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Balkan befürchtet neue Flut

Schnelles Aufräumen soll vor Epidemien schützen / Wichtiges Kraftwerk bedroht *

Die Gefahr in den Hochwassergebieten auf dem Balkan ist nicht gebannt. In Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien mussten erneut Tausende ihre Häuser verlassen. In Serbien wird eine neue Flutwelle erwartet, auch die Donau könnte über die Ufer treten. Dämme wurden mit Sandsäcken befestigt. Ausgelöst wurden die Überschwemmungen von heftigem Regen: In den drei Balkan-Ländern regnete es in drei Tagen so viel wie sonst im gesamten Monat Mai.

Rund um die serbische Hauptstadt Belgrad erhöhten freiwillige Helfer die Dämme bereits über eine Länge von zwölf Kilometern. Die Befestigungen hielten über Nacht, doch wurden neue Höchststände der Save erwartet. Bedroht waren neben Belgrad vor allem die serbischen Städte Sabac und Sremska Mitrovica sowie Orasje im Nachbarland Bosnien. Hunderte Erdrutsche verursachten zusätzliche Zerstörungen.

Gleichzeitig begannen das große Aufräumen und die Desinfizierung. Nach Angaben der Behörden droht eine »Epidemie-Katastrophe«. Gegen sie stehe ein »harter Kampf« bevor, erklärte der bosnische Regierungschef Nermin Niksic. Experten warnen, dass die bei den Fluten umgekommenen Tiere wegen der steigenden Temperaturen schneller verwesen als normal. Bosnien bat die internationale Gemeinschaft um die Lieferung mobiler Einäscherungseinheiten. »Um Seuchen zu verhindern, werden wir Tonnen von Tierkadavern entsorgen müssen«, warnte auch Serbiens Regierungschef Aleksandar Vucic. Dieben und Plünderern drohte er eine »harte Reaktion« an.

Das Kraftwerk Nikola Tesla nahe der überschwemmten Stadt Obrenovac konnte bislang geschützt werden. Aus dem Wärmekraftwerk kommt die Hälfte des in Serbien produzierten Stroms.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. Mai 2014


Die Regierungen haben versagt

In Bosnien-Herzegowina und Serbien wird vor allem die Untätigkeit der Politiker kritisiert

Von Jerko Bakotin **


Sechs Tage dauerte es, ehe sich Bosniens Regierung erstmals dem Thema Hochwasser zuwandte. Die Bevölkerung ist empört.

Schon eine Woche kämpfen Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien gegen das Hochwasser an, das den heftigsten Regenfällen der vergangenen 120 Jahre gefolgt ist. Allein in Bosnien-Herzegowina, so teilte Ministerpräsident Vjekoslav Bevanda mit, seien mehr als 20 Menschen ums Leben gekommen und fast eine Million evakuiert worden. Beide Teile des Landes haben gestern einen Tag der Trauer zelebriert.

Belgrad verhängte gleich drei Tage Staatstrauer wegen der 21 Hochwasseropfer in Serbien. Die meisten Menschen waren in der Stadt Obrenovac ertrunken. Mehr als 30 000 Bewohner mussten von dort evakuiert werden. Im Nachbarstaat Kroatien waren etwa 15 000 Menschen auf der Flucht vor dem Wasser. Insgesamt umfasst die überflutete Fläche in den drei Balkanländer fast 23 000 Quadratkilometer, ein Gebiet ungefähr so groß wie Mecklenburg-Vorpommern.

Die materiellen Schäden sind riesig: Der bosnische Außenminister Zlatko Lagumdžija sprach von mehr als 100 000 zerstörten oder schwerbeschädigten Häusern, Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vučić sprach sogar von »biblischen Maßstäben« der Flut. Ganze Städte liegen noch unter Wasser.

Besonders in Bosnien-Herzegowina und Serbien sind viele Menschen der Meinung, dass die großen Schäden die Unfähigkeit der jeweiligen Regierung beweisen. Einer der Unzufriedenen ist Aleksandar Trifunović, Chefredakteur des Internetportals Buka (Lärm) aus Banja Luka. Buka zählt zu den wenigen unabhängigen Medien im serbischen Teil Bosniens. Trifunović, der in den vergangenen Tagen selbst Hilfsgüter organisiert und transportiert hat, sagt, das Hochwasser zeige zum x-ten Mal die Unfähigkeit des ethnisch geteilten bosnischen Staates mit seinen insgesamt 14 Regierungen.

»Die Natur sorgt sich nicht um die Grenzen zwischen den bosnischen Entitäten. Wenn es eine gemeinsame Organisation für die Becken der Flüsse Save und Bosna gäbe, wären die Schaden erheblich geringer.« Am schlimmsten findet er, dass aus vorhergehenden Fluten nichts gelernt wurde: »Es gibt nicht genug Schutzdämme, unser Zivilschutz hat keine Ausrüstung«, klagt er gegenüber »nd«. Die Katastrophe habe sechs Tage angedauert, ehe die Regierung ihre erste Sitzung zum Thema abhielt, dort schoben sich Politiker gegenseitig die Verantwortung zu. Die Gefahr, dass Seuchen ausbrechen, steigt stündlich, die Wasserversorgung ist weiterhin instabil.

Am meisten haben die Bürger selbst geleistet, als es darum ging, die Folgen der Flut einzudämmen. Medien der ehemaligen jugoslawischen Staaten sind dieser Tage einhellig in ihrem Lob: Seitenweise gibt es Berichte über die lange nicht mehr erlebte Solidarität der Völker. Kroatien, das auch selbst betroffen ist, hat Rettungsteams und Hubschrauber nach Bosnien-Herzegowina geschickt. Sogar Kosovo, die abgespaltene ehemalige Provinz Serbiens, hat Belgrad Hilfe angeboten.

In Serbien wird das Vorgehen der Regierung ebenfalls kritisch gesehen. Einige Journalisten erinnern daran, dass zuständige Beamte schon vor Jahren die Regierung kritisiert hatten, weil die Finanzmittel für den Hochwasserschutz deutlich verringert worden waren. Schutzdämme sollen teilweise seit 20 Jahren nicht mehr erneuert worden sein. Das zur Verfügung gestellte Geld reichte nicht einmal für eine grundlegende Instandhaltung, vom Bau neuer Dämme ganz zu schweigen. In Belgrad geriet vor allem Bürgermeister Siniša Mali in die Kritik, weil er angeblich die Bürger der komplett überfluteten Stadt Obrenovac aufgerufen hatte, in ihren Häusern zu bleiben. Gleichzeitig wird dem Ministerpräsidenten Vučić vorgeworfen, er versuche, alle Verantwortung auf Lokalpolitiker abzuschieben – und zwar auf all jene, die nicht zu seiner Partei SNS gehören.

Der Schaden geht in die Milliarden, die drei Staaten haben bei internationalen Organisationen um Finanzhilfe gebeten. Vor allem für das chronisch klamme Bosnien-Herzegowina wird es schwer. Das Land, in dem es nicht einmal der Hälfte der Bevölkerung gelingt, mit ihrem Einkommen die Armutsgrenze zu überschreiten, kann sich nicht um EU-Hilfe bewerben, weil es weder Mitglied noch Kandidat ist. Immerhin hat die kroatische Außenministerin Vesna Pusić die Möglichkeit einer gemeinsamen Bewerbung erwähnt.

Mittlerweile wird die Flut auch propagandistisch genutzt: Irinej, Patriarch der serbisch-orthodoxen Kirche, hat die Katastrophe als eine göttliche Warnung bezeichnet – wegen der in Belgrad geplanten Schwulenparade »Gay Pride«. Der dem Patriarch untergeordnete montenegrinische Oberbischof Amfilohije nennt eine andere Schuldige: Conchita Wurst.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. Mai 2014


Selbst die Kriegsgegner von früher kommen zu Hilfe

In der Belgrader Arena sind 3000 Evakuierte aus Obrenovac untergebracht / Ungezählte freiwillige Helfer melden sich

Von Thomas Roser, Belgrad ***


Neben Heerscharen professioneller Rettungskräfte sind Zehntausende freiwilliger Helfer in den Hochwasserregionen auf dem Balkan im Einsatz.

Die guten Gaben belegen die 20 000 Sitzplätze im Rund der Belgrader Arena bis auf den letzten Platz. Ungezählte Helfer sortieren die in Serbiens größter Sporthalle angelieferten Säcke und Kartons mit gespendeter Kleidung, Konserven, Hygieneartikeln und Babynahrung nach Größen und Funktion. »Die Leute wollen einfach helfen«, berichtet Jasmina Latinovic, im normalen Berufsleben Assistentin des Hallenmanagements und nun eine der Koordinatoren des Auffangzentrum für die Hochwasseropfer. Über Twitter und Facebook lasse der Einsatzstab wissen, wo welche Hilfsgüter oder helfende Hände benötigt werden. »Und die Leute kommen und kommen – zu Tausenden.«

Meist stumm und übernächtigt stehen die aus der überfluteten Provinzstadt Obrenovac evakuierten Hochwasseropfer vor der Essensausgabe nach ihrem Morgenkaffee an. Die meisten der 3000 in der Arena untergebrachten Evakuierten seien Frauen mit Kindern oder Ältere, sagt Latinovic. »Viele stehen unter Schock.« Für die in Schichten rund um die Uhr eingeteilten Freiwilligen sei es wichtig, sich vom Leid der Geschädigten »nicht überwältigen« zu lassen. »Wir bitten die Leute, ihren Enthusiasmus zu dosieren – und einzuteilen. Denn selbst wenn die Überschwemmung endet, wird noch lange Hilfe benötigt.«

Nicht nur Heerscharen professioneller Rettungskräfte und Soldaten stemmen sich schon seit Tagen in den Hochwasserregionen von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien gegen die Jahrhundertflut. Zehntausende freiwillige Helfer schaufeln zur Stärkung aufgeweichter Fluss- und Straßendämme Sand in die Säcke. Das Foto eines Greises in abgetretenen Sandalen, der weinend seine neuen Schuhe in eine Sammelstelle brachte, rührte trotz allen Elends die ganze Nation. »Selbst Leute, die wenig haben, bringen, was sie haben«, berichtet die als freiwillige Kinderbetreuerin in der Arena arbeitende Pädagogikstudentin Natasa, »Alle wollen helfen. In der Not stehen wir eben doch zusammen.«

An die Schrecken des von 1992 bis 1995 währenden Bosnienkriegs fühlen sich auch die Hochwasseropfer im Nachbarland erinnert. 700 000 bis 900 000 Landsleute hätten zeitweilig ihre Häuser räumen müssen, teilte Bosnien-Herzegowinas stellvertretender Katastrophenminister Samir Agic mit. Die Überschwemmungen hätten direkt oder indirekt fast ein Viertel der Bevölkerung betroffen.

An den Zuflüssen der Save in Bosnien wird zwar bereits mit den Aufräumarbeiten begonnen. Aber nicht nur, weil in Serbien nun der Pegelstand der Donau zu steigen beginnt, kann von einer Entwarnung in den Hochwasserregionen noch keine Rede sein. Die Überschwemmungen und folgende Erdrutsche haben in ehemaligen Kriegsgebieten ungezählte Minen freigelegt, Warnschilder und Markierungen von Minenfeldern wurden von den Fluten abgeräumt. Anwohner mahnt Bosniens Minenräumzentrum vor allem nach Erdrutschen zu erhöhter Vorsicht: Am Dienstag wurden allein in der Region Prijedor drei freigelegte Landminen gefunden.

Eine mehrtägige Staatstrauer für die offiziell bisher mehr als 40 Opfer riefen die Regierungen in Sarajevo und Belgrad am Dienstag aus. Ob verwüstete Felder, Straßen und Brücken oder zerstörte Fabrikhallen, Ställe und Eigenheime: Die Schäden sind noch kaum abschätzbar und dürften in die Milliarden gehen. Umso freudiger werden vor allem in dem jahrelang als »Paria-Staat« isolierten Serbien Rettungsmannschaften, Hilfslieferungen und Spenden aus aller Welt, selbst von einstigen Kriegsgegnern, registriert. »Wir sind nicht mehr allein«, freute sich zu Wochenbeginn eine Moderatorin des Radiosenders B92.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. Mai 2014


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