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"Kosovo ist nicht zu verkaufen"

Das Volk geteilt, die Gesellschaft gespalten – Serbien bietet nach der Sezession seiner Südprovinz ein Bild der Uneinigkeit

Von Hannes Hofbauer, Belgrad *

Serbien ist politisch zerrissen. Vor allem in der Kosovofrage und dem Kurs gegenüber der EU. Vorige Woche löste Präsident Boris Tadic das Parlament auf und setzte vorgezogene Parlamentswahlen für den 11. Mai an. Dies hatte die Regierung von Premier Vojislav Kostunica beantragt.

Die Blechwände rund um eine der vielen Belgrader Baustellen bieten ausreichend Platz für die bunten Plakate, mit denen eine Gruppe Jugendlicher nächtens durch das Viertel oberhalb des Bahnhofs streift. »Kosovo ist nicht zu verkaufen« prangt in großen weißen Lettern vor der slawischen Trikolore, deren Wappen diese als serbische ausweist. Langsam wird ein Plakat neben das andere geklebt, bis die Wand durchgehend rot-blau-weiß erscheint. Bedenkenlos lassen sich die jungen Leute bei ihrer Freizeitbeschäftigung fotografieren.

Als der Autor auf einen eben in die Straße biegenden Polizeiwagen aufmerksam macht, beruhigt der Student mit dem Pinsel: Die Polizisten stellen kein Problem dar. Immerhin ist es die Jugendorganisation der regierenden Serbischen Demokratischen Partei (DSS), die auf diese Art und Weise Agitation betreibt.

Wache Erinnerung an 78 Bombentage

Die Botschaft der DSS ist eine innenpolitische. Nicht die »internationale Gemeinschaft« aus USA und der jeweils willigen Koalition soll damit angesprochen werden, auch nicht UNO oder OSZE, deren Politik in Bezug auf die kosovarische Staatsbildung ihren eigenen Prinzipien widerspricht; angesprochen sollen diejenigen Kräfte innerhalb Serbiens werden, die sich bislang passiv und schweigend mit der hier als illegal betrachteten Sezession Kosovos abfinden.

Boris Tadic und seine Demokratische Partei (DS) haben zwar im Präsidentschaftswahlkampf Anfang 2008 und vor der Erklärung der Unabhängigkeit durch Pristina – wie ihre politischen Kontrahenten – serbisch-patriotische Töne geäußert, sich gegenüber Brüssel und Washington jedoch gleichzeitig pflegeleicht gegeben. National für die Heimat, liberal für den Weltmarkt. Diese im Kern bürgerliche Mischung findet sich zunehmend bei osteuropäischen Eliten (sie ist auch im Westen nicht unbekannt). Im serbischen Kontext eines zerfallenden Staates, dessen ehemalige sozialistische Wurzeln weder national noch liberal fundiert waren, stoßen derlei Allianzen auf Widerspruch. Dies umso mehr, als die Erinnerung an 78 Bombentage, in denen NATO-Militär Industrie und Infrastruktur in Schutt und Asche gelegt hat, noch wach ist.

Serbien ist auf vielfache Art geteilt. Am drastischsten wahrgenommen wird die gespaltene Staatlichkeit. Nach der Vertreibung des überwiegenden Teils der serbischen Bevölkerung aus Slawonien und der Krajina, die zur Herstellung eines ethnisch – fast – reinen Kroatien geführt hat, erstrecken sich die Siedlungsgebiete der Serben Anfang 2008 auf fünf Staaten des Balkans: die Serbische Republik in Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kroatien, Kosovo und Serbien. Dieser Umstand belegt ein nationales Trauma, das die überwiegende Mehrzahl der Serben – ob »zu Hause« oder in der Diaspora – beklagt.

Zur staatlichen Teilung der Serben kommen die geopolitische, die kulturelle und die sozio-ökonomische Zerrissenheit. Der historische Gemeinplatz, wonach Land und Leute sich seit Jahrhunderten am Kreuzweg großer Reiche befinden, an sich überlappenden Zonen unterschiedlicher Einflussbereiche leben, bleibt gültig. So verwundert es nicht, dass die Neuordnung Europas nach 1989/91 im Zuge der Zerstörung Jugoslawiens Serbien und die Serben mit zwei Orientierungen zurückgelassen hat: Ost und West. Der Versuch von Slobodan Milosevic, mitten im Krieg der NATO gegen den Rest Jugoslawiens eine Allianz mit Russland und Belarus zu schmieden, mag aus heutiger Sicht skurril erscheinen, unter dem Bombenhagel jedoch Sinn gehabt haben; er scheiterte jedenfalls nicht nur an der fehlenden territorialen Verbindung, sondern auch am politischen Willen des westgesteuerten russischen Präsidenten Boris Jelzin.

Die derzeitige politische Landschaft Serbiens ist von Zweipoligkeit geprägt. In jeder der großen Parteien sitzen Vertreter beider Seiten, und so gut wie alle verantwortlichen Kräfte sprechen sich für eine Balance in den Beziehungen zu Russland und EU-Europa aus. Übergangen oder verschwiegen wird dabei oftmals die Tatsache, dass Brüssel geopolitisch ein Verbindungsglied zu den USA darstellt. Und uneinig ist man, wie viel Gewicht auf jede Seite der Waage gelegt werden soll.

Die Uneinigkeit steigt mit der respektlosen Politik der meisten westlichen Länder zur Anerkennung Kosovos als unabhängigen Staat. Präsident Tadic bleibt dennoch auf Integrationskurs West: »Wir sind uns völlig im Klaren darüber, dass unsere Zukunft in der Europäischen Union liegt, trotz der Vergangenheit«, spielt die Sprecherin seiner Demokratischen Partei, Jelena Markovic, auf die frühere Feindschaft an. »Wir müssen die Vergangenheit überwinden«, fordert sie und betont ein zweites Mal Partei- und persönliches Ziel: die EU-Integration.

Anders sieht dies der Vizepräsident der Radikalen Partei (SRS), Tomislav Nikolic. Er stellt eine Verbindung zwischen westlicher Politik und serbischer EU-Orientierung her. »Für Tadic existiert keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft. Wir von den Radikalen hingegen wollen Serbien nach allen Seiten hin öffnen, nach Westen und nach Osten«, so seine Position.

Vorsichtig bis widersprüchlich gibt sich der junge Abgeordnete der Demokratischen Partei Serbiens (DSS), Kostunica-Mann Borko Ilic: »Wir brauchen Rechtsstaatlichkeit und stabile Institutionen, beides können wir von der EU bekommen. Die Anerkennung Kosovos durch europäische Staaten wird allerdings zu allgemeiner Instabilität führen.« Für den Spitzenmann der Sozialistischen Partei (SPS), Branko Ruzic, ist es vor allem die geänderte Rolle Russlands, die eine einseitige Ausrichtung Serbiens auf NATO und EU nicht mehr alternativlos macht. »Das multipolare Interesse Russlands ist mit unserem nationalen Interesse kompatibel«, gibt er zu Protokoll. »Wir müssen den USA klar machen, dass sie nicht mehr die einzigen Weltpolizisten sind.«

Skeptischer sieht das der frühere Privatisierungsminister und Wirtschaftsprofessor Oskar Kovac. Ein geopolitisch erstarktes Russland stellt er zwar nicht in Abrede, meint jedoch, dass es – wirtschaftlich gesehen – zu spät sei, um Serbiens Beziehungen zu diversifizieren. »Die ganze Industrie ist in den vergangenen Jahren an EU-Firmen verkauft worden, russische Investoren sind systematisch nicht zum Zug gekommen« , klagt er die Post-Milosevic-Regierungen an.

Eine Wirtschaft mit wenigen Gewinnern

Tatsächlich haben in den wesentlichen Branchen westeuropäische und US-amerikanische Unternehmen die Kernstücke der serbischen Wirtschaft übernommen, zuletzt sprach Belgrad dem umstrittenen österreichischen Aufkäufer Mirko Kovats für billiges Geld die Kupfermine in Bor zu.

Die dem wirtschaftlichen Zusammenbruch geschuldete soziale Krise zieht eine mindestens ebenso tiefe Kluft durch die serbische Gesellschaft wie die Frage der geopolitischen Orientierung. »Wenige Gewinner beherrschen die Medien und das Wirtschaftsleben, während die Mehrheit der Bevölkerung in den vergangenen Jahren soziale Sicherheit verloren hat und ohne politische Macht dasteht«, unterstreicht Professor Kovac.

Eine »völlig zerstörte sozioökonomische Situation« ortet der Chef des Parteivorstandes der SPS, Branko Ruzic. Etwas abgeschwächt in der Wortwahl stimmt ihm DSS-Abgeordneter Borko Ilic zu, wenn er die »wirtschaftliche Spaltung« im Land und die hohe Arbeitslosenquote, die bei über 20 Prozent liegt, ins Treffen führt.

Nach der Belgrader Massenkundgebung gegen die Abspaltung Kosovos am 21. Februar zogen zornige Serbinnen und Serben zu Tausenden vor die Symbole ausländischer Mächte; es wurden Geschäfte geplündert sowie Banken und McDonald's-Filialen zerstört. Die soziale und politische Sprengkraft haben auch die westlichen Medien erkannt und radikal diffamiert. »Randalierer« und »Habenichtse« waren die wiederkehrenden Begriffe, mit denen die an den Ausschreitungen Beteiligten bedacht wurden. Damit sollte eine Wahrnehmung verhindert werden, dass es sich um eine Mischung aus politischem Protest und sozialer Verzweiflung handelte.

Von Hannes Hofbauer ist zuletzt erschienen: EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen. Promedia Wien 2007.

* Aus: Neues Deutschland, 18. März 2008


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