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Serbien: Die Qual nach der Wahl

Serbien hat bei den vorgezogenen Wahlen erneut ein "hängendes Parlament" gewählt

Von Andrej Fedjaschin *

Kein schöner Ausdruck, doch was kann der Beobachter sagen, wenn keine einzige Partei seit dem Ende des Milosevic-Regimes und der Errichtung einer Mehrparteiendemokratie mehr als ein Jahr lang an der Macht bleiben konnte. Seit 2000 wurden sieben Parlamente in Serbien von großen und kleinen Krisen weggefegt, und das jetzige wird das achte sein.

Von den parlamentarischen Geburtsschmerzen muss das Land jetzt zu Geburtsqualen mit der Regierung wechseln. Und das wird noch schmerzhafter. Es war bereits vor den Wahlen klar, dass keine Partei in der Skupstina die nötige Mehrheit erreichen wird, um eine stabile Regierungsarbeit leisten zu können. Doch am Abend des Abstimmungstags, dessen Ergebnis spätestens am 15. Mai verkündet werden soll, ist es bereits klarer geworden.

Von einer Nation, die seit mehr als einem Jahrzehnt bei ihrer Selbstfindung gehindert wird, in "Pro-Westler" und "Anti-Westler" gespalten ist und deren Spaltung vom "Kosovo-Syndrom" noch weiter vertieft wird, war auch kaum Anderes zu erwarten. Wenn Serbien zu hinken anfängt, wird es lange dauern, denn diese Krankheit wird auf dem Balkan üblicherweise künstlich erhalten.

In Serbien waren alle Parteien "etwas schwanger" mit einem Sieg. Nach den vorläufigen Ergebnissen der Abstimmung hat niemand einen überzeugenden Sieg davongetragen. Einen Beinahe-Sieg hat die Präsidentenkoalition "Für ein europäisches Serbien - Boris Tadic" errungen, die mit 38,7 Prozent der Stimmen 102 Plätze in der Skupstina haben wird. Auf einen "nahen Sieg" kann sich die Serbische Radikale Partei von Tomislav Nikolic freuen, die 29,2 Prozent hat und maximal 77 Abgeordnete stellt. Der "Volksblock" des ehemaligen Premierministers Vojislav Kostunica, der aus der Demokratischen Partei und der Partei "Neues Serbien" mit Velimir Ilic an der Spitze besteht, hat 11,3 Prozent der Stimmen eingesteckt und kann mit 30 Mandaten rechnen. Die Sozialistische Partei, die einst von Milosevic angeführt wurde, und ihr Führer Ivica Dadic haben 7,6 Prozent und etwa 20 Parlamentssitze bekommen. Die Liberal-Demokratische Partei, übrigens die einzige, die mit der Abspaltung des Kosovo einverstanden ist, kann mit 14 Plätzen rechnen. Weitere sieben Prozent gehen an die Parteien der ethnischen Minderheiten.

Tadic hat sich bereits zum Sieger erklärt und verkündet, mit den Verhandlungen über die Bildung der Regierungskoalition zu beginnen. Doch allem Anschein sagte das Tadic in einem Taumel der Euphorie: Ihm fehlt es katastrophal an Verbündeten. Gegenwärtig kann er nur auf eine Koalition mit der stark proeuropäischen Liberal-Demokratischen Partei hoffen. Das bedeutet, dass er im 250-sitzigen Parlament keine Mehrheit bekommt.

Radikalenführer Nikolic sagte seinerseits bereits, dass er die Regierung selber bilden werde und dass er genug Partner dafür habe. Gemeinsam mit Kostunicas Demokraten und Ilics Sozialisten kann er mit einer bequemen Mehrheit von mindestens 127 Plätzen rechnen.

Fast alle europäischen Staatschefs haben Tadic zu seinem Sieg gratuliert. Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Brüssel hat sich in Serbien so stark wie niemals zuvor in einen Wahlkampf in Europa eingemischt. Die EU zog zwar dem Wort "Einmischung" einen bescheideneren Terminus vor, und zwar "Stimulation". Doch das war eine sehr aktive "Stimulation" zur Unterstützung des amtierenden Präsidenten.

Weniger als zwei Wochen vor den Wahlen hatte Brüssel mit Serbien ein Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen unterzeichnet, was als erster Schritt für den Beginn von Verhandlungen über den Beitritt zur EU gilt. Den Serben wurde gleichzeitig versprochen, das Visaverfahren drastisch zu vereinfachen. Der gegenwärtige EU-Verkehrskommissar Jacques Barrot erklärte eine Woche vor den Wahlen, dass Serbiens Isolation endlich vorbei sei. Dabei erinnerte sich niemand daran, dass das Abkommen eine scharfe Bedingung stellt: Serbien kann nur die Fahrkarte in die EU lösen, nachdem die serbische Regierung sich dem Kriegsgericht in Den Haag völlig gefügt und die restlichen Kriegsverbrecher übergeben hat. Vor allem aber wird die Ergreifung und Übergabe des flüchtigen bosnischen Serbengenerals Ratko Mladic verlangt. Doch für viele Serben ist er nach wie vor Legende.

Als Europa auf Tadic setzte, unterstützte es ihn so eifrig, dass es andere EU-Kandidaten auf dem Balkan vernachlässigte. Mazedonien, das die Gesetze, die Innenpolitik, den Handel, die Finanzen und andere Angelegenheiten an das europäische Niveau angepasst hat, war sehr erstaunt und erklärte direkt, dass es nicht nachvollziehen könne, warum Serbien, das nicht ein Zehntel der Anforderungen erfüllt hat, das Ticket für den "Express Europa" erhält.

Im Prinzip ist das Ganze natürlich im ethischen Sinne etwas zweifelhaft, doch an einer so offensichtlichen Einmischung in die serbischen Wahlen seitens der EU gibt es nichts Unverständliches. Wenn Brüssel Serbien aufnehmen will, ist es ihm nicht egal, wen es ins Haus lässt. Doch das Einbringen von antirussischen Motiven in die serbischen Wahlen war unschön.

Sowohl Tadic als auch Europa führten die Wahlen nicht als rein serbisches politisches Ereignis vor, sondern als symbolische Wahl der Serben zwischen der EU und Russland. Serbien sollte entscheiden, ob es in die EU hinein will oder sich weiter an Russland anlehnen und damit in die Vergangenheit zurückfallen wird. Doch in der ersten Frage hatten die Serben überhaupt keine Schwierigkeiten, eine Wahl zu treffen. Die überwältigende Mehrheit der Serben ist für einen EU-Beitritt, da sie gut verstehen, dass, trotz des serbischen Spruches "im Himmel Gott und auf der Erde Russland" letzteres ihnen nicht das gleiche bieten kann als Europa. Alle Parteien in Serbien setzen sich für einen EU-Beitritt ein. Russland hat übrigens gar nichts dagegen.

Doch bislang steht nicht einmal fest, dass kein anderer als Tadic die neue Regierung bilden wird. Das Gesetz gibt dafür 90 Tage nach der ersten konstituierenden Versammlung der Skupstina. Diese muss spätestens am 15. Juni stattfinden. Da auf dem Balkan nichts außer Konflikten leicht oder schnell geschieht, können die Serben bis zum September auf ihre Regierung warten.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 13. Mai 2008



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