Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Unterwegs im "Tigerland"

In Sri Lankas Dschungel haben die tamilischen Rebellen die Alleinherrschaft

Den folgenden Hintergrundbericht über die Situation im Bürgerkriegsland Sri Lanka haben wir der Wochenendbeilage der "jungen Welt" entnommen.


Von Hilmar König

In Sri Lankas Dschungel haben die tamilischen Rebellen die Alleinherrschaft Es ist 6 Uhr morgens. Unser Bus hat gerade Sri Lankas Hauptstadt Colombo verlassen. Zwölf Stunden Fahrt liegen vor uns – ins »Tigerland«, die Gebiete im Norden der Insel, die von den tamilischen Befreiungstigern (LTTE) kontrolliert werden. Der Fahrer traktiert Gaspedal, Bremsen, Lenkrad und demonstriert so einen aggressiv-riskanten Fahrstil. Aus vier Boxen plärrt ununterbrochen Musik, die seinen Eifer anzustacheln scheint. Vorbei an Reisfeldern, Bananen- und Kokospalmplantagen prescht der Bus. Nach rund 160 Kilometern stoßen wir auf die berühmt-berüchtigte A-9, von nun an geht die Fahrt strikt nordwärts. Die Autobahn 9 führt von Kandy im zentralen Bergland bis nach Jaffna. Sie ist die Lebensader zur Jaffna-Halbinsel, wo mehrheitlich Tamilen leben. Im Landesmaßstab allerdings ist dieser Bevölkerungsteil mit etwa 18 Prozent in der Minderheit.

1983 begannen die Befreiungstiger als radikalste Gruppe den bewaffneten Kampf gegen die Streitkräfte Sri Lankas, die die singhalesische Bevölkerungsmehrheit repräsentieren. Wegen dieses erbitterten Konfliktes, in dem mindestens 65 000 Menschen ums Leben kamen, war die A-9 bis zum April vorigen Jahres gesperrt, mit Minen übersät, aufgerissen und an vielen Stellen nicht mehr vorhanden. Der Versuch der Armee, diese Straße der LTTE-Kontrolle zu entreißen, scheiterte kläglich. Erst als im vorigen Frühjahr auf norwegische Vermittlung hin zunächst ein Waffenstillstand vereinbart und ein paar Monate später Friedensgespräche zwischen der Regierung in Colombo und der LTTE aufgenommen wurden, öffneten sich im »Tigerland« auch die Sperren auf der A-9. Allerdings geriet inzwischen der Friedensdialog in die Sackgasse, nachdem die LTTE am 21. April auf unbestimmte Zeit aus dem Dialog ausstieg.

Vavunyia ist die letzte große Stadt an der Autobahn 9, die nicht im LTTE-Gebiet liegt. Wer ins »Tigerland« oder nach Jaffna will, muß hier das erste Mal umsteigen. Bis Omantai sind es weniger als 30 Kilometer. Gleich dahinter warnen schon die ersten Schilder »Vorsicht Minen! Todesgefahr! Verlassen Sie die Straße nicht!« Auf den Wiesen bewegt sich deshalb keine Menschenseele. Rund die Hälfte der Agrarfläche, so erfahren wir später in Jaffna, liegt wegen der Minenverseuchung brach. Wir rollen auf die Grenzstation zwischen Regierungs- und Tigerland zu. Es beginnt eine andere Welt – die der LTTE.

Für uns heißt das Kontrolle des Gepäcks, der Ausweise und erneutes Umsteigen, eine fast zwei Stunden dauernde Prozedur. Die Lastwagenfahrer müssen ihre gesamte Fracht abladen und Stück für Stück filzen lassen. Das Gleiche hatten sie schon auf der Regierungsseite über sich ergehen lassen müssen. Ein Beweis, wie tief das Mißtrauen zwischen beiden Seiten noch sitzt. Die Polizisten, die unseren Passierschein abstempeln, tragen stolz das rot-blaue Emblem mit dem gelben Tigerkopf auf der Uniform, das erste sichtbare Zeichen von »Tamil Eelam«, dem tamilischen »Staatsgebilde«. Große Schilder am Straßenrand rühmen die tapferen Frauen in den Reihen der Guerilla. Der Schneider Kanahalingam, ein Tamile, der vier Jahre in Deutschland lebte und jetzt im gleichen Bus zu Frau und drei Kindern nach Jaffna reist, verbirgt seine Sympathie für die Befreiungstiger nicht und sagt: »Die Boys sind in Ordnung.« Die Konversation mit anderen Buspassagieren – Kanahalingam übersetzt aus dem Tamilischen – offenbart, welche Hoffnungen die Bevölkerung an den Friedensprozeß knüpft. »Diesmal werden wir Frieden haben, weil ihn alle wollen, auch die Boys und die Soldaten«, ist die verbreitete Meinung. Vertriebene und Geflüchtete kehren in Scharen zurück. Aber ihre Heimstätten sind zum großen Teil zerstört. Sie brauchen ein Obdach, Arbeit, Nahrung und gesundheitliche Betreuung. Kernfragen des Normalisierungsprozesses.

Endlich geht die Fahrt auf dem »Highway«, der an zahlreichen Stellen nur noch aus losem Schotter, aus Schlammpfützen und Spurrinnen besteht, weiter. Die meisten Ortschaften tragen die Male des Krieges. Häuser ohne Dächer, von Granaten und Bomben weggefegt bis auf die Grundmauern, von Geschossen durchlöchert, ohne Türen und Fenster. Bei Mankulam, tief im »Tigerland«, eine Überraschung: Gleich neben dem Tempel, der dem Hindugott Pilliyar geweiht ist und wo alle Busfahrer für ein kurzes Gebet halten, befindet sich die von einer Neonröhre beleuchtete Gedenkstätte für einen LTTE-Helden, für Kemal Theelipan. Der Oberstleutnant zeichnete sich nicht etwa, wie man erwartet, durch militärischen Bravour aus, sondern ging als »Tamilen-Gandhi« in die Geschichte ein. 1987, als sich hier indische »Peacekeeper« mit den Befreiungstigern Gefechte lieferten, trat der Medizinstudent für Gewaltlosigkeit ein und starb nach zehntägigem Fasten.

In Kilinochi, wo die LTTE ihr Verwaltungszentrum einrichtete, nachdem die Armee 1995 Jaffna erobert hatte, gewinnt man den Eindruck, daß Tamil Eelam tatsächlich bereits existiert. Das Distriktgericht, die Polizeistationen, der Gesundheitsdienst, die Bildungs- und der Forstbehörde tragen alle das Tiger-Emblem. Zeitungshändler bieten die Presse der Rebellen an. Kein Zweifel, wer hier das Sagen hat. Eelam ist Realität. Irgendwo hier hat auch der Chef der Organisation, Velupillai Prabhakaran, sein Hauptquartier. In den künftigen Gesprächen, wenn es dazu überhaupt wieder kommen sollte, wird es wohl »nur« noch darum gehen, für diese Realität eine akzeptable Formel zu finden. Separatstaat kommt nicht in Frage. Da sind sich Premier Wickremasinghe und Präsidentin Kumaratunga ausnahmsweise einig, und selbst die LTTE hat diese Maximalforderung modifiziert und nur noch als allerletzte Option bezeichnet, wenn es keinen dauerhaften Frieden geben sollte. Das Zauberwort lautet nun Föderation oder Konföderation, auch wenn erst vage Vorstellungen bestehen, wie eine solche Struktur konkret aussehen könnte.

Hinter Kilinochi nähert sich der Bus dem Elefanten-Paß, einem schmalen Damm, der über den östlichen Ausläufer der Jaffna-Lagune führt und der in den letzten Jahren wegen der hier tobenden Schlachten häufig Schlagzeilen lieferte. Einst sollen die Dickhäuter diese Stelle regelmäßig aufgesucht haben, um sich an Salzablagerungen zu laben. Aber Elefanten gibt es hier seit Jahrzehnten nicht mehr. Der Krieg hat sie wohl vertrieben. Der Paß war eine der am heftigsten umkämpften strategischen Positionen, das »Eingangstor« zu Jaffna. Rostiges Militärgerät und Minenwarnschilder künden noch vom Krieg. Das alles ist »Tigerland«.

Auf das Territorium der Regierung gelangen wir erst kurz vor der schwer zerstörten Stadt Chavakacheri. Von dort ist es nur noch ein Sprung bis nach Jaffna. Hier informiert uns der Chef des Rates der Nichtregierungsorganisationen, P. Vigneshwaran, über die wirtschaftlichen Probleme der Stadt und der Region. Er spricht sogar von »ökonomischer Kolonialisierung«. Seit Öffnung der A-9 überschwemmen Güter aus dem Süden die Region um Jaffna. Deren traditionelle Agrarprodukte - Zwiebeln, Tabak, Chili, Getreide, Kokoserzeugnisse Palmyrah (Palmblaettergeflecht) sowie Fisch - können nicht konkurrieren. Das mehrmalige Umladen und Kontrollieren der LKW-Frachten verteuert die Waren.

Am nächsten Tag ein Abstecher in den Vanni, was eigentlich Dschungel bedeutet, zugleich aber einen beträchtlichen Teil des »Tigerlandes« markiert. Am Wegrand Lehmhütten mit Palmyrah-Blättern gedeckt, umgeben von flammendroten Hisbiskushecken. Die üppige Natur kaschiert die verbreitete Armut und verleiht ihr sogar einen Hauch von Idylle. Unser Kleinbus, beladen mit aus Deutschland stammenden Rollstühlen, Fahrrädern sowie Gehhilfen aller Art, folgt einem tiefer in den Vanni führenden Pfad. Die Gegend, so ist auf Schildern zu lesen, wurde von Minen geräumt. Auffallend kleine Rinder grasen hier. Bauern pflügen mit Ochsengespannen die feuchte, überraschend ähnlich wie die zu Hause in der Magdeburger Börde riechende Erde.

Als der Bus mit der »Geschenkladung« vor dem Regierungshospital in Mallavi hält, bildet sich schnell eine Menschentraube. Schwestern und Ärzte sind ungläubig, daß ein Teil der Rollstühle für ihr Krankenhaus bestimmt sein soll. Hans-Peter Dentler aus Karlsruhe organisiert in Eigeninitiative seit über drei Jahren medizinische Hilfe für Sri Lanka. Mit dem in Deutschland gesammelten Material, inzwischen drei Schiffscontainer voll, hat er mehr als 1600 Menschen – Kriegsversehrten, Minenopfern, Amputierten und Querschnittsgelähmten – zu neuem Lebensmut verholfen. Erstmals ist der 58jährige nun im LTTE-Gebiet unterwegs. »Man muß dort eingreifen, wo es am notwendigsten ist«, sagt er.

Hospitaldirektorin Dr. Ehampadra Moorinthy bedankt sich bei dem »deutschen Engel«, wie sie es formuliert, für den »unerwarteten Segen«. Pierre-Marie Noterdaeme, ein belgischer Chirurg, und die philippinische Gynäkologin Divina Ilustre sind hier im Einsatz. Nach ihrer Einschätzung hat sich die Lage im LTTE-Gebiet enorm verbessert, seit der Waffenstillstand in Kraft ist. »Davor nahmen uns die Rebellen die für Patienten bestimmte Schokolade ab und die Armee die Batterien und Transistorradios«, berichtet Dr. Ilustre. Jetzt sei alles entspannter. Es bestehe eine unbeschreibliche Hoffnung in der Bevölkerung, daß die Waffenruhe zu einem dauerhaften Frieden wird.

Die Absurdität der Lage zeigt sich daran, daß dieses Hospital von Colombo aus finanziert wird, auch mitten im Krieg arbeitete und Patienten behandelte, selbst wenn sie die LTTE-Uniform trugen. Ein ähnliches Phänomen existiert im Bildungsbereich. In Yokapuram übergibt Herr Dentler der dortigen Schule Hefte, Bleistifte, Radierer, Anspitzer und Plastiktrinkflaschen. Auf eine gezielte Frage antwortet Lehrerin Leelavatty Sellathurai, die LTTE mische sich nicht in den Schulbetrieb ein, denn es handele sich ja um eine staatliche Schule – immerhin tief im LTTE-Gebiet. Später bestätigt Dr. Kumarasa, der Regionalkommissar für den Nordosten, daß die LTTE sehr vorsichtig ist, was die staatliche Bildungspolitik betrifft. Nur die Geschichtsbücher wurden von den Befreiungstigern verfaßt und eingeführt. Die Prüfungen jedoch müssen die Schüler nach dem staatlichen Lehrplan ablegen, auch in Geschichte.

Später in Batticaloa, an der Ostküste Sri Lankas, kommt es zur Begegnung mit einem Politkommissar der Rebellenorganisation. Im Stadtteil Mamangam hat er sein Büro, das schon von weitem an der »Tigerflagge« erkennbar ist. Ein Befehl verbietet dem 22 Jahre alten Mann, seinen Namen zu nennen und Medienvertretern konkrete Informationen zu geben. Auf die Frage, wie denn sein Arbeitstag nun während des Waffenstillstands aussieht, entgegnet er, seine Leute würden der Bevölkerung die LTTE-Programme erläutern und sich nach ihren Bedürfnissen erkundigen. Mit Regierungsstellen gebe es noch keine Zusammenarbeit. Wie stellt er sich die Zukunft vor? »Wir haben all die Jahre für Selbstbestimmung gekämpft. Wir wollen die Macht und dann mit den Entwicklungsaufgaben beginnen.«

Ein paar Stunden später zeigt sich Dr. Joseph Kingsley Swampillai, der Bischof von Trincomalee und Batticaloa, bedeutend gesprächiger. Das Bemühen um Frieden, so erläutert er, muß in eine politische Lösung des ethnisch-sozialen Konflikts münden, die »eine adäquate Machtteilung mit möglichst weitgehender Autonomie in einem vereinten Sri Lanka, die Gewährung gleicher Rechte für alle Bürger und die Respektierung der Menschenrechte durch alle Seiten beinhaltet.« Im Büro des tamilischen Regierungsagenten und Distriktsekretärs R. Monagurusamy hören wir erneut, daß der Wunsch nach Frieden im Volk überwältigend ist. Er hat 24 Kollegen, von denen 16 buddhistische Singhalesen sind, also der Bevölkerungsmehrheit angehören. Er hat sie alle befragt und kam dann zu diesem Ergebnis: 90 Prozent der Singhalesen und 99 Prozent der Tamilen wollen Frieden. Sie alle haben furchtbar unter Terror, Krieg und Menschenrechtsverletzungen gelitten. Sie wollen wieder ein normales Leben führen.

Aus: junge Welt, 12. Juli 2003


Zurück zur Seite Sri Lanka

Zurück zur Homepage