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Taktischer Rückzug

Somalia: Milizen verlassen Mogadischu. Regierungssoldaten massakrieren Flüchtlinge

Von Knut Mellenthin *

Die somalischen Islamisten haben am frühen Sonnabend morgen (6. Aug.) ihre bewaffneten Einheiten aus der Hauptstadt des Landes abgezogen. Der Rückzug erfolgte nach Augenzeugenberichten geordnet und koordiniert. Vor dieser aktuellen Entwicklung kontrollierte die islamistische Al-Schabab-Miliz 30 bis 40 Prozent von Mogadischu. Noch zu Jahresbeginn hatte sie mehr als die Hälfte der Hauptstadt beherrscht, war aber seit Februar von der waffentechnisch und wohl auch zahlenmäßig überlegenen AMISOM zurückgedrängt worden. Die aus ugandischen und burundischen Soldaten bestehende, ausschließlich in Mogadischu stationierte »Friedenstruppe« ist seit Herbst 2010 von weniger als 5000 auf über 9000 Mann aufgestockt und stärker bewaffnet worden. Außerdem hat die Afrikanische Union, eine Organisation nahezu aller Staaten des Kontinents, das zuvor nur defensive AMISOM-Mandat aggressiver definiert.

Erstmals seit fünf Jahren gibt es nun keine islamistischen Einheiten in Mogadischu. Die Fundamentalisten hatten im Juni 2006 die Herrschaft über die Hauptstadt und ihre Umgebung übernommen, nachdem sie die Milizen einer Warlord-Allianz vertrieben hatten, die von der US-Regierung finanziert worden war. Im Dezember 2006 griffen die äthiopischen Streitkräfte mit Tausenden Soldaten in den somalischen Bürgerkrieg ein und besetzten Mogadischu. Zentrale Stadtteile blieben aber weiter in der Hand der Islamisten. Bei Attacken auf deren Hochburgen legten die Äthiopier im Frühjahr 2007 durch Artillerie- und Panzerbeschuß weite Gebiete in Trümmer. Mehr als die Hälfte der Bewohner, vor allem Frauen und Kinder, flüchteten aus der Stadt.

Ebenfalls seit Frühjahr 2007 ist die AMISOM im Einsatz. Nach dem Abzug der äthiopischen Streitkräfte aus Somalia Anfang 2009 ist die »Friedenstruppe« die wichtigste Stütze der 2004 gebildeten sogenannten Übergangsregierung, die zwar international anerkannt ist, aber niemals vom Volk gewählt wurde.

Regierungschef Abdiweli Mohamed Ali und Präsident Scheich Scharif Ahmed feierten in ersten Kommentaren die »Vertreibung« von Al-Schabab und die »Befreiung« Mogadischus, der bald auch der landesweite Sieg über die Islamisten folgen werde. Ein AMISOM-Sprecher äußerte sich weitaus vorsichtiger: Al-Schabab sei in die Bevölkerung abgetaucht und werde künftig noch schwerer zu bekämpfen sein. »Wir brauchen mehr Truppen als je zuvor, weil das Gebiet, das unsere Kräfte abdecken müssen, zu groß ist«, so der Sprecher.

Al-Schabab-Vertreter Ali Mohamud Rage erklärte in einem von den Islamisten betriebenen Rundfunksender, Grund des Rückzugs aus der Hauptstadt sei ein Wechsel der militärischen Taktik. Außerdem wolle man die Bevölkerung vor weiteren schweren Kämpfen im Stadtgebiet bewahren. Al-Schabab bereite jedoch bedeutende »Gegenangriffe auf den Feind« vor. Schon in den »kommenden Stunden« seien »glückliche Neuigkeiten« zu erwarten.

Friedlicher wird die Lage in Mogadischu nach dem Abzug der Islamisten kaum werden. Statt dessen ist mit verschärften Konflikten innerhalb der sogenannten Regierungstruppen – die in Wirklichkeit ein Konglomerat rivalisierender Milizen sind – und zwischen diesen und AMISOM zu rechnen. Eine Vorahnung gab das Massaker, das plündernde Regierungssoldaten am Freitag in einem Flüchtlingslager während der Verteilung von Lebensmitteln anrichteten. Mindestens elf Menschen wurden durch Schüsse getötet, mehrere Dutzend verletzt. Aus Angst vor weiteren Zwischenfällen verließen viele Flüchtlinge das Lager.

* Aus: junge Welt, 8. August 2011


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