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Das alte Lied: Teile und herrsche!

Serbien nach den Kriegen - Die Pattsituation auf dem Balkan und die Krise der EU

Von Ernstgert Kalbe *

Ein hochaktueller Band. Er sucht Antworten auf die Frage nach Serbiens Weg: »Woher und wohin?« Die beiden Herausgeber, der Frankfurter Sozialwissenschaftler Jens Becker und der Berliner Publizist Achim Engelberg, stellen in ihrer Einführung offensichtlich fehlende Leitlinien der europäischen Politik in der Balkanregion fest. »Die oftmals viel zu monolithisch gesehene internationale Gemeinschaft siegte zwar im Krieg, blieb jedoch im Frieden konfus und konzeptionslos.« Angesichts der Zerschlagung Jugoslawiens (wie anderer osteuropäischer Staaten) stellt sich die Frage, ob die Desintegration Osteuropas nicht gewollt, eine Bedingung der Integration in die EU sei.

Becker und Engelberg verweisen auf das Nord-Süd-Gefälle Serbiens vom partiell katholischen Norden über das orthodoxe serbische Kernland bis zum teilweise muslimisch geprägten Süden und fragen: »Welche Position können neue, immer kleiner werdende Staaten einnehmen? Was heißt auf dem Westbalkan überhaupt selbständiger Staat, wenn die internationale Gemeinschaft Beschlüsse mit Gesetzeskraft für ihn treffen kann? Haben wir es hier nicht neben dem offiziellen Protektorat Kosovo mit abgestuften De-facto-Protektoraten zu tun?«

Zweifellos war das historisch und kulturell differenzierte und ethnisch durchmischte Jugoslawien, das nach den beiden Weltkriegen, 1919 als serbisch-zentralistische Monarchie bzw. 1943/46 als föderalistisch-sozialistische Republik, auf der Basis eines Nationalitätenkompromisses entstand, zunehmend inneren Belastungen ausgesetzt, die 1941 durch den deutsch-faschistischen Aggressionskrieg zur Zerstörung des Landes und 1991/92 unter dem dirigistischen Einfluss von EU-Staaten auf separatistische Kräfte in südslawischen Teilrepubliken zum Zerfall Jugoslawiens führten. In beiden Fällen spielte Deutschland (in Letzterem auch Österreich) eine Vorreiterrolle. Dabei verbanden sich traditionelle prokroatische und antiserbische Haltung, die im Schlachtruf von 1914 »Serbien muss sterbien« kulminierte und eine Konstante expansiver Balkanpolitik blieb.

Insofern greift die Einschätzung der Herausgeber wohl zu kurz, dass es »im Gefolge der langen Fremdbestimmung und der stark abweichenden Geschichte der einzelnen Regionen« auch im zweiten Jugoslawien misslang, »einen tragfähigen Staat zu bilden«. Für diese Sicht werden die zwischen Zentralismus und Föderalismus pendelnden Verfassungen von 1946, 1953, 1963 und 1974 bemüht. Unstreitig, aber eben nicht nur, spielten bei der Zerschlagung Jugoslawiens auch nationalistische innere Entwicklungen eine Rolle, die das umstrittene Belgrader Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften schon 1986 kritisch benannte: »Während in einer modernen zivilisierten Gesellschaft die integrativen Funktionen wachsen, erstarken in unserem politischen System die desintegrativen Kräfte, der lokale, regionale und nationale Egoismus und die autoritäre, willkürliche Macht, die in großem Ausmaß und auf allen Ebenen die allgemein anerkannten Menschenrechte verletzt.« (in: »Osteuropa in Tradition und Wandel. Leipziger Jahrbücher«, 2000))

Elf Beiträge behandeln, teils sehr konträr, einzelne Probleme der serbischen Entwicklung nach den südslawischen Sezessionskriegen der 90er Jahre, die Lehren vermitteln könnten auch für das Verhältnis von Nationen und die Rolle einer Zentralmacht in einer föderierten Europäischen Union. Der Hochmut des Westens, so die Herausgeber, hindere diesen indes daran. So gehe die Krise der EU »einher mit einer Pattsituation auf dem Balkan«. Wenn aber »die Neuordnung des Balkans misslingt, verliert Europa seinen Platz als Weltmacht«. Alle historischen Erfahrungen bezeugen, dass vorgebliche Sieger der Geschichte· wenig lernfähig sind, eher lernunwillig.

Holm Sundhaussen beschreibt die innere Krise Serbiens und analysiert nationalistische Kräfte linker und rechter Provenienz, die eine »Integration Serbiens in die europäischen Strukturen« durch Vorbehalte gegen manche EU-Vorgaben zu blockieren drohen. Norbert Mappes-Niediek konstatiert einen Wettlauf der zerfallenden Vielvölkerstaaten Osteuropas nach dem Westen, wobei alle, auch die EU, vor der Frage stehen, wie eigentlich eine Föderation verschiedener Ethnien aussehen müsste. Aleksa Djilas beleuchtet die serbischen Erfahrungen mit Europa und geht auf die kulturelle Bedeutung des Kosovo für sein Land ein. Auch bewertet er das ambivalente Verhalten des Westens gegenüber den Dissidenten, deren Zentralfigur sein Vater Milovan Djilas war.

Der Journalist Andrej Ivanji meint, Serbien sei auch unter Miloševic keine totalitäre Diktatur gewesen. Der Schriftsteller Dragan Velikic wiederum schreibt: »Ich glaube, dass das Phänomen der Selbstzensur die Entstehung und Aufrechterhaltung des Miloševic-Regimes viel nachhaltiger beeinflusst hat als irgendwelche repressiven Maßnahmen ... Ich erinnere mich nicht, dass irgendjemand (von den Literaten; E. K.) ins Gefängnis geworfen wurde, weil er gegen Miloševic geschrieben hätte. Mit ihrem Leben bezahlt haben widerspenstige Mitarbeiter aus den Führungsstrukturen, die sich nicht an den Mafia-Kodex gehalten haben.« Letztlich habe die Dämonisierung Serbiens in westlichen Medien das Miloševic-Regime eher gestärkt als geschwächt. Die Rechtsexperten Judith Knieper und Thomas Meyer verfolgen den Aufbau bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit in Serbien und geben eine weitgehend positive Prognose ab.

Ob die im Sommer 2006 vollzogene Lösung Montenegros aus der Föderation mit Serbien und die im Februar 2008 erklärte, von vielen EU- und NATO-Staaten sofort anerkannte Unabhängigkeit Kosovos von Serbien (wider UNO-Resolution) zur Beseitigung von Hemmnissen im Verhältnis Serbien und Europäische Union beiträgt, darf bezweifelt werden. Nach Jens Reuter sind die Bedingungen für den EU-Beitritt Serbiens denkbar schlecht. Der im Oktober 2000 eingeleitete Systemwechsel sei auf halbem Wege stecken geblieben. »Die Ursachen für die Stagnation der Reformen liegen auf der Hand: Serbien war zehn Jahre isoliert und büßte zwei Drittel seines Bruttoinlandsprodukts ein.«

Der Philosoph und Aktivist der jugoslawischen Friedensbewegung Boris Buden verweist auf etwas, was in aller Regel ausgeblendet bleibe, nämlich »dass der postkommunistische Übergangsprozess gleichzeitig von einer seit den imperialistischen Zeiten nicht dagewesenen Expansion des westlichen Kapitals begleitet wird«. Das Leiden der Bevölkerung werde dem untergegangenen Kommunismus als zwangsläufige Folge zugewiesen, also »dem Mythos der Vergangenheit, nicht dem logos des aktuellen Kapitalismus«. Buden ist auch der Ansicht, dass die Vereinigung Europas durch den Anschluss der osteuropäischen Länder an den Westen scheitern müsse.

Es ist ein materialreicher, verdienstvoller, weil auf renommierte Autoren sich stützender Studienband. Als Mangel fällt indes die Beschränkung auf Serbien ins Auge. Dadurch entsteht ein letztlich einseitiges Bild über den krisenhaften, konfliktreichen gesellschaftlichen Transformationsprozess zum Kapitalismus in der südosteuropäischen Region, wie auch über nationale und internationale Triebkräfte und Hintermänner. Dabei geht der rechte Maßstab für die Beurteilung aller an den Balkankriegen wie an den Nachkriegskonzepten beteiligten Akteure verloren -- darunter die expansiven Ambitionen tonangebender EU-Staaten und schließlich die globalen Konzeptionen des USA-Imperialismus, der Militärbasen in Bondsteel, bei Burgas und Constanta errichtet hat.

Es zieht sich eine Linie von der einseitigen Anerkennung der sich von Jugoslawien abspaltenden Länder 1991/92 über das Abkommen von Dayton 1995 zum diktierten Statut über Bosnien-Herzegowina, vom antiserbischen Diktat von Rambouillet nach dem militärischen Kosovokonflikt 1999 über das Schalten und Walten der Hohen Kommissare und Vertreter in Bosnien-Herzegowina bzw. der UNMIK-Verwalter oder Repräsentanten im Kosovo bis hin zur Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.

Parenthese zum serbischen Nationalismus: Gab und gibt es den kroatischen Nationalismus nicht, beginnend mit Franjo Tudjmans Krieg in der Krajina, jenem vormals Habsburger Landstrich der serbischen Militärgrenze gegen die Türken von der Adria bis zum Karpatenbogen, aus dem die Serben mit den militärischen Operationen »Blitz« und »Sturm« 1995 gewaltsam vertrieben wurden? Oder Alija Izetbegovics islamistische Politik in Bosnien-Herzegowina, mittels derer zunächst versucht wurde, im Verbunde mit arabischen Gotteskriegern und kroatischen Katholiken die Serben zu verdrängen, worauf sodann das unsägliche serbische Massaker von Srebrenica folgte? Oder die mittels der im November 2000 eingeführten D-Mark gestützte separatistische Politik des Milo Djukanovic in Montenegro? Und waren die in Südosteuropa -- außer mit Serbien -- geschlossenen »Assoziierungsabkommen« keine EU-Diktate, welche die nicht verhandelbaren späteren Beitrittsbedingungen fixierten? Die EU-Integration der Staaten Südosteuropas setzt also Desintegration gemäß dem imperialistischen Prinzip des »Teile und herrsche« voraus.

Jens Becker/Achim Engelberg (Hg.): Serbien nach den Kriegen. Edition Suhrkamp. Frankfurt am Main 2008. 350 S., br.,13 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 7. August 2008


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