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Bratislava boomt, Roma revoltieren

Die Slowakische Republik am Vorabend der Aufnahme in die Europäische Union

Von Hannes Hofbauer, Bratislava*

Viertausend Menschen leben außerhalb von Trebisov im Südosten der Slowakei an der Grenze zur Ukraine. Asphaltierte Straßen gibt es in Siedlungen wie dieser, die die Slowaken »osada« nennen, längst keine mehr. Im Frühjahr steht der Schlamm vom schnell getauten Schnee knöcheltief in den Gassen. Die einstöckigen, aus Beton erbauten Häuser waren irgendwann in den 80er Jahren zwecks Integration der Zigeuner, wie die Roma hier überall genannt werden, von staatlicher Seite errichtet worden. Seither verfallen sie. Manche Betonwand dient als Stütze für selbst erbaute Hütten, die – so hat es den Anschein – einem stärkeren Regenguss nicht standhalten würden. Ganz am Rande der »osada« ist mit EU-Geldern ein neues, zweistöckiges Wohnhaus errichtet worden. Es steht leer.

Von Trebisov ging die Hungerrevolte der Roma aus, die in den Tagen nach dem 20. Februar 2004 die Ostslowakei erfasst hatte. Eine 1000 Mann starke, von der Regierung in Bratislava entsandte Sondereinsatztruppe trug damals zur Beruhigung der Lage bei. Der Autor war dabei, als Tage später eine Roma-Initiative die Verletzungen der Bewohner von Trebisov dokumentierte. In jedem Wohnblock, jedem Zimmer trafen wir Menschen, deren Wunden – von den Schlagstöcken der Kommandos – noch nicht verheilt waren. Zwei Wochen nach dem Sondereinsatz der Exekutive fand man den 19-jährigen Radoslav Puky tot im nahen Kanal, er war seit der staatlichen Prügelorgie vermisst worden.

Oft mehr als 20 Personen wohnen hier auf wenigen Quadratmetern; drei, vier Generationen leben und schlafen im selben Raum. Pappkarton statt Fußboden, ein primitiver Holzofen dient als Koch- und Heizgelegenheit. Trebisov hat viele Namen: Cierna nad Tisou, Lunik IX, Raslavice, Caklovo, Vranov nad Toplou ... fast 700 solcher Siedlungen liegen verstreut über den Osten der Slowakei. Lohnarbeit gibt es in diesen »osadi« nicht, Hunger gehört zum Alltag.

In der Innenstadt von Bratislava verparken allradgetriebene PKW-Monster und andere teure Luxusschlitten jede freie Verkehrsfläche. Hinter Glaspalästen verstrahlen Einkaufstempel das Flair US-amerikanischer Shopping-Malls. Der Eindruck einer boomenden Großstadt lässt einen so lange nicht los, bis man in die Vororte mit ihren Plattenbauten kommt. Der Korrespondent der »Neuen Zürcher Zeitung«, Ulrich Schmid, hat sich diese Reise mit der holprigen Straßenbahn erspart, bevor er seiner Euphorie über das Musterland der Transformation freien Lauf ließ: »Stolz – das Stichwort passt zur heutigen Slowakei«, leitete er seine Reportage ein, um mit einer Projektion auf die glorifizierte Vergangenheit zu schließen: »Noch ist die glorreiche Vergangenheit nicht auferstanden, noch trennen Welten die am nächsten beieinanderliegenden Hauptstädte der Welt (Wien und Bratislava). Doch der Motor der slowakischen Entwicklung ist warm gelaufen, und wenn Bratislava zurückfindet zum Wohlstand des Westens, wird es wieder, was es war.«

»Das nächste Hongkong«

Die slowakische Wirklichkeit liegt nicht zwischen jener in der Innenstadt von Bratislava und der in der Roma-Siedlung von Trebisov. Vielmehr sind es diese beiden völlig getrennten Entwicklungsniveaus, die für die transformierte Slowakei kennzeichnend sind. Der Großraum Bratislava mit seinen ausländischen Investoren, die Manager aus Westeuropa und technische Fachkräfte aus der Mittel- und Ostslowakei anziehen, boomt tatsächlich. Hier kann eine gar nicht einmal allzu schmale Schicht so leben wie in Wien oder Berlin bzw. besser, stellt man die vergleichsweise niedrigen Lebenshaltungskosten in Rechnung. In der Mittel- und Ostslowakei hingegen, von Banska Bystrica bis Kosice, wo die Statistik Arbeitslosenraten von 40 Prozent und mehr ausweist, leben Menschen im blanken Elend.

»Der Motor der Transformation ist der Verbrennungsmotor«, meinte der Ökonom des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche Josef Pöschl auf die Frage eines Journalisten, worin das Erfolgsrezept der osteuropäischen Wende aus wirtschaftlicher Sicht bestehe. Die Slowakei ist in den vergangenen zehn Jahren zum Kernland der Autobauer geworden. Bereits unter Vladimir Meciar hat VW in Sichtweite der österreichischen Grenze am westlichsten Zipfel von Bratislava neue Produktionshallen errichtet. Jährlich laufen hier 225.000 Personenwagen und 300.000 Getriebe vom Band. Das Schmuckstück ist der »Tuareg«, auch Teile der »Seat«-Produktion wurden bereits in die Slowakei verlagert, nachdem eine VW-interne Studie die Streikbereitschaft der spanischen Arbeiter als profitgefährdend eingeschätzt hatte. Der Erfolg der Wolfsburger Autobauer in Bratislava findet Nachahmer. So stellt Peugeot-Citroën 40 Kilometer nordöstlich der slowakischen Hauptstadt, in Trnava, ein Riesenwerk auf die grüne Wiese. Ab 2006 sollen hier 300000 französische PKW gefertigt werden. Und der koreanische Konzern Hyundai hat sich für Zilina als Standort entschieden, nachdem ihm die Regierung zugesichert hat, einen Autobahnanschluss herzustellen. 200000 rollende Koreaner sollen das Label »Made in Slovakia« erhalten. MG-Rover ist ebenfalls an einer Großinvestition interessiert, über den Standort wird gerade diskutiert.



Daten und Fakten:
Fläche: 49035 km˛
Bevölkerung: 5,4 Millionen, davon: Slowaken 85,8 %, Ungarn 9,7 %, Roma 1,7 %, (nach anderen Angaben 10 %), Tschechen 0,8 %
Lebenserwartung: Männer 69 Jahre , Frauen 77 Jahre
Hauptstadt: Bratislava (430000 Ew.)
Bruttoinlandsprodukt (BIP): 29 Mrd. Euro
Wachstum 2003: 4,2 Prozent
BIP pro Kopf: 5370 Euro (etwa 50 Prozent des EU-Niveaus)
Mittl. Monatslohn: 359 Euro
Arbeitslosenrate:17,4 Prozent
Inflationsrate: 8,2 Prozent
Währung: Slowakische Krone (1 Euro = 40 SK)



Das Erfolgsgeheimnis ist keines: Die slowakische Arbeitskraft ist willig und billig; und dazu gut ausgebildet. 350 Euro verdient ein durchschnittlicher Proletarier 60 Kilometer östlich von Wien, wo vier- bis fünfmal höhere Löhne bezahlt werden. Diesen Kostenvorteil lassen sich Großkonzerne nicht entgehen. Und die deutschen und österreichischen Gewerkschaften haben sich vom Totschlagargument der angeblichen Fremdenfeindlichkeit schlagen lassen, als sie ihren Widerstand gegen den Beitritt osteuropäischer Länder zur EU aufgaben. Ihr Argument, die extreme Lohndifferenz greife soziale Errungenschaften an und mache sie zunichte, ist völlig zu Unrecht und dennoch erfolgreich von wirtschaftsliberaler Seite mit dem Brandzeichen der Ausländerfeindlichkeit versehen worden. Als ob es solidarisch wäre, den Markt mit Waren aus Billiglohnländern zu überschwemmen.

Beim technischen Know-how können VW, Peugeot und Hyundai auf die geschulten Fachkräfte der Metall- und Rüstungsindustrie zurückgreifen. Diese wurde noch im gemeinsamen Staat der Tschechoslowakei unter Vaclav Havel systematisch zerstört. Auch die deutsche Kriegsmarine hatte damals ihren Anteil, als sie eine Ladung slowakischer Panzer für Syrien 1991 auf offener See abfing und damit deren Auslieferung behinderte. Den potenziellen Kunden von Rüstungsgütern war damit signalisiert worden: Kauft keine tschechoslowakischen Produkte! Die in der Folge zu Zehntausenden arbeitslos gewordenen Arbeiter heuern nun billig bei den Konzernen an. Fast 50 Prozent der slowakischen Exporte entstammen jetzt schon der PKW-Produktion, nach der Fertigstellung der Peugeot- und Hyundai-Werke wird sich die Slowakei als mutmaßlich wichtigster Autobauer für EU-Europa etabliert haben. »Die Slowakische Republik wird der Welt nächstes Hongkong. Ihre Arbeitskraft ist qualifiziert, gebildet und ruhig. Die Löhne sind spottniedrig«, ist als Resumée dieser Entwicklung auf der Homepage der USA-Botschaft in Bratislava unter der Überschrift »Investor's paradise« zu lesen.

Neoliberaler Vorreiter

Die paradiesischen Zustände für Investoren wurden am 1. Januar 2004 nochmals verbessert. Seit damals gilt in der Slowakei ein einheitlicher Satz für alle Steuern: 19 Prozent. Diese im Fachjargon »flat tax« genannte ultraliberale Maßnahme, die bislang noch in keinem Land der Welt in dieser Konsequenz probiert worden war, bedeutet eine enorme Umverteilung von unten nach oben. So wurde die Einkommensteuer für Private von 38 auf 19 Prozent und die Körperschaftssteuer von 25 bzw. 35 auf 19 Prozent gesenkt. Erbschaftsteuer und Grundsteuer sind gänzlich abgeschafft. Gleichzeitig erhöhte die Regierung die Mehrwertsteuer, die im Jahr 2002 für Güter des täglichen Bedarfs noch 10 Prozent betragen hatte, von 14 (2003) auf 19 Prozent. Die dadurch entstehenden Teuerungen waren ein Grund für den Ausbruch der Hungerrevolten unter den Roma. Europaweit ist damit ein so genannter Steuerwettbewerb eröffnet worden, der in Wahrheit eine neoliberale Offensive darstellt, bedeutet doch die slowakische »flat tax« für Unternehmen und Manager ein gewaltiges Sparpotenzial; und dies nicht nur auf dem Rücken der Slowaken, sondern auch auf Kosten der EU-Nettozahler, wie unlängst erst der schwedische Ministerpräsident bemerkte. Die politische Kaste der Slowakei entfernt sich mit ihrer neoliberalen Politik logischerweise vom viel zitierten kleinen Mann. Diese Kluft zwischen politischen Verwaltern, die mehr im Dienste ausländischer Investoren als des Wahlvolks stehen, und Bevölkerungsmehrheit erklärt auch den Ausgang der Präsidentenwahlen vom 18. April. Ivan Gasparovic wurde als krasser Außenseiter ins höchste Staatsamt gewählt, weil kaum jemand mehr den liberal-konservativen Regierungsparteien vertraut. Bei den Präsidentenwahlen haben fast 60 Prozent der Slowaken ihren Unmut mit dem von Mikulas Dzurinda betriebenen Klassenkampf von oben zum Ausdruck gebracht. Heutzutage drücken solche Wahlausgänge allerdings nicht viel mehr als die Ohnmacht des Souveräns aus, der im Angesicht einer zunehmend sich formierenden Kapitaldiktatur keiner mehr ist.

* Der Beitrag von Hannes Hofbauer erschien am 28. April 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland" im Rahmen einer Artikelserie, in der die zehn "Neuen" vor ihrem Beitritt zur Europäischen Union (1. Mai 2004) vorgestellt wurden.


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