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Es muss schon ein Genozid sein, sonst interessiert Darfur nicht!

Von Julie Flint und Alex de Waal *

Die Kampagne „Save Darfur“ ist umstritten. Das Wort vom Genozid, von dem „Save Darfur“ behauptet, er finde in Darfur satt, sei in der Sache falsch und seine Benutzung politisch sogar kontraproduktiv, behaupten die Kritiker. Fakt ist, dass tatsächlich erst die mediale Aufladung des Konflikts als Genozid die internationale Öffentlichkeit bewegt und die politischen Institutionen, allen voran das US-Außenministerium zum Handeln gebracht hat. Fakt ist aber auch, dass die gleiche mediale Aufladung eine Simplifizierung des Konflikts notwendig machte und damit, bewusst oder unbewusst, mitunter zur Verschärfung der Lage vor Ort beigetragen hat. Die Rede vom Genozid machte es notwendig, Täter und Opfer eindeutig und unmissverständlich zu benennen. Entgegen der komplexen und komplizierten Situation vor Ort reduziert die mediale Präsentation der „Save Darfur“-Kampagne die Täter auf „Araber“ und die Opfer auf „Schwarzafrikaner“.

Ein Jahrzehnt lang waren Darfurs Konflikte der restlichen Welt unbekannt. Selbst in der einschlägigen afrikanischen Presse wurden sie kaum erwähnt. Das einzige anhaltende Interesse galt dem „christlichen Süden“ des Sudan. Wegen Trockenheit und einer unmittelbar bevorstehenden Nahrungsmittelkrise besuchte der Verwalter der US Agency for International Development (USAID), Andrew Natsios, im Jahre 2001 Darfur. Die Kämpfe und Vertreibungen um den Berg Marra herum im folgenden Jahr blieben jedoch ohne Aufmerksamkeit. Erst als der Krieg im April 2003 schließlich eskalierte, schickte das USAID Office of Foreign Disaster Assistance eine humanitäre Hilfsmission.

Erste Anzeichen eines Konfliktes

In den folgenden Monaten besuchte Roger Winter, der Direktor des USAID Emergency Relief Bureau, die Region Darfur dann öfter. Aber trotz seiner Augenzeugenberichte blieb die internationale Antwort auf die Krise kaum mehr als die Bemühung einiger weniger engagierter Aktivisten. Im Mai 2003, in einer Aussage vor dem Komitee für Internationale Beziehungen des US-Kongresses, warnte Winter, dass es eine neue Konfliktzone in Darfur gäbe, die nicht angemessen zur Kenntnis genommen werde. Winter war zur Überraschung seiner Kollegen Anfang 2001 in die Regierung Bush als Verantwortlicher für das Nothilfeprogramms von USAID gewechselt, nachdem er 19 Jahre lang die Nichtregierungsorganisation „US Committee for Refugees“ geleitet hatte.

Als der Konflikt in Darfur im Jahre 2002 schließlich eskalierte, verkündete die sudanesische Regierung in Khartum drastische Einschränkungen für humanitäre Hilfen in Darfur. Zu Beginn des Jahres 2003 waren es nur fünf ausländische Hilfsorganisationen, die regelmäßig in dem Gebiet arbeiteten. Aufgrund von Roger Winters Bemühungen konnte wenigstens UNICEF in Nord-Dafur im August 2001 seine Arbeit mit Mitteln von USAID aufnehmen. Die meisten Nichtregierungsorganisationen, die im Sudan operierten, konzentrierten sich aber weiterhin auf die Annäherung zwischen dem Süden und dem Norden und bereiteten sich auf Wiederaufbauprojekte vor. Dem Westen des Sudan, der Region Darfur, wurde weiterhin wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Winter und Natsios veranlassten die Botschaft der USA im Sudan, Berichte von „ethnischen Säuberungen“ nach Washington zu schicken. Natsios warnte das Außenministerium eindringlich, dass sich ein neuer Bürgerkrieg entwickelte; gerade zu einer Zeit, als die Verhandlungen zum Nord-Süd-Konflikt in eine vielversprechende Phase übergegangen waren. Im Dezember 2001, als Khartum den Notstand in Darfur ausgerufen hatte und hunderttausende von Vertriebenen in Notlagern zusammen kamen, waren es wieder Winter und Natsios, die diesmal die sudanesische Regierung in Khartum überredeten, die Beschränkungen gegenüber ausländischen Helfern und Hilfsmitteln aufzuheben.

Dramatische Zahlen

Am 3. Juni 2004 verkündete Natsios, dass USAID schätze, dass, wenn Hilfe nach Darfur gelänge, etwa 300.000 Menschen dennoch sterben würden. Wenn keine Hilfe nach Darfur gelänge, würden die Zahlen die Millionen erreichen. Solche Dramatisierungen – sogar die kleinere Zahl erwies sich als übertrieben – halfen, die internationale Aufmerksamkeit und die internationalen Mittel auf Darfur zu lenken.

Sobald Präsident al-Bashir das Ende der Militäraktionen in Darfur und eine teilweise Aufhebung der Blockade internationaler Hilfsmaßnahmen im Februar 2004 verkündete, begannen USAID, das Welternährungsprogramm, europäische Geber und einige Nichtregierungsorganisationen eine Antwort auf die unvorhergesehene Ausnahmesituation zu formulieren. Sechs Monate später erhielten 900.000 Menschen in Darfur und 200.000 Flüchtlinge im Tschad Lebensmittelhilfen. Die US-Regierung gab 300 Millionen US$ für diese Nothilfe aus, mehr als für jede andere humanitäre Hilfsmaßnahme.

Doch humanitäre Hilfe kann kein politisches Vakuum füllen. Deshalb arbeiteten Natsios und Winter in gleicher Weise für eine politische Lösung im Südsudan. Genau zu der Zeit, als die Kämpfe in Darfur ihren Höhepunkt erreichten, waren die Nord-Süd-Friedensgespräche in eine kritische Phase gelangt. Ein Durchbruch wurde am 26. Mai 2004 erzielt, als Khartum und die SPLM ein Protokoll zur Machtteilung und bezüglich des Status der drei Regionen Abyei, Nuba-Berge und Blauer Nil unterzeichneten. Khartum erklärte sich bereit, eine Mission der Vereinten Nationen zu akzeptieren. Damit die Mission formal verabschiedet werden konnte, wurde der Krieg im Südsudan im Sicherheitsrat auf die Tagesordnung gesetzt – zum ersten Mal in über 21 Jahren bewaffneten Kampfes. Darfur selbst hatte es somit in nur einem Jahr nach Ausbruch des Aufstandes in den Sicherheitsrat geschafft, gewissermaßen im Schlepp des Friedens im Südsudan.

Der Mann, der am 18. Juni 2004 den Auftrag übernahm, die UN-Mission im Sudan zu leiten, war Jan Pronk, ein erfahrener Holländer der Klartext redete. Pronk war ein Veteran der Politik seines Landes und ebenso am Horn von Afrika. Ihm war es sehr klar, wie aufeinanderfolgende Regierungen in Khartum humanitäre Hilfe über mehr als zwanzig Jahre immer wieder behindert und manipuliert hatten und wie sie beinahe jede Runde gegen die uneinigen und ineffizienten Behörden der Vereinten Nationen und ihre westlichen Unterstützer gewannen. Pronk war stark vernetzt in der Politik und bereit, die höchsten Ebenen einzubeziehen, aber auch bis an die Basis herunterzugehen. Während seines Mandats in Khartum besuchte er Darfur mehrfach für jeweils etwa einen Monat, um mit Bewohnern und Flüchtlingen zu sprechen.

Darfur im Fokus

Das UN-Mandat und auch dasjenige Pronks umfasste den gesamten Sudan. Das bedeutete, die gesamte sechs-jährige „Interimsperiode“ zu überwachen, die in den Naivasha-Protokollen bestimmt und im „Comprehensive Peace Agreement“ (CPA) vom Januar 2005 endgültig festgelegt worden war. Die Absicht war, dass der Sudan in dieser Periode grundsätzlich umgestaltet werden sollte, mit demokratischen Wahlen, gemeinsame Machtausübung durch die ehemaligen Feinde, eine ausgeglichene Beteiligung am nationalen Reichtum, besonders an den Öleinkünften, Demarkation der internen Nord-Süd-Grenze, die Transformation der SPLA in eine politische Partei, die Errichtung einer autonomen Regierung des Süd-Sudans und schließlich, in 2011, eine Volksabstimmung über die Selbstbestimmung im Süden. Sehr zum Ärger von Pronk umfasste das Mandat nicht die Verhandlungen zwischen Khartum und den Rebellen in Darfur. Er wusste, eine ungelöste Krise in Darfur würde in fataler Weise das Friedensabkommen unterminieren. Er wusste auch, dass die Welt eine sichtbare Präsenz der Vereinten Nationen in Darfur erwartete. Aufgrund dieser beiden Einschätzungen machte er das Darfur-Problem zur Chefsache. Eine Lektion, die Pronk aus seiner langen Erfahrung mit Khartum gelernt hatte, war die, dass Hebel und Druck wenig bewirken, wenn sie nicht in einer koordinierten, konsistenten und strategischen Weise angewendet werden. [..]

Trotz all der Schwierigkeiten, begann die humanitäre Hilfsaktion Mitte 2004 volle Fahrt aufzunehmen. Der Ort der schlimmsten humanitären Krise in der Welt wurde zum Ort für die größte Hilfsaktion der Welt. Nur der Tsunami im Indischen Ozean konnte die Aufmerksamkeit kurzzeitig ablenken. Die Befürchtungen, es könne 1 Millionen Tote geben, bewahrheiteten sich glücklicherweise nicht. Nach besten Schätzungen starben in den Jahren 2003 bis 2005 in der Region etwa 150.000 Menschen an Hunger und Krankheiten. Angesichts der außergewöhnlich schwierigen Umstände, war die humanitäre Hilfsaktion bemerkenswert erfolgreich.

Bis März 2004 entfaltete sich Darfurs Krise in der typischen Art afrikanischer Bürgerkriege: unbemerkt von den internationalen Medien, mit horrendem menschlichen Elend sowie geringen diplomatischen Anstrengungen, ein auch nur moderates Hilfsprogramm in Gang zu setzen. Fast über Nacht sollte sich diese Situation ändern. Der Koordinator für humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen im Sudan, Mukesh Kapila, nannte Darfur „Genozid“ und sagte, dass der einzige Unterschied zwischen Ruanda und Darfur die Zahl der Opfer sei. Kapila verlangte internationale Truppen und ein internationales Tribunal. Kapilas Kollegen bei den Vereinten Nationen waren wenig beeindruckt und unterstützten seine provokativen Kommentare nicht. Man war besorgt, dass das Wort Genozid die Vereinten Nationen zwingen würde, nach bewaffneten Interventionen zu rufen. Das gleiche galt für das US-amerikanische Außenministerium, wo man die Regime-Wechsel-Politik der zweiten Amtszeit Clintons aufgegeben hatte zugunsten einer verstärkten Anstrengung für eine Beendigung des Nord-Süd-Konflikts im Sudan.

„Save Darfur“

In den Vereinigten Staaten war eine Massenkampagne in Gang gekommen in deren Verlauf beinahe eine Millionen Amerikaner Postkarten an Präsident Bush schrieben, in denen sie eine Intervention forderten, um den ersten Genozid des 21. Jahrhunderts zu unterbinden. Bevor noch der oppositionelle Präsidentschaftskandidat John Kerry das Thema „Genozid“ und „mangelnde Hilfe für die Menschen in Darfur“ und damit „außenpolitische und moralische Inkompetenz“ instrumentalisieren konnte, griff Außenminister Colin Powell das Thema auf. Nicht ohne sich juristisch abgesichert zu haben, dass die Genozid-Konvention keine Verpflichtung zu einer Intervention vorsah, beschuldigte er Khartum, trotz mehrfacher Warnung, die Gewalt nicht unterbunden zu haben. In Darfur habe ein Genozid stattgefunden und die Regierung des Sudan sowie die Jangawid wären dafür verantwortlich.

Colin Powell täuschte sich allerdings gewaltig, wenn er angenommen haben sollte, dass allein durch die Benutzung des „G-Wortes“ und ohne die eigentliche Politik zu ändern, die Aktivisten der Pro-Interventions-Kampagnen befriedigt und Darfur aus dem Wahlkampf hätte herausgehalten werden können. Die mediale Berichterstattung wurde zunehmend kritisch gegenüber der US-amerikanischen Außenpolitik. Die Forderung nach Intervention blieb in der Luft. Englisch-sprachige Zeitungsbeiträge stiegen von rund 50 im März 2004 auf über 1.300 im August des gleichen Jahres an.

Darfur erreicht die Titelseiten

Gegen 2005 war Darfur zum Gegenstand der größten US-amerikanischen Meinungskampagne zu Afrika seit der Anti-Apartheid-Kampagne geworden. Nur wenige hätten vorhersagen können, dass ein bis dahin unbekanntes muslimisches Gebiet, das keine historischen Beziehungen zu den USA und, das keine Bodenschätze wie beispielsweise Öl in nennenswerten Mengen hatte, in den Fokus einer solchen öffentlichen Aufmerksamkeit gelangen könnte. Jahrelang war das apolitische Hilfsprogramm im Südsudan kritisiert worden, weil es nicht in der Lage schien, die Ursachen für Hunger und Vertreibung anzugehen.

Die Reaktion auf Darfur war der Ausschlag des Pendels auf die andere Seite. Das, was von manchen Mitarbeitern von Hilfsprojekten als „Genozid-Hysterie“ bezeichnet wurde, hatte insofern einen negativen Einfluss auf die Arbeit einiger Hilfsorganisationen als diese sich mehr auf die Dokumentation des Genozids konzentrierten statt die humanitäre Hilfe an sich zu organisieren. Zu der Zeit, als die mediale Kampagne richtig Fahrt aufgenommen hatte, d. h. in den Jahren 2005 und 2006, war Gewalt bereits nicht mehr der größte Todesursache in Darfur. Die größten Todesursachen waren Darminfektionen und Malaria. Dennoch gab es Hilfsorganisationen, die nicht am Bau von Latrinen interessiert waren. Nichts außer einer Intervention wäre für diese Organisationen akzeptabel gewesen.

Dämonisierung der Araber

Im Jahre 2006 hatte „Save Darfur“ eine Werbekampagne finanziert, die die Botschaft verbreiten sollte, dass ein Genozid in Darfur verübt werde, dass 400.000 Menschen ermordet worden seien und, dass nur eine militärische Intervention den Tod vieler weiterer Menschen verhindern könne. Diese Botschaft wurde von den anderen Organisationen gar nicht gerne gehört, denn so würden die Fronten nur verhärtet und die humanitäre Arbeit behindert. Eine weitere Kritik an einem solchen Aktivismus und an fast der gesamten Medienberichterstattung richtete sich gegen die einseitige Darstellung des Konflikts als eines Genozids von Arabern an Afrikanern. In der Folge führte dies zu einer Dämonisierung der Araber und einer Verweigerung von Hilfen für arabische Flüchtlinge, die es eben auch gab. Die ersten Berichte über arabische Opfer des Krieges kamen erst im Jahre 2006, also drei volle Jahre nach Beginn des Konfliktes.

Neben der Genozid-Anklage und den Rufen nach militärischer Intervention, war der durchgängige Refrain der Jahre 2005, 2006 und 2007, dass die Dinge schlechter werden. Merkwürdigerweise korrespondieren solche Aussagen nicht mit den tatsächlichen Zahlen von Toten durch Gewalt, Hunger oder Krankheit in Darfur. Es gab ein starkes Anwachsen der Zahlen im August und September des Jahres 2003 für Nord-Darfur, von Januar bis März 2004 für West-Darfur und noch einmal später in 2004 für Süd-Darfur. Seit Anfang 2005 gab es etwa 100 Tote pro Monat, eine Zahl, die im Verlauf der Jahre 2006 und 2007 auf etwa 200 bis 300 Tote pro Monat anstieg. Ein Reuters-Bericht vom Dezember 2007 spricht von mindestens 300 Toten in ungefähr 20 Land- und Luftangriffen, die jeweils von den Vereinten Nationen dokumentiert worden waren – ein Durchschnitt von 50 Toten pro Monat. Auf der Basis von demographischen und epidemiologischen Indikatoren ginge die Sterberate wieder auf „normale“ Werte zurück. Im Verlauf des Jahres 2007 ist die Sterberate und die Unterernährung weit unter eine Notfallmarke gesunken, in einigen IDP-Lagern sogar unter die Werte vor Ausbruch des Krieges.

Helfer werden zu Zielscheiben

Mit Bezug auf Hilfsorganisationen bedeutete die Einschätzung „die Dinge werden schlechter“ die Zunahme von Angriffen auf humanitäre Helfer. Allein in 2007 ist die Zahl der Angriffe um 150% gestiegen, allein 7 Todesfälle im Monat Oktober des Jahres 2007. Die meisten dieser Vorfälle hatten einen kriminellen Hintergrund, zunehmend wurden die Angriffe auf Hilfsorganisationen aber auch politisch motiviert. Die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen wurde in der sudanesischen Presse dämonisiert und als Verschwörung gegen den Sudan portraitiert. Im Ergebnis verkleinerten die Hilfsorganisationen den Raum, in dem sie operierten, so dass weniger Menschen an Hilfslieferungen kamen. Gegen Mitte des Jahres 2007 begannen die Indikatoren für Unterernährung wieder nach oben, zum Schlechteren, zu zeigen. Die Zahl der Flüchtlinge stieg während der Jahre 2003 und 2004 sowohl als Folge von Unsicherheit als auch als Folge des Krieges stark an. Die Lebensbedingungen in Darfur waren schwer und Gesetzlosigkeit die Norm. Aber die Gleichförmigkeit mit der die Kommentatoren die sich verschlechternde Lage beschrieben, ohne jede Differenzierung in Bezug auf die riesige Fläche Darfurs und ohne Differenzierung der verschiedenen Konflikte, ignorierte und verwischte eine wesentlich komplexere Wirklichkeit.

Aktivisten und hochrangige Beamte der Vereinten Nationen, allen voran Jan Egeland, Koordinator für die Nothilfe, verlauteten eindringliche Warnungen hinsichtlich derjenigen, die „jenseits der Hilfsmaßnahmen“ seien. Aber in vielen, für internationale Organisationen „No-Go-Areas“ ging es der lokalen Bevölkerung, also denen, die „jenseits der Hilfe“ waren, vergleichsweise gut. Sie litten weder an Hunger noch waren sie andauernden Angriffen ausgesetzt. Vielmehr bauten sie ihre Gemeinschaften wieder auf, initiierten lokale Versöhnungstreffen mit ihren arabischen Nachbarn und kümmerten sich wieder mit dem Wenigen, was zur Verfügung stand um ihren Alltag. Kliniken, die von ausländischen Helfern verlassen worden waren, funktionierten weiterhin. Die Hauptschule in Ain Siro im Norden Darfurs wurde nicht nur ohne UNICEF-Gelder weitergeführt, es wurde sogar eine Abschlussfeier für die Schüler und Schülerinnen organisiert. Mehrere hundert Schüler und Schülerinnen wurden mit Handschlag verabschiedet, empfingen ein Diplom und konnten sich eine Theateraufführung anschauen, in der eine verliebte junge Frau den Widerstand ihrer Eltern besiegen und schließlich den Mann ihres Herzen gewinnen konnte. Die anwesenden Rebellenführer, die an der Zeremonie teilgenommen hatten, meinten, dass sie weniger Hilfe als Frieden bräuchten.

In dem Augenblick, als die Themen „Genozid“ und „die Dinge werden schlechter“ etabliert waren, konnten sie auch nicht mehr zurückgenommen werden. Im Mai 2006 eröffnete die Washington Post mit der Schlagzeile „Immer noch ein Genozid: es sollte keinen Zweifel über Darfur geben.“ In den Monaten August und September 2006 stiegen die Vorhersagen eines unmittelbar bevorstehenden Desasters lawinenartig an. Hintergrund waren die Behinderungen der Truppen der Vereinten Nationen durch Khartum und das Ende des Mandats für AMIS (Mission der Afrikanischen Union in Sudan) am 30. September 2006. Am 5. September erzählte der Aktivist Eric Reeves einem Reporter, dass die Regierung in Khartum dabei sei, alle ausländischen Zeugen loszuwerden, da eine finale „Schlacht“ geplant sei – „eine genozidale Black Box“. [1] Laut Reeves gäbe es etwa 10.000 Tote pro Monat im Zusammenhang mit dem Konflikt in Darfur. Beamte der Vereinten Nationen vor Ort schätzten dagegen die Zahl der Toten durch Gewalt auf etwa 200 pro Monat. Die Sterblichkeit wegen Hungers und Krankheiten war den Werten vor dem Krieg vergleichbar und in absoluten Zahlen weit von Notfallgrößen entfernt.

Die Auschwitz-Keule

Am 14. September 2006 sprach der US-amerikanische Schauspieler und Aktivist George Clooney auf Einladung seiner Regierung vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen:

„Meine Aufgabe ist es heute, sie im Namen der Millionen Menschen, die Sterben werden – und seien sie versichert, sie werden sterben – zu bitten, tatsächliche und effektive Maßnahmen zu ergreifen, all diesem ein Ende zu bereiten. Natürlich ist es komplex, aber wenn man ganze Dörfer sieht, die vergewaltigt und getötet, Brunnen, die vergiftet und dann mit den Körpern der Dorfbewohner gefüllt worden sind, dann verschwinden alle Komplexitäten und nur die Frage nach richtig und falsch bleibt.
Nach dem 30. September [dem Ende des AMIS-Mandats, Red.]wird man die Vereinten Nationen nicht mehr brauchen. Man wird einfach Menschen mit Schaufeln und weißen Leinentüchern und Grabsteinen brauchen. Es ist in vielerlei Hinsicht nicht fair, aber nichtsdestotrotz wahr, dass dieser Genozid während Ihrer Amtszeit passieren wird. Wie Sie damit umgehen wird ihr Erbe bleiben – ihr Ruanda, ihr Kambodscha, ihr Auschwitz.“
[2]

Als ein Jahr später Andrew Natsios einem Senatsausschuss der Amerikaner mitteilte, dass die Situation in Darfur komplex sei und, dass das Genozid-Etikett nicht passen würde, ja sogar wenig hilfreich sei, wurde er von Senator Robert Menendez nur gefragt, ob er die Situation in Darfur für einen Genozid halte, ja oder nein. Sechsmal wiederholte der Senator diese Frage und überging bewusst oder unbewusst alle Versuche von Natsios, sich solcher Simplifizierung zu erwehren. [3]

Fußnoten
  1. Craig Timberg: Sudan’s Offensive Comes at a Key Time. Washington Post, 5. September 2006.
  2. http://www.americanrhetoric.com/speeches/georgeclooneyunitednations.htm
  3. Transcript: US Natsios, Senator Menendez Clash over Darfur, Sudan Tribune, 16. April 2007.
* Der Beitrag ist eine redaktionell bearbeitete Zusammenfassung des Abschnitts „International Reaction“ (S. 167 bis 199) aus dem Buch von Julie Flint und Alex de Waal: Darfur. A New History of a Long War. Revidierte und aktualisierte Ausgabe, Zed Books, London, 2008. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Aus dem Englischen von Christopher Hayes.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 58/Sommer 2009, 15. Jahrg., Seiten 20-25

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