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"Selbstbild und Selbstachtung beschädigt"

Südafrika kämpft mit dem Erbe der Apartheid und mit Korruption. Ein Gespräch mit Mamphela Ramphele


Die Ärztin Mamphela Ramphele war eine der führenden Kräfte des südafrikanischen Black Consciousness Movement, in den siebziger und achtziger Jahren eine der einflußreichsten Antiapartheidbewegungen neben dem heute regierenden African National Congress. Ramphele war später Direktorin der Weltbank in Washington und lebt heute in Kapstadt.


Das Gemälde »Der Speer«, auf dem der Weiße Brett Murray Präsident Jacob Zuma nackt darstellte, hat in Südafrika in diesem Jahr heftige Debatten verursacht. Zumas Anwalt, der vor Gericht argumentierte, das Bild sei rassistisch, brach in Tränen aus, als der Richter ihn aufforderte, seine Sicht zu begründen. Welche Rolle spielt Rassismus noch in den Köpfen der Südafrikaner?

Die kurze Antwort ist, daß die Südafrikaner sich im Übergang von der Apartheid zur Demokratie nicht die Zeit genommen haben, zu verstehen, was passiert ist und welche Auswirkungen über 300 Jahre Rassismus auf sie hatten. Aber es wurde auch wenig darauf geachtet, was es heißt, eine moderne Demokratie zu regieren. Ich zögere zu akzeptieren, daß der Anwalt wegen des implizierten Rassismus des Richters geweint hat, denn dessen Fragen waren nicht unangemessen. Der gleiche Maler hat die weiße Oppositionsführerin Helen Zille nackt gemalt. Warum war das nicht rassistisch oder sexistisch? Vorschnelle Schlüsse sind Symptome einer großen Krankheit in unserer Gesellschaft. Wir sind eine Nation, die nicht herausgefunden hat, wie sie mit Meinungsfreiheit auf der einen Seite, mit dem Schutz persönlicher Würde auf der anderen und mit Unterschieden umgehen soll. Eine sehr komische Situation in Südafrika nach 18 Jahren Demokratie: Eine dominante Regierungspartei fühlt sich immer noch wie ein Opfer.

Ist das nur politische Strategie oder ein tatsächlicher Geisteszustand?

Es gibt verschiedene Ebenen. Wenn Sie einfache Menschen in den Townships Walmer oder Zwide nehmen: Da ist es nicht nur ein Geisteszustand, es ist eine Realität, daß das unter¬drückerische, diskriminierende System der Vergangenheit sich weiterhin auf sie auswirkt. Das Erbe dieses Systems wiegt viel schwerer, als wir einsehen wollen. Es hat das Selbstbild und die Selbstachtung der Menschen beschädigt. Sie leben in einer Realität sozio-ökonomischer Hindernisse, verursacht durch mangelnde Bildung, nicht akkumuliertes Kapital und die fehlende Selbstsicherheit, da ohne die Hilfe der Regierung herauszukommen. Bei der Befreiung ging es nicht nur darum, weiße Gesichter durch schwarze zu ersetzen. Es sollte eine radikale Transformation sein. Wir können heute nicht mehr den Apartheidministerpräsidenten Hendrik Verwoerd für den armseligen Zustand unseres Bildungssystems verantwortlich machen. Wir dürfen eine Mehrheitsregierung nicht aus der Verantwortung lassen, nur weil sie ein Opfer der Vergangenheit ist.

Welche Rolle spielt die Befreiung des Geistes ehemals Unterdrückter bei der Armutsbekämpfung?

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß man aus einem rassistischen, sexistischen System kommend, nicht einfach frei werden kann, indem man Freiheitslieder singt. Wir müssen einsehen, daß alle Südafrikaner – schwarze und weiße – verwundet sind. Der Unterlegenheitskomplex, den schwarze Menschen damals hatten und heute noch haben, behindert unsere Möglichkeiten zum Wandel. Anstatt daß unsere Lehrer sagen: »Ich weiß nicht, wie ich Mathe machen soll« sagen sie »Ich bin ein unterdrückter schwarzer Lehrer«. Oder »Ich bin ein unterdrückter schwarzer Präsident«. So weit geht das bei Zuma.

Sind schwarze Südafrikaner ausreichend in die Verwaltung ihres Landes eingebunden?

Südafrika bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, weil es entmachtete Bürger hat. Die Menschen wissen einfach nicht, was es heißt, frei zu sein. Und ich meine nicht nur Schwarze. Wir haben über 300 Jahre in einem autoritären System gelebt. Opfer vermeiden es, Verantwortung zu übernehmen, weil sie keine Selbstsicherheit haben. Also setzen wir unsere Erwartungen sehr gering an, ob in der Bildung, bei den öffentlichen Diensten, überall. Die andere Seite des Versagens ist: Wir haben einen ineffektiven, korrupten Staat. Korrupt! Bis zum Kern. Es ist ein einziges Plündern, weil im öffentlichen Dienst ein Gefühl der Straflosigkeit existiert. Es gibt ja keinen Widerstand von Bürgern dagegen. Unsere Regierung nach 1994 hat die Ideale der Revolu¬tion verraten. Herr Zuma setzt nur eine lange Reihe gescheiterter Regierungen fort, die fundamental Rechte und Würde einfacher Bürger mißachten.

Interview: Christian Selz

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. Dezember 2012


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