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Darfur (Sudan): Genozid: Ja oder Nein - Der Streit um die Toten

Auszüge aus Mahmoud Mamdani: Saviors and Survivors (deutsche Übersetzung)

Das Buch "Saviors and Survivors, Darfur, Politics, and the War on Terror" von Mahmoud Mamdani gehört zu den Aufsehen erregenden neuen Publikationen über die Konfliktregion Darfur im westlichen Sudan. Das Buch ist bisher nur im Englischen erschienen. Norbert Mattes hat Auszüge daraus für die Veröffentlichung in der Zeitschrift "inamo" ins Deutsche übersetzt. Wir dokumentieren im Folgenden die Textauszüge.


Der Darfur-Konflikt und der Konflikt im Südsudan

Die Save Darfur Coalition, die aus vielen afroamerikanischen und christlichen Gruppierungen besteht, versucht den Konflikt in Darfur durch die Brille des Südsudans zu sehen, als eine Verlängerung ihrer früheren Solidaritätsarbeit im südlichen Sudan. „Dies gilt auch für viele afrikanische Gruppen, die in der Darfur-Solidarität aktiv sind, wie das in Kampala ansässige Darfur Consortium, das 2005 auf einer Konferenz in Südafrika gegründet wurde. Einfach ausgedrückt, sah die Kampagne Darfur nur als eine andere Version des südlichen Sudans, wo die Täter Araber waren und die Opfer Afrikaner oder Schwarze, wobei der Antagonismus zwischen den beiden seinen Ursprung in der Geschichte der vorkolonialen Sklaverei hat und von tief sitzenden rassistischen Vorurteilen geprägt ist. Aber die Analogie mit dem Nord-Süd-Konflikt ist extrem irreführend, und zwar aus sechs Gründen:

1. Der historische Hintergrund ist unterschiedlich. Während die Sklaverei im Südsudan eine arabische Institution war, die sich im Kontext des Funj-Sultanats entwickelte, war das bei der Sklaverei in Darfur nicht der Fall. […] die Sklaverei in Darfur entwickelte sich im Kontext der Expansion des Dar Fur-Sultanats (ab 1650). Es war primär eine Fur-Institution, in der die Baggara-Stämme (Viehzüchter) des südlichen Darfur als Juniorpartner involviert waren, aber nicht die Abbala-Stämme (Kameltreiber) des Nordens von Darfur […]

2. Hinsichtlich der historischen Konstellation und der politischen Orientierung gibt es einen enormen Unterschied zwischen den arabischen Stämmen in der Nilgegend – mit ihrer privilegierten Identifizierung mit der Macht, angefangen mit dem Funj-Sultanat – und den arabischen Stämmen von Darfur, deren Verhältnis zur Macht und deren soziale Stellung seit der Zeit des Dar Fur-Sultanats stets marginal gewesen ist.

3. Während der Konflikt im Südsudan sich in Form eines Aufstandes gegen die Zentralregierung entwickelte, begann der Konflikt in Darfur als Bürgerkrieg zwischen sesshaften („nicht-arabischen“) und nomadischen (sowohl „arabischen“ als auch „nicht-arabischen“) Stämmen (1987–1989). Während dieses inneren Konflikts beschuldigte eine Seite die andere des „Genozids“, während die andere Seite behauptete, das Ziel eines gewalttätigen „einheimischen“ Bestrebens zu sein, die Siedler vom Land zu vertreiben. In der Tat sprach der Repräsentant der sesshaften Stämme während der Versöhnungskonferenz in El Fasher im Jahr 1989 nicht nur von einem „Genozid“, sondern sogar von einem „Holocaust“. 4. Während die westlichen Mächte seinerzeit im Südsudan erst im Laufe des Konflikts darin verwickelt wurden […] waren sie von Anfang an direkt an der Militarisierung des Bürgerkriegs von 1987 bis 1989 beteiligt.

5. Die Janjawid entstanden während dieses Bürgerkriegs, noch lange vor dem Aufstand und dem Gegenaufstand von 2003 bis 2004. Die Janjawid sind ein nomadisches Phänomen, kein „arabisches“. Geboren aus der Not und dem politischen Kampf, zieht sich dieses Phänomen durch die gesamte Sahelzone, von Darfur über den Tschad bis zur Zentralafrikanischen Republik und darüber hinaus. Die Janjawid sind keine einzelne geschlossene Kraft, sondern eine Art geächteter Banden. Diese geächteten Nomaden entwickelten sich aus der Krise des Nomadentums vor dem Hintergrund einer kolonialen Macht, die dem Nomadentum feindlich gesonnen war, und einer sich hinziehenden Dürre, die die Region im Laufe von vier Jahrzehnten verwüstete. Die Allianz zwischen den Janjawid und der Regierung in Khartum beschränkte sich auf den Gegenaufstand von 2003¬ 2004, aber Save Darfur machte es zu einem permanenten Charakteristikum ihrer Schilderung, dass ‚der Genozid in Darfur andauert‘.

6. Es gibt keine geradlinige Verbindung zwischen dem Gegenaufstand im Südsudan und dem in Darfur. Der Gegenaufstand im Südsudan wurde in der Tat unter dem Turabi-Flügel der islamistischen Regierung organisiert, die 1989 an die Macht kam. Nicht nur wurden viele der Mujaheddin (des Gegenaufstands) im Südsudan aus den Islamisten in Darfur rekrutiert, ihr politischer Kommissar, Khalil Ibrahim, sollte später eine der zwei Rebellenbewegungen in Darfur organisieren, die Justice and Equality Movement (JEM, Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit), und sie anführen. Im historischen Sinn war die JEM – und nicht die Janjawid – ein Abkömmling derjenigen, die den Gegenaufstand im Südsudan anführten und an ihm teilnahmen, und die anschließend wegen ihrer Marginalisierung in der islamistischen Allianz in Khartum enttäuscht waren.“ […]

Die politische Dimension von Save Darfur ist am besten im Kontext des Kriegs gegen den Terror zu verstehen. Da die Verbrechen in Darfur „Arabern“ zugeschrieben werden – die bereits erfolgreich durch den Krieg gegen den Terror dämonisiert worden sind –, war es leicht, diese Verbrechen als „Genozid“ zu dämonisieren. Diese Aussage beruht wahlweise auf einer weitgehenden Missachtung des historischen und zeitgenössischen Kontextes oder der Motivation, die durch Letzteren geprägt ist. […] Der Konflikt hat sich über zwei Achsen entfaltet: Während sich im Konflikt entlang der Nord-Süd-Achse die nördlichen(„arabischen“) landlosen Stämme mit den südlichen („nicht-arabischen“ oder „schwarzen“) Stämmen mit viel Land gegenüberstehen, fand der Konflikt entlang der Süd-Süd Achse zwischen den Stämmen mit viel Land und denen ohne Land statt, wobei beide Seiten zum Süden gehörten und „Araber“ waren. Es ist der Arbeit der Save Darfur-Aktivisten zuzuschreiben, dass der Konflikt entlang der Süd-Süd-Achse verschleiert worden ist und der Konflikt in Darfur exklusiv mit der Nord-Süd-Achse identifiziert wird; dadurch stellen sie ihn als Rassenkonflikt zwischen „Arabern“ und „Schwarzen“ dar und verschleiern die Landfrage, die in dem Konflikt eine Schlüsselrolle gespielt hat.[…]

Die Arabisierung der Gewalt in Darfur – der Janjawid insbesondere und des Gegenaufstands im Allgemeinen – erklärt sich weniger durch die Geschichte von Darfur als durch die Logik des Kriegs gegen den Terror. Die harte Wahrheit ist, dass der Krieg gegen den Terror die Koordinaten, die Sprache, die Bilder und die emotionale Haltung für die Interpretation von Darfur geliefert hat.“

Mahmoud Mamdani, Saviors and Survivors, Darfur, Politics, and the War on Terror, Phanteon Books New York, 2009. Zitate von den Seiten 68 ff.

Genozid: Ja oder Nein - Der Streit um die Toten

Professor Hagan von der North-Western University ist einer der zwei führenden Autoren der CIJ (Coalition for International Justice, finanziert von der US-Regierung). „War Hagan der zuverlässigste Datensammler unter den individuellen Menschenrechtlern, so war Dr. Eric Reeves, Professor für Literatur am Smith College, der fleißigste. In seinem Blog führte Reeves kontinuierlich Buch über die Toten in Darfur und aktualisierte die Zahlen meistens wöchentlich, aber manchmal auch mehrmals pro Woche. Man betrachte nur seine Zählung für die Jahre 2004, 2005 und 2006; Reeves lieferte einen beständigen Anstieg für das Jahr 2004: Am 1. Februar waren es 10 000, vier Tage später 30 000 (5. Februar 2004), drei Monate später 50 000 (12. Mai) und im Folgemonat 80 000 (11. Juni). Seine Schätzungen der Todesfälle für die zweite Hälfte des Jahres 2004 waren noch dramatischer: 100 000 am 28. Juni, 120 000 am 6. Juli, 150 000 am 21. Juli, 180 000 am 13. August, 200 000 am 27. August, 300 000 am 12. Oktober, 335 000 am 16. November, 370 000 am 12. Dezember und 400 000 am 29. Dezember.

Im Jahr 2005 begann Dr. Reeves unerklärlicherweise seine Schätzungen der Todeszahlen nach unten zu korrigieren. Nachdem er am 10. Februar bekanntgegeben hatte, dass die Todesfälle in Darfur sich inzwischen auf 340 000 beliefen, setzte er die Zahl am 17. Februar auf 300 000 herab. Am 14. Juli gab er widerwillig zu, dass er mit seiner nach unten korrigierten Zahl auf die von der WHO herausgegebenen niedrigeren Schätzungen reagiert hatte.

Im Jahr 2006 belief sich Dr. Reeves erste Schätzung der Todeszahlen auf 400 000 (am 14. Januar), die er am 20. Mai auf 450 000 und am 24. Juni auf 500 000 erhöhte. Fünf Monate später wurde die Zahl wiederholt – „um die 500 000“ (am 26. November) […] Dann folgte eine weitere Herabsetzung der Schätzungen auf 400 000 (Mai 2007). Diesmal lieferte Reeves keine Erklärungen dafür, warum seine Schätzung der Todeszahlen innerhalb eines Jahres um ein Fünftel gefallen war, von „bis zu 500 000“ am 24. Juni 2006 auf 400 000 am 2. Mai 2007. (Quellen, siehe FN Seite 304-306) Wie wir bald sehen werden, war diese Korrektur nach unten eine direkte Folge scharfer Kritik an Reeves, Hagan und der Save Darfur Coalition vonseiten einer Institution der US-Regierung.[…]

Im August 2004, kurz nach den Wahlen im US-Kongress, veröffentlichte die World Health Organization (WHO) ihre Erhebungen der Sterblichkeitsrate in Darfur. Die Zahlen waren ein Schlag gegen die offizielle US-Linie. Erstens schätzte die WHO die Zahl der Toten in Darfur auf 50 000 innerhalb der achtzehn Monate der Krise, die im Februar 2003 begonnen hatte. Obwohl sie die Zahl später auf 70 000 anhob […]. Zweitens argumentierte die WHO, dass die meisten Toten keine unmittelbaren Opfer von Gewalt gewesen seien. Tod aufgrund von Gewalt wurde nur bei einer spezifischen Altersgruppe hervorgehoben – „unter Erwachsenen zwischen 15 und 49 Jahren“ – aber nicht quer durch alle Altersgruppen. Allein diese Erhebung stellte die Hypothese eines Genozids infrage. Tatsächlich hielt die Studie fest, dass „die im Rahmen der Erhebung berichtete Haupttodesursache Diarrhöe war“, was auf „die schlechten sanitären Anlagen“ zurückzuführen sei.

Der im April 2005 veröffentlichte Bericht der CIJ (Coalition for International Justice) behauptete, dass seit Beginn des Konflikts 396 563 Menschen in Darfur gestorben seien. […] Auf diese Zahl beriefen sich sowohl das U.S. State Department als auch die Mehrzahl der humanitären Gruppen und Menschenrechtsorganisationen, um die Dringlichkeit einer internationalen Reaktion zu unterstreichen. Die WHO brachte einen Monat später eine aktualisierte Schätzung heraus: Laut dieser Schätzung belief sich die Gesamtzahl der Toten während der sechsmonatigen Periode von März bis September 2004 auf zwischen 45 000 und 80 000, und die Zahl der Kriegstoten auf zwischen 35 000 und 70 000. Gemäß dem Centre for Research on the Epidemiology of Disasters (CRED), das der WHO angegliedert ist, beläuft sich die Zahl der Kriegstoten von September 2003 bis Januar 2005 auf 118 142. Allem Anschein nach unzufrieden mit der Genauigkeit der CIJ-Studie, die es selbst finanziert hatte, stellte das State Department seine eigene Schätzung der Kriegstoten zusammen, und zwar „für interne politische Zwecke“. Gemäß dieser Schätzung, die eine etwas längere Periode abdeckt, von März 2003 bis Januar 2005, beläuft sich die Zahl der Kriegstoten auf zwischen 63 000 und 146 000.“

Mahmoud Mamdani, Saviors and Survivors, Darfur, Politics, and the War on Terror, Phanteon Books New York, 2009. Zitate von den Seiten 25, 26, 28.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 58/Sommer 2009, 15. Jahrg., Seiten 21f und S. 23

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