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Kuchen, nicht nur Krümel

Jahresrückblick 2012. Heute: Südafrika. Spätestens mit dem Massaker von Marikana begann der Klassenkampf

Von Christian Selz, Kapstadt *

Für Südafrikas regierenden African National Congress (ANC) begann das Jahr 2012 in Feierlaune. Intern von tiefen Gräben gespalten, trafen sich Großkopferte wie Fußvolk der ältesten Befreiungsbewegung Afrikas zum 100. Geburtstag der Partei. Am Gründungsort Mangaung, dem früheren Bloemfontein, ließ die große Volkspartei im Januar keinen Zweifel an ihrer in den vergangenen zwei Dekaden gewonnenen Distanz zur südafrikanischen Arbeiterklasse – angefangen mit einem Golfturnier zur Eröffnung. »Und diejenigen, die kein Champagnerglas haben: Immerhin habt ihr Kameras in euren Händen«, rief Kgalema Motlanthe, damals noch ANC-Vizepräsident, den zum Ende der Feier noch verbliebenen Parteianhängern im Stadion zu. Tausende waren da längst gegangen, eingeschläfert von den immer gleichen Phrasen von einer besseren Zukunft, oder sie waren, entkräftet von der sengenden Sonne, gleich ganz kollabiert. Während auf der Bühne edle Tropfen sprudelten, fehlte es auf den Rängen an Wasser. Wochen später debattierte die Parteiführung gar allen Ernstes darüber, ob es sich schicke, vor hungrigen Zuschauern dicke Tortenstücke zu verschlingen. Eine Sprecherin entschuldigte sich schließlich und gab bekannt, daß man Kuchen zukünftig nur noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu vertilgen gedenke. Die Symbolik täuscht nicht: Südafrikas Politik ist im Jahr 2012 dreister und ignoranter geworden. Der lange versprochene Wohlstand ist für die Massen nur zum Gucken da, nicht zum Anfassen.

Nirgends wurde das im vergangenen Jahr so deutlich wie an den Bergwerken des Landes. In den tiefen südafrikanischen Schächten lagern bedeutende Goldvorkommen und überwältigende 80 Prozent der weltweit bekannten Platinressourcen. Vor den Toren der Minen erstrecken sich dagegen unvorstellbare Elendssiedlungen, windschiefe Wellblechhütten ohne Wasser und Abwasserentsorgung – die Unterkünfte der Kumpel. Es fehlt an Freizeitangeboten, Schulen, medizinischer Versorgung, an Zukunft und an Hoffnung.

Vor diesem Hintergrund entzündete sich im Januar 2012 nahe der Stadt Rustenburg, 120 Kilometer nordwestlich von Johannesburg, ein Arbeitskampf, der Südafrika bis zum Jahresende in Atem halten sollte. 17200 Kumpel, die gesamte Belegschaft der weltgrößten Platinmine, wehrten sich gegen einen internen Spaltungsversuch, bei dem eine Kategorie der Bergleute 18prozentige Lohnerhöhungen bekommen und der Rest leer ausgehen sollte. Sie gingen geschlossen in den Streik – gegen den Willen der Bergbaugewerkschaft NUM, ungeschützt und somit am Ende doch allein und aussichtslos. Impala Platinum, zweitgrößter Platinförderer der Welt, blieb hart, entließ die Arbeiter und drohte, bei einer Wiedereinstellung sogar die über Jahre erworbenen, mickrigen Bonusansprüche der Kumpel zu streichen. Ohne Unterstützung mußten die Bergarbeiter nach mehr als fünf Wochen aufgeben, doch der Grundstein zur Revolte war gelegt.

Der Sturm folgte im August. In Marikana, nicht weit von Rustenburg, traten die Bergarbeiter des Lonmin-Konzerns in einen »wilden Streik«. Wieder stand die NUM auf Seiten der Bosse, wieder setzte das Unternehmen auf Konfrontation, doch dieses Mal explodierte Südafrikas soziale Bombe. Nach einer Woche gewalttätiger Auseinandersetzungen, bei der bereits zehn Menschen ums Leben gekommen waren, eröffneten bis an die Zähne bewaffnete Polizeikräfte aus halbautomatischen Gewehren das Feuer auf eine Versammlung der Streikenden. Vor laufenden Fernsehkameras sackten innerhalb von Sekunden Dutzende Kumpel getroffen zusammen. Die Welt war schockiert, Vergleiche mit blutig niedergeschlagenen Demonstrationen gegen die Apartheid kamen auf, die sozialistische Oppositionspartei ­AZAPO erinnerte an das Massaker an den Schülern von Soweto 1976. Wie richtig sie damit lag, wie nahe die Methoden der neuen, demokratischen Polizeiherrschaft denen der alten Unterdrücker waren, stellte sich in den folgenden Wochen und Monaten heraus. Die Mehrheit der 34 erschossenen Demonstranten – unter denen nicht nur Bergarbeiter sondern auch viele Sympathisanten aus den verarmten Minensiedlungen waren – lag auf einem Hügel, rund 300 Meter von der Konfrontationslinie entfernt. Ihre Schußwunden, vor allem im Rücken, deuteten auf Exekutionen aus nächster Nähe hin. Es tauchten Bilder auf, die belegten, daß die Polizei den Erschossenen deren traditionelle Waffen – Speere und Macheten – erst nach ihrem Tod in die Hand gedrückt hatte. Und es tauchten E-Mails auf, in denen Cyril Ramaphosa, ANC-Schwergewicht, Held des Freiheitskampfes und heute Teil der Forbes-Liste der reichsten Geschäftsleute Afrikas, in seiner Rolle als Vorstandsmitglied von Lonmin bei Regierung und Polizeiführung ein härteres Durchgreifen gegen die »Kriminellen« forderte. Das war einen Tag vor dem Massaker. Vier Monate später wählte der ANC Ramaphosa zu seinem Vizepräsidenten.

Der Regenbogennation Südafrika ist ihr moralischer Kompaß abhanden gekommen. Die Revolutionsrhetorik der Regierungsallianz aus ANC, Südafrikanischer Kommunistischer Partei (SACP) und Gewerkschaftsbund ­­COSATU, dessen Rückgrat die NUM bis zu den Streiks war, kann den Klassenkampf gegen das eigene Volk nicht mehr verhüllen. Die staatstragenden Gewerkschaften haben inzwischen jede Glaubwürdigkeit verloren, und mit ihnen schwindet der Einfluß des ANC auf seine zunehmend ungeduldige Basis. An den Minen geht es längst nicht mehr nur um höhere Löhne als die vor dem Streik üblichen 400 bis 600 Euro monatlich. Die Bergleute wollen das, worauf die Mehrheit der Südafrikaner seit dem Ende der Apartheid 1994 vergeblich wartet: bessere Lebensbedingungen, Menschenwürde und Perspektiven für ihre Kinder. »Alles, was ich tun konnte, war, meine Kinder zur Gesamtschule zu schicken und ihnen dann einen Job in den Minen zu organisieren«, zitiert die Wochenzeitung Mail&Guardian einen der streikenden Kumpel Impalas. Nach Abzug aller monatlichen Kosten reiche das Geld einfach nicht, um für eine Hochschulbildung zu sparen. Die traditionell kämpferischen Bergarbeiter haben nur den Anfang gemacht, die soziale Lawine rollt und wächst.

Im November gingen erstmals in der 350jährigen Geschichte kolonialistischer Ausbeutung, die im Prinzip bis heute anhält, die Farmarbeiter im Westkap auf die Barrikaden. Tausende Hektar Weinfelder verbrannten, wieder fielen Schüsse, zwei Landarbeiter starben für die Forderung nach 150 Rand (13 Euro) Tageslohn. Der derzeitige monatliche Mindestlohn liegt bei 130 Euro, doch Arbeiter berichten von teilweise noch niedrigeren Gehältern. Um die Felder herum liegen die gleichen Armensiedlungen wie an den Minen. Es sind die gleichen Probleme, die gleiche Perspektivlosigkeit, die gleiche Ausbeutung für einen Profit, von dem die Bosse ihr Nachwuchs auf Privatschulen schicken. Die Kinder der Arbeiter haben hingegen immer nur die Zukunft, so zu schuften wie ihre Eltern. Eine Chance auf Wohlstand haben sie nicht.

Die Streiks sogar ausgenommen, hat es in Südafrika in keinem Jahr seit dem Ende der Apartheid so viele gewalttätige Sozialproteste gegeben wie 2012. Fast wöchentlich brennen in dem 50-Millionen-Einwohner-Land Reifen auf den Straßen, kämpfen verzweifelte Arme in einer Wolke von Tränengas und im Hagel von Gummigeschossen für das »bessere Leben für alle«, das der ANC seit 1994 auf Wahlplakaten verspricht. Doch die allmächtige Regierungspartei ist zu beschäftigt mit sich selbst, um ernsthaft Probleme zu lösen. Nach einem Jahr schmutziger Grabenkämpfe, interner Querelen und von Manipulationsvorwürfen begleiteter Nominierungsversammlungen wählte der ANC schließlich den für Marikana verantwortlichen Staatspräsidenten Jacob Zuma auch für eine zweite Amtszeit an die Parteispitze. Scheinbar unantastbar läßt sich dieser gerade mit umgerechnet 20 Millionen Euro Steuergeldern seinen ländlichen Palast ausbauen, in weiser Voraussicht gleich mit Bunker. Denn die Arroganz des ANC ist auch Südafrikas Chance zum Wandel. Immer mehr Menschen im Land erkennen, daß der immer rigidere Sicherheitsstaat der einstigen Befreier nicht den wirtschaftlichen Wandel bringt, den sie sich erhofft hatten. Der ANC hat die Köpfe an den Hebeln der Macht ausgetauscht, das System aber ist geblieben. Die Revolte dagegen wird allerdings nicht über Nacht kommen. Südafrikas Arbeiterklasse hat keine fertigen Alternativen. Zudem ist die Loslösung vom ANC, mit dem das Monster Apartheid erst vor 18 Jahren niedergerungen worden war, für viele ein langer, schmerzhafter Prozeß. Doch der erste Schritt zu sozialer Gerechtigkeit ist spätestens seit Marikana gemacht. Der Kampf um den großen Kuchen hat begonnen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. Januar 2013


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