostunica, und der serbisch-orthodoxen Kirche folgend, boykottierten die im Kosovo wahlberechtigten Serben wegen der "katastrophalen Sicherheitslage" weitgehend die Wahlen. Nicht einmal ein Prozent ging zu den Urnen. Die für rund 100.000 serbische Flüchtlinge eröffneten Wahllokale in Serbien blieben leer. Man werde doch der "amerikanisch-albanischen" Mafia nicht ein Alibi für die "Loslösung der Wiege des Serbentums vom Mutterland" geben, erklärten lokale Parteiführer.
Obwohl die Serben zehn garantierte Mandate im Kosovo-Parlament haben, stelle sich wegen der "lächerlichen Wahlbeteiligung" die Frage, wen die Abgeordneten der serbischen Wahllisten überhaupt vertreten sollen, hieß es in der serbischen Presse.

Quelle: DER STANDARD, 25.10.2004


Von den Presseagenturen wurde am 25. Oktober folgende Meldung nachgeschoben:
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat sein Bedauern über den Wahlboykott der Serben im Kosovo geäußert. Die niedrige Beteiligung der Minderheit nehme er "mit Enttäuschung" zur Kenntnis, erklärte er am 24. Oktober in New York. Zugleich gratuliere er den kosovoserbischen Wählern und Kandidaten "für ihren Mut", dem "heftigen Druck" standgehalten zu haben. Annan lobte den reibungslosen Ablauf der Parlamentswahl vom Samstag: "Die Bewohner des Kosovo haben verstanden, wie wichtig es ist, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen und selbst an der Gestaltung der Zukunft Hand anzulegen". Der Generalsekretär rief alle Kräfte in der UN-verwalteten serbischen Provinz auf, das Wahlergebnis zu respektieren.


Die Zukunft des Kosovo bleibt auch nach der Wahl unklar. Es gibt genügend Kräfte, die lieber heute als morgen sich von der UNO-Resolution 1244 (1999) veranschieden würden, weil sie meinen, nur so könne Frieden in der Region einkehren. Andere zweifeln am Allheilmittel "Nation Building", noch dazu wenn es nach ethnischen Gesichtspunkten erfolgen soll. Der Reststaat Serbien-Montenegro, der von der einst multiethnischen Bundesrepublik Jugoslawien übrig geblieben ist, wird sich verständlicherweise mit allen Mitteln gegen die Lostrennung des Kosovo wehren. Ob es eine zufriedenstellende Lösung dazwischen geben kann (ŕ la Südtirol in Italien etwa), ist heute schwer auszumachen.

Die im Folgenden dokumentierten Kommentare aus einigen überregionalen Tageszeitungen legen Zeugnis ab von der Kompliziertheit der Lage.



Andreas Ernst kommentiert für die Frankfurter Rundschau und plädiert für einen "Kompromiss". Wie der indessen aussehen könnte, bleibt weitgehend offen. Fest steht für ihn aber, dass sich die Serben mit ihrer Wahlenthaltung ins "Abseits" manövriert haben:

(...) Das Abseits stehen der Serben zeigt, dass es fünf Jahre nach dem Ende des Krieges kein "Wir-Gefühl" in Kosovo gibt, das alle Volksgruppen umfasst. Der Begriff "Kosovare", den die internationale Gemeinschaft einführte, um interethnisches "nation-building" zu betreiben, ist leer geblieben.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Revanchegefühle der Albaner gegenüber den verbliebenen Serben, Fehlleistungen der internationalen Präsenz beim Aufbau verlässlicher Institutionen und beim Schutz der Bürger, das Störfeuer aus der serbischen Hauptstadt, wo der Anspruch auf die Provinz aufrechterhalten wird und manche Politiker eine Beruhigung der Lage als ersten Schritt Richtung Unabhängigkeit befürchten. Frustration und Angst, Hass und Misstrauen waren der emotionale Hintergrund für die Ausschreitungen vor einem halben Jahr, deren Hauptopfer die Kosovo-Serben waren. Ein Konsens über die gemeinsame Zukunft, der bodenständig aus der "kosovarischen Gesellschaft" erwachsen würde, ist auf lange Sicht ausgeschlossen.
Was bedeutet der serbische Wahlboykott unter diesen Bedingungen? Trotz gegenteiliger Beteuerungen der internationalen Protektoren werden die kosovo-serbischen Abgeordneten, die bloß mit einer Handvoll Stimmen gewählt wurden, mit einem Legitimitätsproblem zu kämpfen haben. Einerseits gegenüber der Mehrheit der Kosovo-Serben, die sich durch sie nicht vertreten fühlt, andererseits gegenüber den kosovo-albanischen Gesprächspartnern, die sie nicht ernst nehmen müssen. (...)
(...) Ohne Belgrad, dies war nüchternen Beobachtern immer klar, lässt sich die Kosovofrage nicht lösen.
Die Frage ist nur, wie man sie unter Einschluss Belgrads löst. Die Antwort ist einfach und schwierig zugleich: Mit einem Kompromiss. Aber wie soll dieser aussehen? Selbst professionelle Besserwisser wie Journalisten und Experten geben zu, dass sie ratlos sind. Autonomie? Unabhängigkeit? Teilung? Alle Szenarien haben fast gleich viele Nachteile wie Vorteile. Wenn auch das Ziel ungewiss ist, der Weg dorthin ist klar. Er führt über Dreiergespräche zwischen Pristina, Belgrad und der "Internationalen Gemeinschaft". Dabei muss die EU eine wichtige Rolle spielen. Denn darin sind sich Albaner und Serben einig: Sie alle wollen EU-Bürger werden.

Aus: Frankfurter Rundschau, 25.10.2004

"Störfall Kosovo" umschreibt die Berliner Zeitung den Kommentar von Frank Herold. Neben den Serben bzw. Belgrad wird die UNMIK als eigentliches Problem ausgemacht.

Die Parlamentswahl in Kosovo, die dritte in den fünf Jahren seit dem Krieg, hat die düstersten Erwartungen noch übertroffen. Die serbische Beteiligung lag nach offiziellen Angaben bei unglaublichen 0,27 Prozent. In absoluten Zahlen sind das weniger als 200 Menschen. Der Boykott war also vollständig. Die Serben sind noch immer traumatisiert durch die Gewaltexzesse radikaler Albaner, denen sie im März ausgesetzt waren - hilflos und im Stich gelassen von der internationalen Schutztruppe. Die Serben konnten nicht erwarten, dass diese Wahlen etwas an ihrer Situation ändern würden.
Gleichzeitig ging nur etwa die Hälfte der albanischen Mehrheitsbevölkerung zur Abstimmung. Das wiederum zeigt: Unzufriedenheit und Frustration herrscht in der gesamten Bevölkerung der Provinz. (...)
(...) Die Wahl war schon deshalb wenig attraktiv, weil alle wussten, dass am Ende wieder nur eine Versammlung korrupter Lokalgrößen zustande kommen würde, die sich jetzt wieder nur um die Kontrolle der lukrativen Ministerien streiten wird und nicht um die Zukunft des Kosovo. Darauf haben das Parlament und die Mitglieder des künftigen Kabinetts ohnehin nur begrenzt Einfluss, denn die tatsächlichen Entscheidungen fallen in der Unmik, der Protektorratsverwaltung der Vereinten Nationen.
Diese fortdauernde Vormundschaft ist von einer Notwendigkeit der Nachkriegszeit inzwischen zum eigentlichen Problem für die Zukunft des Kosovo geworden. Die lokalen Politiker haben sich in der Situation bequem eingerichtet: Sie entscheiden selbstherrlich über die Verteilung der aus dem übrigen Europa auf den Balkan transferierten Steuermilliarden. Die Gelder versickern seit Jahren im bodenlosen, ohne jeden Effekt für den Wiederaufbau des Kosovo. Die Verantwortung für die Misswirtschaft und den offensichtlichen Stillstand lässt sich wunderbar an die UN-Behörden abschieben, die hat ja schließlich alle Entscheidungsgewalt an sich gezogen.
(...) Mitte kommenden Jahres werden die Verhandlungen über den Status des Kosovo starten. Derzeit sind die Erwartungen und Positionen aller beteiligten Seiten aber noch unrealistisch bis hin zum Selbstbetrug.
Die serbische Führung in Belgrad besteht auf jedem Buchstaben der UNO-Resolution 1244UN-Resolution 1244, die Kosovo als unveräußerlichen Teil Serbiens definiert, bis einvernehmlich eine andere Lösung gefunden ist. Die Konfrontation der im Kosovo verbliebenen Serben mit der albanischen Bevölkerung soll nach Belgrader Vorstellungen beseitigt werden durch die Schaffung von fünf ethnisch einheitlichen Großgemeinden mit eigener Verwaltung, Gerichten und Polizei. Das liefe praktisch auf eine Art serbischer Wehrdörfer in einer misstrauischen bis feindlichen albanischen Umgebung hinaus. Was das bedeutet, ist aus dem Westjordanland hinlänglich bekannt. Darauf kann sich die internationale Gemeinschaft unmöglich einlassen. Sie hat den Krieg 1999 im Namen der Menschenrechte für alle in Kosovo Lebenden geführt und nicht für die künstliche Schaffung von ethnischen Reservaten in Europa.
Hinlänglich bekannt ist auch die Position der Führer der albanischen Volksgruppe: Sie wollen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Damit sei nicht unbedingt ein Nationalstaat gemeint, sagen sie, wohl aber die vollständige Freiheit von Belgrad. (...)
Was also kann aus heutiger Sicht das Ergebnis von Statusverhandlungen sein? Am wahrscheinlichsten ist dies: Ein in unverständlichen Klauseln formuliertes Zwischending zwischen Selbstständigkeit, formaler Anbindung an Belgrad und zumindest behaupteter Einbindung in irgendwelche europäischen Strukturen. Schon heute ist abzusehen, dass eine solche Konstruktion die Konflikte nicht löst, sondern nur neue schafft.

Aus: Berliner Zeitung, 25. Oktober 2004

In der taz kommt ein Jornalist zu Wort, der vor und während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien wie kaum ein anderer die Partei der albanischen Nationalisten einnahm: Erich Rethfelder. Entsprechend auch seine harsche Abrechnung mit dem serbischen Wahlboykott (Leitartikel: "Serbisches Eigentor"). Die Serben "verharren .. starrsinnig auf alten, unversöhnlichen Positionen", schreibt er. Auf albanischer Seite scheint dagegen alles in Ordnung zu sein.

(...) Wieder einmal bestätigt sich, dass radikale Nationalisten nicht nur für andere Völker eine Gefahr darstellen, sondern auch für das eigene. Denn der Wahlboykott schafft für die verarmten Menschen in den serbischen Enklaven, denen wenig mehr als ihre Habseligkeiten geblieben ist, keine Jobs und bringt keine Sicherheit. Wenn 2005 die Weichen für den zukünftigen Status des Kosovo neu gestellt werden, müsste der serbischen Seite eigentlich alles an einer günstigen Ausgangsbasis für die Verhandlungen gelegen sein. Doch offenbar hat man hier noch nicht bemerkt, dass es der UN und den anderen Institutionen der internationalen Gemeinschaft ernst damit ist, eine zumindest mittelfristig tragfähige Lösung für das Kosovo herbeizuführen. (...)
Dabei müsste die serbische Regierung unter Vojislav Kostunica doch wissen, dass die internationale Gemeinschaft die albanischen Wünsche nach staatlicher Unabhängigkeit kurzfristig gar nicht erfüllen will - nicht zuletzt wegen der Angriffe albanischer Extremisten auf die Serben des Kosovo im März. Und sie müssten auch wissen, dass bei der Mehrheit der Albaner der Wunsch nach Unabhängigkeit das eine ist, die Angst vor dem Abzug der internationalen Institutionen das andere. Denn ohne internationale Präsenz würde das Land wirtschaftlich zusammenbrechen. (...)
Das jetzt gewählte Parlament, so viel ist sicher, wird mehr Verantwortung erhalten und damit mehr zu entscheiden haben. Die UN-Mission wird in Zukunft nicht mehr ein Protektorat verwalten, sondern wie in Bosnien die Demokratisierung und den wirtschaftlichen Aufbau des Landes überwachen. Für Kosovos Serben wäre eine konstruktive Zusammenarbeit von Vorteil, um aus Agonie und Hoffnungslosigkeit herauszukommen. Eine friedliche Zukunft fällt eben nicht vom Himmel. Man kann nur hoffen, dass sich auf serbischer Seite die moderaten Kräfte doch noch durchsetzen.

Aus: taz, 25.10.2004

Das Hamburger Abendblatt lässt einen Altpolitiker zu Wort kommen - vielleicht weil man so jemandem eher ein Urteil in dieser komplizierten Materie zutraut als einem Journalisten? Der Kommentator ist Ortwin Runde, ehemaliger Hamburgs Erster Bürgermeister und heute Wandsbeker Bundestagsabgeordneter. Ganz nebenbei berät er im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung die Parteien des Kosovo im Aufbau von Regierungsfähigkeit. Ein Insider also. Wie beurteilt er die Lage?

(...)
Die Hürden für eine ordentliche Regierungsbildung sind .. hoch: Die Narben des Krieges, die ethnischen Gräben, die März-Unruhen mit vielen neuen Toten und massiven Zerstörungen, der Boykottaufruf der Wahlen durch die Serben, denen qua Verfassung schon zehn der 120 Parlamentssitze reserviert sind.
(...) Dabei müssen wir lernen, daß die Standards des Kosovo auch auf lange Sicht sicher nicht die Standards Westeuropas sein werden. Dennoch müssen sie nicht nur eingeführt, sondern selbstverständlich werden. Das Wahlverhalten der Kosovaren selbst wird von Ängsten und tiefen Emotionen bestimmt, und die Interpretation von Demokratie ist auf dem Balkan schon wegen der ausgeprägten Clan-Strukturen eine andere als bei uns.
Und doch wissen die Kosovaren, daß die zügige Bildung einer handlungsfähigen Regierung und ein verträgliche Streitkulturen entwickelndes Parlament wesentliche Voraussetzungen für den sicheren Status des Kosovo sind. Ob dieser Prozeß in eine staatliche Unabhängigkeit des Kosovo führen kann und wird, muß sich erst noch erweisen.
Auf dem langen Weg dorthin ist unser Geleit erforderlich; daß deutsche Institutionen sich dieser Arbeit auch außerhalb der Schlagzeilen annehmen, ist und bleibt unerläßlich. Und auch wenn der Balkan aus unserer Perspektive ziemlich weit weg, das Kosovo verhältnismäßig klein sein mag: Wie schnell vermeintliche europäische Fußnoten zu eigenen weltpolitischen Kapiteln voller Tragik gerinnen, das haben wir zu oft erlebt und nicht verhindert, und das muß und darf sich nicht wiederholen. (...)

Aus: Hamburger Abendblatt, 25. Oktober 2004

Wie so oft werden Lage und Perspektive in der linken Tageszeitung "junge Welt" etwas anders beurteilt. Werner Pirker kommentiert die Wahl so:

Die Wahlen im Kosovo sind vom serbischen Bevölkerungsteil zu mehr als 99 Prozent boykottiert worden. Damit haben die Kosovo-Serben bekundet, daß sie die politischen Institutionen des Protektoratsgebildes nicht anerkennen. Denn diese Wahlen bildeten einen weiteren Schritt im Verselbständigungsprozeß der Provinz weg von Serbien. Die Serben wollen nicht als Minderheit in einem albanischen Kosovo leben. Zwar sind sie dort schon seit langem eine Minorität. Doch bis zum NATO-Krieg 1999 waren sie das als Bürger einer multiethnisch definierten Provinz im Bestand der multiethnisch definierten Republik Serbien. Sie glauben deshalb auch nicht den Verheißungen der Kolonialverwalter, eine multinationale Gesellschaft ins Leben rufen zu wollen. Denn wenn diese das je beabsichtigt hätten, dann hätten sie im Kosovo-Konflikt nicht Partei für den albanischen Ethnozentrismus ergreifen und die Provinz von Serbien abtrennen dürfen.
Es haben somit im Kosovo keine allgemeinen Wahlen, sondern albanische Wahlen stattgefunden. Deren mutmaßlicher Sieger Ibrahim Rugova sieht in ihnen, ebenso wie seine Mitbewerber – die Feldkommandanten der UCK – ein Plebiszit für die staatliche Unabhängigkeit. Diese wird ihnen von den Beamten der UNO-Übergangsverwaltung (UNMIK) auch in Aussicht gestellt. Die Formel lautet: Standards vor Status. Erst nach Umsetzung »menschenrechtlicher, demokratischer und rechtsstaatlicher und markwirtschaftlicher« Standards, heißt es, könnten Verhandlungen über den Status der Provinz aufgenommen werden. An eine Wiederherstellung der territorialen Integrität Jugoslawiens bzw. dessen Nachfolgestaates Serbien-Montenegro, wie sie in der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 vom Juni festgeschrieben ist, dürfte dabei am allerwenigsten gedacht sein. Spätestens der totale Wahlboykott der Serben aber müßte die UNO-Bürokraten zu der Einsicht bringen, daß ihr Modell einer nationalen Befriedung im Kosovo gescheitert ist. Daß die Wahlbeteiligung insgesamt sehr niedrig war, zeigt, daß auch die albanische Mehrheit nicht sonderlich zuversichtlich einer Zukunft nach westlichen Vorgaben entgegenblickt. Denn auf dem Weg zur »Unabhängigkeit« hat sich die soziale Lage noch weiter verschlechtert, sind neue, drückende Abhängigkeiten entstanden.
In Belgrad haben die Wahlen im Protektorat starke Bruchlinien innerhalb der Regierungskoalition erkennen lassen. Premier Kostunica und die serbisch-orthodoxe Kirche hatten zum Boykott aufgerufen, Außenminister Vuk Draskovic dagegen zur Teilnahme. Wenigstens in diesem Punkt hatten die Kosovo-Serben die Wahl. Das Ergebnis fiel eindeutig aus.

Aus: junge Welt, 25. Oktober 2004

Um die Zukunft des Kosovo geht es auch in dem Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung ("Wie weiter in Kosovo?"). Der Kommentator bemüht sich um eine ausgewogene Argumentation, bleibt aber auch eine eindeutige Antwort auf die Frage schuldig, was denn nun relaistischerweise geschen müsse:

(...) Die Ansichten darüber, wer einst in dem heutigen Uno-Protektorat die oberste Macht ausüben soll, sind so unvereinbar wie eh und je. Sämtliche der parlamentarischen Parteien auf Seiten der Kosovo-Albaner sehen keine Alternative zu einer baldigen und vollständigen Unabhängigkeit. Moderatere Kräfte unter den Serben können sich ein Leben unter einer albanisch dominierten Provinzverwaltung zwar vorstellen. In ihrer Gesamtheit sind sich die Kosovo-Serben, die weniger als zehn Prozent der Bevölkerung stellen, aber einig, dass es eine Aufgabe der Oberhoheit Belgrads über die Provinz mit allen Mitteln zu verhindern gelte.
Diese Sicht der Dinge verankerte die Belgrader Regierung in dem Entwurf für die neue serbische Verfassung. Vehemente Verfechter solchen Denkens sind Serbiens Regierungschef Kostunica und die mit seiner Partei verbandelte serbisch-orthodoxe Kirche, die keine Gelegenheit auslässt, um auf die Bedeutung Kosovos als Wiege serbischer Kultur hinzuweisen. (...)
(...) Die Unzufriedenheit ob der wirtschaftlichen Stagnation ist gross und äusserte sich in Wahlabstinenz. Die aufgestaute Wut könnte sich, nicht nur wie im letzten März gegen die Serben, künftig vermehrt auch gegen die internationalen Helfer in ihren glitzernden Allradfahrzeugen wenden. Vor diesem Hintergrund ist derzeit an einen Abbau der internationalen Truppen nicht zu denken. Unter dem Eindruck der blutigen März-Unruhen bemüht sich die Uno-Verwaltung um längst überfällige Reformen. Eines der Ziele dabei ist die Abgabe von weiteren Kompetenzen an die Gemeinden. Dieser Weg ist darum vielversprechend, weil damit albanische und serbische Interessen in Einklang kommen könnten. Jeder kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten. Nicht die Illusion eines multikulturellen Miteinander, sondern ein friedliches Leben nebeneinander soll Ziel sein.
Ohne die Einhaltung demokratischer Grundregeln allerdings wird eine solche Struktur nie lebensfähig sein. Und da hapert es bei Serben und Albanern gleichermassen. Auf albanischer Seite tut man sich mit der Verfolgung von Kriegsverbrechern aus den eignen Reihen sehr schwer, wie kürzlich von der Chefanklägerin des Uno-Tribunals bemängelt wurde. Und die Kosovo-Serben haben dank international geduldeter Finanzhilfe aus Belgrad ein höchst intransparentes eigenes Verwaltungs- und Sicherheitssystem errichtet, das den Bürgern ihr Stimmrecht verwehren konnte, wie von Serbiens Regierungschef Kostunica empfohlen.
Unter diesen Umständen erscheinen ernsthafte Verhandlungen über Kosovos Zukunft bereits in neun Monaten wenig realistisch. Solange sich in Belgrad ein Kostunica erfolgreich als Störfaktor in Szene zu setzen vermag, sehen die Kosovo-Serben zum Einlenken keinen Grund. Gleichzeitig muss in Kosovo der internationale Druck erhöht werden, um endlich jene Albaner an das Uno-Tribunal auszuliefern, die im Kampf gegen Serbiens Repression Kriegsverbrechen begangen hatten, selbst wenn es sich dabei um Männer in Anzug und Krawatte handeln sollte. (...)

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 25. Oktober 2005


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