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"Colombo ist auf dem Kriegspfad"

Die militärische Offensive gegen die tamilischen Gebiete Sri Lankas hält unvermindert an. Gibt es nach Thamilchelvans Tod noch Hoffnung für Frieden? Ein Gespräch mit Selvarajah Kajendren *

Der Tamile Selvarajah Kajendren ist seit den Wahlen vom 2. April 2004 Mitglied des Parlaments von Sri Lanka in Colombo. Er wurde als Abgeordneter der Tamil National Alliance (TNA) im Bezirk Jaffna gewählt. Er gehört dem TNA-Komitee für Auswärtige Angelegenheiten an und bereist derzeit verschiedene Länder der EU



In Sri Lanka herrscht ein unerklärter Krieg. International zumeist unbeachtet attackiert die srilankische Armee (SLA) nahezu täglich die in der Vergangenheit weitgehend unter Kontrolle der Befreiungsbewegung LTTE stehenden Regionen im Norden und Osten der Insel – laut westlichen Medienberichten mit Erfolg. Wie stark stehen die »Befreiungstiger von Tamil Eelam« unter Druck?

Seit Monaten häufen sich die Kämpfe. Vor allem im Osten greift die SLA massiv an und hat dort einige Gebiete erobert. Allerdings gab es auf seiten der LTTE keine größeren Verluste, weil man nicht kämpfte, sondern sich zurückzog. Doch ist deren Einfluß trotz Nichtpräsenz auch im Osten nach wie vor vorhanden.

Dennoch kann die Regierungsseite militärische Erfolge verbuchen?

Man muß differenzieren zwischen dem Osten und dem Norden. Im Osten trifft das zu, was Sie sagen. Im Norden versucht die Regierung seit sechs Monaten, verschiedene Gebiete zu erobern – erfolglos. Dem widersprechen die Meldungen, die in den Medien verbreitet wurden. Doch diese treffen nicht unbedingt zu. So wird zum Beispiel die Eroberung eines Gebietes im Norden verkündet, in dem sich überhaupt keine LTTE-Truppen aufhielten. Ein Niemandsland, in dem tamilische Bevölkerung lebte und die LTTE lediglich politisch arbeitete. Ähnlich sieht es in Gebieten des Ostens aus, wo die SLA einmarschierte und es als großen Sieg über die LTTE verkaufte, obwohl diese dort nicht militärisch vertreten war.

Nun startete die LTTE mehrfach zum Teil spektakuläre Gegenschläge außerhalb des tamilischen Gebietes. Ist der Waffenstillstand vom Februar 2002 ad acta gelegt?

Wenn Regierungstruppen angreifen, dann werden sogenannte Gegenschläge aus einer Defensivposition heraus gestartet. Diese dienen zum Beispiel dazu, die Militäroffensive zu behindern oder noch größere Angriffe zu verhindern. Es handelt sich also um eine defensive Strategie. Daß die LTTE keine offensiven Maßnahmen ergreift, liegt auch daran, daß sie immer noch an einem Waffenstillstand interessiert ist und die Möglichkeiten dazu nicht gefährden möchte. Allerdings führen die Armeeangriffe zu Not und Elend in der Bevölkerung. Allein im Osten gibt es 250000 Flüchtlinge, hauptsächlich tamilische. Und im Norden wächst die Einwohnerzahl sprunghaft, so daß humanitäre Katastrophen drohen. Um diese Entwicklung zu stoppen, werden »defensive Angriffe« geführt.

Könnten Sie diese »Defensive« erläutern? Die Verteidigung von Flüchtlingen oder Strukturen in den tamilischen Gebieten ist nachvollziehbar. Aber was ist mit Angriffen außerhalb der LTTE-Gebiete wie jüngst im Oktober gegen einen Luftwaffenstützpunkt nahe Colombo?

Von dem Stützpunkt waren zuvor die Luftangriffe auf den Norden gestartet worden. Damit wurden also weitere Offensivpläne durchkreuzt oder deren Umsetzung zumindest aufgehalten.

Trotzdem wird die singhalesische Öffentlichkeit das sicher nicht als »Defensive« ansehen?

Wie die singhalesische Bevölkerung damit umgeht, liegt auch in der Hand der Regierung, weil die Medienlandschaft von ihr dominiert wird. Von Pressefreiheit kann in Sri Lanka nicht gesprochen werden.

Wie erleben Sie persönlich als Parlamentsmitglied die Stimmung in Colombo?

Es ist sehr gefährlich. Viele Menschen leben mit der Angst. Es kann jederzeit alles Mögliche geschehen. Das trifft insbesondere, aber nicht nur, für die tamilische Bevölkerung zu. So wurden jüngst quasi über Nacht mehrere hundert Tamilen, die sich in Colombo aufhielten, in Busse verfrachtet, fortgebracht und irgendwo ausgesetzt – als Zeichen, daß sie nicht erwünscht sind. Es kann jederzeit alles passieren.

Welche Möglichkeiten haben die tamilischen Parlamentsmitglieder unter diesen Bedingungen überhaupt?

Man kann im Parlament debattieren und auch auch Dinge vorbringen. Das hat keinerlei Folgen. Vielleicht werden die Einwände und Vorschläge protokolliert und stehen dann auf Papier. Mehr nicht. Aber das ist nichts Neues. Es trifft für die vergangenen 50 Jahre zu – und heute noch mehr. Zudem ist das, was im Parlament geschieht, nur die eine Seite der Medaille; die andere prägt der Präsident mit seinen Sondervollmachten. Er darf dementsprechend agieren.

Sie selbst sind für das srilankische Parlament in den tamilischen Gebieten gewählt worden, werden also wahrscheinlich gerade auch in der zugespitzten militärischen Situation als Vertreter der Tamilen, also einer Kriegspartei, wahrgenommen. Wie leben Sie damit?

Weil wir auch im Parlament die Menschenrechtsverletzung gegen Tamilen angesprochen haben, bekommen wir ständig Morddrohungen »von unbestimmter Seite«, wie es heißt. Es gab ursprünglich insgesamt 22 tamilische Abgeordnete, die mit weit über 90 Prozent der Stimmen in den Tamilengebieten gewählt wurden. Zwei von ihnen wurden ermordet. Die Täter wurden nie ermittelt. Kürzlich wurde mein Büro in Jaffna angezündet, zwei meiner Mitarbeiter erschossen. Ich selbst war gerade nicht anwesend.

In der Vergangenheit gab es Kontakte der LTTE auch mit offiziellen Stellen in Deutschland. Vor zweieinhalb Jahren beispielsweise empfing Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul in Berlin den jüngst ermordeten Politischen Leiter der LTTE, S.P. Thamilchelvan. Was erwarten Sie heute?

Wichtig wäre erstens, die Menschenrechtsverletzungen gegen die tamilische Bevölkerung anzuprangern. Zweitens sollten die Finanzhilfen an die Regierung in Colombo gestoppt werden. Mit diesen wird auch der Krieg gegen die Tamilen bezahlt. Drittens darf die LTTE nicht länger als Terrororgansation geführt werden – auch deswegen, weil diese Klassifizierung den Effekt hat, daß sich die srilankische Regierung zum Krieg gegen die Tamilen ermutigt fühlt. Aber die LTTE als Befreiungsbewegung hat, immerhin unter internationaler Vermittlung, Verträge unterschrieben, die bisher einseitig von der singhalesischen Seite mißachtet wurden.

Offensichtlich will Colombo den Konflikt militärisch lösen. Das demonstrierte zuletzt die Tötung des Chefunterhändlers der LTTE, S.P. Thamilchelvan, durch srilanisches Militär am 2. November. Wie werten Sie dieses tragische Ereignis? Die tamilische Bevölkerung, sowohl in Sri Lanka als auch im Ausland, trauert und ist wütend. Der Angriff der Armee ist ein klares Signal der Regierung: Thamilselvan war schließlich der tamilische Verhandlungsführer. Er hat sich immer für Gespräche eingesetzt. Seine Tötung beweist, daß Colombo auf dem Kriegspfad ist. So wird es auch die tamilische Bevölkerung sehen.

Nun behauptet die Regierung, daß sie weitere Schläge gegen führende LTTE-Persönlichkeiten führen wird. Man verfüge über die dazu notwendigen Informationen. Wie sehen Sie das?

Thamilchelvan war eine öffentliche Person. Er gehörte nicht zum Militär; herauszufinden, wo er sich jeweils aufhielt und sich bewegte, war nicht schwer. Die Behauptung der Regierung, sie könne weitere führende LTTE-Leute ermorden, ist Propaganda. Zudem ist es so: Wenn man sich die Geschichte der Befreiungsbewegung anschaut, mußte sie in der Vergangenheit mehrfach schwere Verluste hinnehmen. Aber eine Revolution hängt nicht von einzelnen Personen ab. Thamilchelvan ist trotzdem schwer zu ersetzen. Er war bekannt auch im Ausland und hat sich immer für friedliche Lösungen eingesetzt. Wenn er jetzt staatlicherseits zum »gefährlichen Terroristen« stilisiert wird, ist das lediglich eine Rechtfertigung dafür, daß sie ihn ermordet haben.

Die Hoffnungen, doch noch zu einer Wiederbelebung des Waffenstillstands zu kommen, sind eher gering?

Der Präsident präsentiert sich immerzu als Retter der Insel und redet davon, daß er die Tamilen auslöschen möchte. Doch jüngst bei dem Angriff der LTTE auf den Luftwaffenstützpunkt schien es einen Moment so, als wenn es doch wieder zu einem Gespräch kommen könnte. Aber bedauerlicherweise wird die srilankische Regierung aus dem Ausland, vor allem von den USA, unterstützt. Verluste werden umgehend wieder ausgeglichen.

(Übersetzung: Agilan Waradarajah)

Interview: Gerd Schumann

* Aus: junge Welt, 10. November 2007

Hintergrund: Konflikt ohne Ende?

Der sozial wie ethnisch geprägte Konflikt in Sri Lanka zwischen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit und der tamilischen Minderheit schwelt seit Jahrzehnten. Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Colombos Armee und der Befreiungsbewegung LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam) begann 1983. Ausgelöst wurde der Krieg mit dem »Schwarzen Juli«, als mehrere tausend Tamilen Pogromen singhalesischer Rassisten zum Opfer fielen. Die aus verschiedenen Organisationen der tamilischen Minderheit hervorgegangene LTTE schlug im Norden der Insel zurück und forderte einen unabhängigen Staat – ein Wendepunkt in der Geschichte dieser Bevölkerungsgruppe: Sie stellt etwa 18 Prozent der 19 Millionen Einwohner, 70 Prozent sind Singhalesen.

Der kolonialen Unterdrückung, die 1948 mit der Unabhängigkeit der Insel von Großbritannien endete, folgten ab 1956 eine diskriminierende Sinhala-only-Politik und damit verbunden eine schleichende Singhalisierung des gesamten Lebens. Soziale Gegensätze wurden zunehmend hinter der ethnisch-religiösen Konfrontation verdeckt. Die Tamilen wehrten sich zunächst im Rahmen des Systems, schlossen sich 1976 zusammen, die Befreiungsbewegung entstand. Sie bediente sich ideologisch auch beim Marxismus.

In den von ihnen kontrollierten Gebieten in Sri Lankas Norden und Osten üben sie allein die Staatsgewalt aus. Die LTTE kämpft für die Unabhängigkeit der Gebiete vom Rest der Insel. Die Organisation agiert politsch wie militärisch. Sie wird von mehreren Staaten als »terroristisch« eingestuft, darunter von den USA und seit 2006 auch von der Europäischen Union. Die im Rahmen des von den USA ausgerufenen »Kriegs gegen den Terror« vorgenommene LTTE-Ächtung wirkte sich insbesondere auf den Friedensprozeß aus: Von 2001 bis 2004 hatte sich die Lage erstmals seit 20 Jahren entspannt. Im Februar 2002 hatten beide Seiten einem Waffenstillstand zugestimmt.

Bald sechs Jahre danach steht es um die Friedenschancen in Sri Lanka schlecht. Auch durch die einseitige Parteinahme der EU ermutigt, rückten Truppen der Zentralregierung seit Mitte 2006 erstmals wieder nach Beginn der Waffenruhe auf tamilisches Gebiet vor. Die LTTE reagierte mit Kampfeinsätzen auch in singhalesischen Gebieten. Es kam zu Massenfluchten.

Am 2. November 2007 starb der in den Friedensverhandlungen der vergangenen Jahre führende Chefdiplomat der LTTE, S.P. Thamilchelvan, bei einem gezielten Angriff der Armee auf die tamilische Stadt Kilinochchi. Am Mittwoch morgen begann eine Bodenoffensive gegen LTTE-Stellungen der nördlichen Verteidigungslinie. Nach Angaben der tamilischen Website tamilnet wurde sie abgewehrt.
jW




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