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In letzter Minute

In Serbien gibt es eine neue Regierung – kurz bevor der UN-Sicherheitsrat endgültig über die Abspaltung des Kosovo entscheidet

Von Jürgen Elsässer *

Die EU hat bereits zur Bildung einer neuen »reform- und europaorientierten Regierung« in Serbien gratuliert – so die Worte von Erweiterungskommissar Olli Rehn. Aber tatsächlich könnten die Glückwünsche aus Brüssel ebenso verfrüht sein wie die Unkenrufe, mit denen die Belgrader Opposition den Deal begleitete. Denn es ist weder klar, welche der beiden Großparteien durch ein Einlenken in letzter Minute die Übereinkunft möglich gemacht, noch ob Konzessionen an den Westen gemacht wurden.

Kostunica bleibt Premier

An harten Fakten gibt es nur wenig. In der Nacht zum Freitag haben sich nach einer Marathonsitzung die prowestliche Demokratische Partei (DS), die moderat nationalorientierte Demokratische Partei Serbiens (DSS) und die neoliberale G17-Plus auf die Bildung einer Koalition geeinigt. Diese verfügt über 130 der 250 Sitze in der Skupstina. Ohne diese Einigung wäre das Parlament am heutigen Montag (14. Mai), so schreibt es die Verfassung vor, aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben worden.

Die Dreier-Kombination war von Anfang an die Wunschlösung der ­NATO-Mächte gewesen. DS und DSS hatten den Kern des Bündnisses gebildet, das sich im Sommer des Jahres 2000 als DOS konstituiert und mit starker finanzieller Unterstützung aus dem Westen im Oktober desselben Jahres die Linksregierung unter Präsident Slobodan Milosevic gestürzt hatte. Doch in der Folge hatten sich zuerst DS-orientierte Wirtschaftsfachleute als G17-Plus selbständig gemacht, und schließlich war es nach der Auslieferung Milosevics an Den Haag im Juni 2001 zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den Großparteien gekommen: Vojislav Kostunica, Spitzenmann der DSS und damals noch jugoslawischer Präsident, machte Zoran Djindjic, den charismatischen Führer der DS und damals Premier Serbiens, für diesen Verfassungsbruch persönlich verantwortlich. Auch die Trauer über die Ermordung Djindjics im März 2003 konnte das Schisma zwischen DS und DSS nicht mehr heilen. Nachdem die DS bei den Parlamentswahlen Ende 2003 auf elf Prozent abgestürzt war, wurde Kostunica serbischer Premier und formte eine Koalition ohne die DS – aber mit freundlicher Tolerierung durch die Sozialisten.

Beim nächsten und bis dato letzten Urnengang Mitte Januar 2007 hatte die DS ihr Wahlergebnis auf über 22 Prozent jedoch fast verdoppelt, während Kostunicas DSS leicht und G17-Plus stark verlor. Ein neuerliches Zusammengehen der einstigen DOS-Alliierten lag deswegen zumindest arithmetisch nahe. Es hätte nur vermieden werden können, wenn sich die DSS mit der stärksten Partei verbündet hätte, den Radikalen (SRS). Diese hatten über 28 Prozent der Stimmen erzielt.

West- oder Ostorientierung

Tatsächlich sah es in der vergangenen Woche kurzfristig ganz danach aus. Nach monatelangem Hin-und Her – die alte Regierung Kostunica war kommissarisch immer noch im Amt – wurde am Dienstag (8. Mai) wenigstens ein neuer Parlamentspräsident gewählt, und zwar Radikalen-Chef Tomislav Nikolic. Er erhielt auch die Stimmen der DSS. Die westlichen Medien begannen sofort gegen den »Ultranationalismus« zu hetzen, EU-Kommissar Rehn warnte davor, daß Serbien »innerhalb von zwei Tagen in die Zeit vor zwei Jahrzehnten zurückfällt«. Tatsächlich war die SRS in den neunziger Jahren ein häufiger Koalitionspartner der Sozialisten gewesen und hat Milosevic hauptsächlich wegen zu großer Nachgiebigkeit gegenüber dem Westen kritisiert. Aktuell tritt Nikolic für ein enges Bündnis mit Rußland und gegen eine weitere Annäherung an Brüssel und Washington ein. Er hofft darauf, daß Putin all jene Staaten zusammenbringt, »die gegen die amerikanische Hegemonie und die EU sind«.[1]

Auf die Aussicht eines Bündnisses der DSS mit der SRS reagierte das ausländische Kapital alarmiert. Am Mittwoch letzter Woche stürzte die Belgrader Börse um über 10,5 Prozent ab, etwa 1,6 Milliarden Euro Aktienwerte wurden abgezogen oder vernichtet.[2] War es diese Drohung westlicher Investoren, die Kostunica zur erneuten Wende weg von den Radikalen und zurück zur DS motivierte? Oder war es umgekehrt sein Flirt mit Nikolic vom Vortag gewesen, der der DS ebenso wie ihren Sponsoren im Westen den Schrecken in die Glieder jagte und sie zur Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der DSS brachte?

Wer sich im Koalitionsabkommen vom vergangenen Freitag durchgesetzt hat, ist schwer zu sagen. Kostunica kann sich als Sieger fühlen, weil er Premier bleiben wird, obwohl seine DSS bei den Wahlen weitaus schlechter als die DS abschnitt. Diese kann aber ebenfalls triumphieren, weil ihr Frontmann Boris Tadic, gleichzeitig serbischer Präsident, dem nationalen Sicherheitsrat vorstehen und damit auch die Armee kontrollieren wird. Dies könnte in den kommenden Wochen, wenn die Entscheidung über den Status des Kosovo Unruhen mit sich bringen dürfte, von entscheidender Bedeutung sein. Tadic und die DS sind zwar ebenso wie die DSS und fast alle anderen Parteien gegen die Abtrennung der Provinz, wollen es aber bei papierenen Protesten belassen. Kostunica und die DSS sicherten sich aber im Koalitionsvertrag das Kommando über die Polizei und ihre Spezialtruppen. Diese könnten im worst case zum Schutz serbischer Siedlungen in das Kosovo geschickt werden.

Fußnoten
  1. Z.n. Michael Martens, Ohne Distanz, FAZ 11.05.2007
  2. Vgl. Ivana Sekulrac, Investors in Serbia waiting out crisis, Reuters, 11.05.2007
* Aus: junge Welt, 14. Mai 2007

Hauptsache Westorientierung! Die SPD ist zufrieden

Zur Regierungsbildung und zum Ruecktritt von Tomislav Nikolic vom Amte des Parlamentspraesidenten erklärte am 14. Mai die stellvertretende außenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Uta Zapf, in einer Pressemeldung:

Wir begruessen die ermutigende Entwicklung in Serbien. Die Tatsache, dass sich die demokratisch orientierten Parteien DS unter Praesident Boris Tadic und DSS unter Ministerpraesident Vojislav Kostunica zusammen mit G17 Plus zu einer Regierungsbildung entschlossen haben, laesst hoffen, dass die Stagnation des Reformprozesses in Serbien ueberwunden werden kann. Mit Erleichterung nimmt die westliche Welt und die Europaeische Union den Ruecktritt des Ultranationalisten Tomislav Nikolic vom Amte des Parlamentspraesidenten auf. Ein Rueckfall in den extremen Nationalismus ist damit gebannt. Eine zukuenftige Regierung Kostunica ist jetzt aufgefordert, ihre Bereitschaft zur Kooperation mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag deutlich zu beweisen.
Kostunica hat offensichtlich in letzter Sekunde begriffen, dass die Rueckkehr in die Vergangenheit fuer Serbien in die Sackgasse fuehrt.
Der Weg nach Europa kann jetzt wieder geoeffnet werden, wenn eine demokratische Regierung gewaehlt wird. Erweiterungskommissar Olli Rehn gibt mit seiner angekuendigten Reise nach Belgrad ein positives Signal an alle demokratischen Kraefte, dass die Verhandlungen ueber das auf Eis gelegte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen wieder aufgenommen werden koennen.





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