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Südafrika ohne seinen Freiheitspionier

Die Enttäuschung über die heutige politische Führung des Landes wird in diesen Tagen besonders spürbar

Von Armin Osmanovic, Johannesburg *

Seit jenem Donnerstagabend vergangener Woche, als die Nachricht vom Tod Nelson Mandelas bekannt wurde, nimmt Südafrika Abschied vom größten Sohn des Landes, dem »Vater aller Südafrikaner«.

Noch am Abend seines Todes strömten die ersten Trauernden zu seinem Haus im Johannesburger Stadtteil Houghton, um »Tata Madiba« und seiner Familie nahe zu sein. Seither kommen täglich Trauernde an diesen Ort in einem wohlhabenden Viertel Johannesburgs. »An den ersten Tagen überwog die Trauer. Jetzt wird mehr getanzt«, berichtet Sisiwe Maeko, die erst in der kommenden Woche wieder zur Arbeit gehen will, nachdem Mandelas sterbliche Hülle am Sonntag in seinem Heimatort Qunu beigesetzt sein wird.

Sisiwe, 27 Jahre alt, ist Angestellte der Stadt Johannesburg. Sie gehört zu jenen, die in diesen Tagen frei haben. Die Stadtverwaltung zeigt Verständnis. Die Mehrheit der Südafrikaner geht natürlich weiter ihrer Arbeit nach. Auch Sisiwe will nicht nur Mandela ehren: Sie nutzt zugleich die Gelegenheit, Geschäfte zu machen. Sie verkauft kalte Getränke an die Trauerpilger. »Ich verdiene als Angestellte der Stadt umgerechnet 750 Euro im Monat, hier kann ich mir was dazuverdienen. Das brauch ich dringend, denn das Leben ist teuer in Johannesburg.« Dabei zeigt sie nicht ohne Stolz auf den japanischen Kleinwagen, mit dem sie den Getränkenachschub transportiert.

Südafrikaner aller Hautfarben suchen den letzten Wohnort des großen Freiheitskämpfers auf, um dort Blumen niederzulegen. Aber auch viele ausländische Besucher, darunter eine Gruppe von Afroamerikanern, die gerade an einer Konferenz in Johannesburg teilnehmen, erweisen Mandela Respekt.

Die Menschen tanzen und stimmen Lieder des südafrikanischen Freiheitskampfes an, bis es immer wieder ganz still wird:. Man weint, umarmt und drückt einander ganz fest. Schließlich ertönt die Nationalhymne »Gott schütze Afrika«. Das gleiche Bild am Tag der großen Gedenkfeier im Stadion »Soccer City«: In Johannesburg regnet es in Strömen, doch am Haus Mandelas weicht die Besucherschar nicht.

Eine Kindergartengruppe aus dem Stadtteil Kensington will am Morgen von ihrem »Tata Madiba« Abschied nehmen. Die Kleinen in roten T-Shirts recken stolz Blumen für ihren Großvater, wie sie ihn nennen, in die Höhe. Sie kennen Mandela nur von Bildern, trat er doch seit vielen Jahren kaum noch öffentlich in Erscheinung. Zuletzt sah man ihn 2010 bei der Abschlussfeier der Fußballweltmeisterschaft.

In Alexandra, dem ältesten Township Südafrikas, wo Mandela als junger Mann von Anfang 20 gewohnt hatte, herrscht an diesem verregneten Tag Tristesse. Kein Schild weist den Weg zu seinem ehemaligen Haus in der 7. Avenue. Nur eine versteckte Tafel und seine groß an die Mauer geschriebene Häftlingsnummer 46664, die er viele Jahre auf der Gefängnisinsel Robben Island vor Kapstadt trug, erinnern an Südafrikas ersten demokratisch gewählten Präsidenten.

Das Gedenkmuseum auf der anderen Straßenseite ist verschlossen. Der Bau, vor mehreren Jahren begonnen, ist halb fertig. Niemand legt hier Blumen in Gedenken an Madiba nieder. In Alexandra sitzt man, geschützt vor dem Regen, zu Hause vor dem Fernseher und verfolgt die Gedenkfeier oder man ist bei der Arbeit, so man eine hat.

In einer unweit gelegenen Townshipkneipe mit dem Namen »KO-Nine« in der 9. Straße, sitzen neben der Bedienung nur eine junge Frau und zwei junge Männer vor dem Fernseher. Auch sie verfolgen die Gedenkfeier im Stadion in Soweto. Der gefühlte Höhepunkt, der Auftritt von USA-Präsident Barack Obama, ist schon lange vorbei. Nun schaut man – mangels Alternative – gelangweilt den anderen Rednern zu. Auch im Stadion selbst finden die Abgesandten Kubas, Brasiliens, Chinas und Indiens, die alle nach Obama sprechen, wenig Aufmerksamkeit. In Alexandra geht Collins, einer der Gäste, der nebenan sonst Autos wäscht, wegen des Regens aber keine Kunden hat, auf die Veranda, um nachzusehen, ob der Regen nicht doch bald aufhört.

Im Township hat sich durchaus viel getan in den vergangenen gut zwanzig Jahren, seit Mandela an der Seite seiner damaligen Frau Winnie mit gestreckter Faust aus dem Gefängnis kam und ein paar Jahre später Präsident aller Südafrikaner wurde. Die Regierung hat neue Viertel bauen lassen, deren Häuser Solaranlagen für die Warmwasserversorgung auf den Dächern tragen. Doch auch viele der alten Probleme sind geblieben: Kriminalität, Drogenhandel und die hohe Arbeitslosigkeit. Auf die Frage, ob es unter einem Präsidenten Mandela heute besser wäre, weiß denn auch der 32-jährige Collins, der aus seiner zu dünnen Trainingsjacke in den Regen starrt, nur ein Achselzucken.

Im Stadion, zu Hause vor den Fernsehschirmen oder im schnell errichteten Zelt vor der Nelson-Mandela-Stiftung in Johannesburg, die dem Andenken ihres Patrons verpflichtet ist, weiß man aber eines genau: Jacob Zuma als Präsident ist ein Problem.

Im Stadion war es erst nur eine kleine Menge, die buhte, als Zuma auf dem Großbildschirm auftauchte. Doch schnell schlossen sich immer mehr an. Schließlich wurden Schmählieder auf Zuma gesungen. Besonders eines wird all jenen Besuchern im Ohr bleiben, die die Sprache der Zulus verstehen: »Graca Machel war mit Samora verheiratet, und er ist tot, Graca war mit Mandela verheiratet, und er ist tot, liebe Graca, heirate Zuma!«

Am Tag darauf bestimmen die Pfiffe und Schmähungen gegen Zuma viele Diskussionen. Im Minibustaxi auf dem Weg zu Arbeit denkt man laut darüber nach. Hat sich Südafrika vor den Augen der Welt als schlechter Gastgeber erwiesen? Der ehemalige Erzbischof Desmond Tutu, auch er Friedensnobelpreisträger, war sichtlich verärgert über das Verhalten der Menschen im Stadion.

Doch widerspiegelt sich darin die Enttäuschung über die politische Führung des Landes, die in diesen Tagen besonders groß ist. Mandela war so anders, er war integer. Was ist aus uns geworden, fragt man sich, was aus unserem Traum von einer Regenbogennation, die gemeinsam aufbricht?

Ein anderer, der anderenorts viele seiner einstigen Anhänger enttäuscht hat, wurde in Südafrika begeistert empfangen: Barack Obama machte die Erinnerung an Madiba, den »Giganten der Geschichte«, eindrucksvoll lebendig. Der erste afroamerikanische USA-Präsident sagte, er selbst wäre ohne Mandela nicht das, was er heute ist. Die südafrikanische Protokollchefin im Stadion hatte den verspäteten Gast als »unseren größten Sohn Afrikas« angekündigt.

Obama ließ es sich nicht nehmen, an diesem Tag mit einer politischen Rede an den Auftrag zu erinnern, den Mandela mit seinem Leben für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit, hinterlassen hat. Ausländische Kommentatoren immerhin bemerkten, Obamas Rede sei nicht nur eine aufrichtige Ehrung des bewunderten Helden gewesen, »sondern auch ein Versuch, wieder etwas vom eigenen Glanz zurückzugewinnen«. So stand es im niederländischen »Telegraaf«. Im Stadion oder im Zelt der Mandela-Stiftung in Johannesburg erntete Obama jedenfalls stehenden Applaus.

Mehr als Zorn über Mandelas Nachfolger herrscht in Südafrika Ratlosigkeit. Wie der Autowäscher Collins im Township Alexandra haben viele nur noch ein Achselzucken für die Politiker aller Couleur. Mandela, einer der Großen des 20. Jahrhunderts, erscheint vielen im heutigen Südafrika sehr weit weg.

Am gestrigen Mittwoch verließ Mandelas Leichnam zum ersten Mal das Totenhaus. Von der Öffentlichkeit durch die Straßen Pretorias begleitet, wurde der Sarg in den Union Buildings aufgebahrt. Am offiziellen Sitz des Präsidenten während seiner Amtszeit von 1994 bis 1999 kann die Öffentlichkeit Abschied nehmen, bevor der »Vater aller Südafrikaner« am Sonnabend nach Qunu in der Provinz Ostkap überführt und am Sonntag dort beigesetzt wird.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Dezember 2013


Der ANC trägt schwer an seinem Erbe

Die Aufbruchstimmung der ersten Jahre ist verflogen

Von Armin Osmanovic **


Viele Beobachter fragen nach der Zukunft Südafrikas, nun da Nelson Mandela tot ist. Im nächsten Jahr wird in Südafrika gewählt und viele rechnen mit Verlusten für den regierenden Afrikanischen Nationalkongress (ANC), dessen Regierungsallianz mit der Kommunistischen Partei (SACP) in unübersehbaren Schwierigkeiten steckt, da der dritte Partner im Bunde, der Gewerkschaftsdachverband COSATU, vor der Spaltung steht.

Nach der Suspendierung des COSATU-Generalsekretärs Zwelenzima Vavi ist bei Südafrikas größtem Gewerkschaftsverband ein heftiger Machtkampf ausgebrochen. Die Metallarbeitergewerkschaft NUMSA droht die Allianz zu verlassen. Sie wirft dem ANC Verrat an der Arbeiterklasse vor. Die Gewerkschaftsmitglieder waren bisher stets wichtige Wahlkampfaktivisten.

Und auch der ANC selbst hat Probleme. Auch wenn Buhrufe und Pfiffe während der Gedenkveranstaltung für Nelson Mandela am Dienstag in Johannesburg zum Teil sicher organisiert waren, die Unzufriedenheit mit dem jetzigen Präsidenten Jacob Zuma ist groß.

Die hohe Arbeitslosigkeit und die sich verstärkende soziale Ungleichheit sind wichtige Beweggründe, sich von Zuma abzuwenden. Die hohen Ausgaben für dessen Heimatresidenz in KwaZulu-Natal und die neu eingeführte Maut auf den Schnellstraßen rund um Pretoria und Johannesburg sind weitere Gründe.

Die Unzufriedenheit mit dem ANC-Spitzenkandidaten wird sich sehr wahrscheinlich in Stimmenverlusten ausdrücken. Ein Anteil von 55 bis 60 Prozent für den ANC erscheint Experten heute realistisch. Immer noch die Mehrheit, aber 2009 hatten knapp zwei Drittel der Wähler für Zuma und den ANC gestimmt.

Mehr als Prozentanteile treibt die Südafrikaner aber der Verlust der Aufbruchstimmung der ersten Jahre nach dem Ende der Apartheid um. Verschiedene Redner der Gedenkfeier in Johannesburg erinnerten an das Vorbild, das Südafrika seinerzeit für die Welt darstellte. Südafrika und die Südafrikaner hätten gezeigt, dass Wandel möglich sei, sagte beispielsweise der USA-Präsident. Und auch für Bundespräsident Joachim Gauck, der Mandela wie Martin Luther King im Pressegespräch am Rande der Veranstaltung als Vorbild für das eigene politische Engagement bezeichnete, war das neue Südafrika ein Symbol für die Kraft der Veränderung. Dieses Erbe Mandelas wieder aufzunehmen, wäre unbedingt notwendig, um die Zukunft des Landes zu meistern. Das ist vielen Südafrikanern in diesen Tagen des Gedenkens bewusst geworden.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. Dezember 2013


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