Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Das Land hat seinen Vater verloren"

Weit über Südafrika hinaus wird um Nelson Mandela getrauert und sein Vermächtnis gewürdigt

Von Markus Schönherr, Kapstadt *

Eine Woche lang will Südafrika um Nelson Mandela trauern und dessen erfülltes Leben feiern. Staats- und Regierungschefs von allen Kontinenten würdigten das politische Vermächtnis.

»Wir beten, dass Gott eure Tränen trocknet und euch erneut stärkt. Danke, dass ihr Tata mit uns geteilt habt.« Mit diesen Worten bekundete Desmond Tutu, emeritierter Erzbischof und Kämpfer gegen das Apartheid-Regime, Nelson Mandelas Familie am Freitag sein Beileid.

Nelson Rolihlahla Mandela war in der Nacht von Donnerstag auf Freitag in Johannesburg verstorben. Das Land am Kap befindet sich in einer Schockstarre. Vor der Residenz des Freiheitshelden im Vorort Houghton versammelten sich kurz vor Mitternacht Hunderte Menschen. Viele von ihnen trotzten der Frühlingskälte in ihren Pyjamas. Die spontanen Trauerfeiern wurden durch das Dröhnen von Vuvuzelas und Lieder aus dem Freiheitskampf begleitet.

Mandelas Ableben kam nicht unerwartet, nachdem er zuletzt drei Monate im Krankenhaus verbracht hatte und auch in seinem Haus auf lebenserhaltende Geräte angewiesen blieb. Und dennoch: »Es war ein Schock für uns, als wir es hörten. Obwohl wir uns schon lange darauf vorbereitet hatten – es bleibt ein Schock«, sagte eine der Trauernden vor Mandelas Haus. Ganze Familien fanden sich hier ein. »Ich bin geschockt, ich kann es noch nicht fassen«, sagte ein Achtjähriger unter Tränen. Eine der Anwesenden brach vor Journalisten zusammen, nachdem sie erklärte: »Ich bin froh, dass er nun an einem besseren Ort ist. Hoffentlich kann Südafrika mit seinem Tod umgehen.«

Wie stark Mandela trotz seines Rückzugs aus der Politik 2004 präsent blieb, zeigte sich auch in Soweto. In Südafrikas größtem Township hatte Mandela gelebt, nachdem er aus seinem Heimatdorf Qunu in die Stadt gezogen war. In der Nacht versammelten sich auch hier die Trauernden und gedachten Mandelas Wirken mit Liedern und Tänzen.

Ähnliche Szenen in Kapstadt, wo Mandela nach 27 Jahren politischer Haft seine erste Rede als freier Mann hielt. Hier hängen die Flaggen auf Halbmast. Auf den Straßen wehen seit den frühen Morgenstunden bunte Fahnen mit den Worten »Tata«, »Madiba« und »Mandela«. Den ganzen Tag über fanden Trauergottesdienste statt und Hunderte Menschen legen Blumen nieder.

Wegbegleiter Desmond Tutu rief die Südafrikaner dazu auf, Mandelas ideelles Erbe fortzuführen und holte gegen jene Kritiker aus, die nach Mandelas Tod einen politischen Kollaps befürchteten. »Die Idee, Südafrika gehe in Flammen auf, bringt unsere Bürger in Verruf. Die Sonne wird morgen aufgehen und am nächsten Tag und auch danach. Sie wird nicht mehr so hell scheinen wie früher – aber das Leben geht weiter.«

Die zentrale Trauerfeier in der einwöchigen Staatstrauerphase findet am Dienstag in Soccer City statt, dem Fußballstadion, in dem Mandela beim WM-Endspiel 2010 seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte. Dazu werden Gäste aus aller Welt erwartet. Am 15. Dezember erfolgt die Beisetzung in seinem Heimatort Qunu.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Dezember 2013


»Hamba kahle« Nelson Mandela

Im Andenken an den bemerkenswerten Menschen verneigt sich die Welt. Von Hans-Georg Schleicher **

Nelson Mandela – der Name steht für die Überwindung von Rassismus und Apartheid, aber auch für den Sieg der Versöhnung über Unterdrückung und Hass. Gäbe es eine Ehrenbürgerschaft dieser Welt, Mandela wäre einer der ersten Anwärter gewesen.

Eine Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Menschen ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Es war in jenen entscheidenden Tagen, als mit den ersten freien und allgemeinen Wahlen in Südafrika 1994 die Apartheid zu Ende ging. Am Abend des 2. Mai 1994 feierte der Afrikanische Nationalkongress (ANC) im Carlton Center in Johannesburg. Obwohl das offizielle Wahlergebnis noch ausstand, machte sich Siegesstimmung breit. Schließlich trat Mandela auf die Bühne und verkündete, gerade habe ihm Staatspräsident Frederik Willem de Klerk zum Wahlsieg des ANC gratuliert. Unbeschreiblicher Jubel – der jahrzehntelange Befreiungskampf hatte triumphiert.

Was sich mir damals besonders einprägte, waren Mandelas Bescheidenheit und seine Wärme in dieser Stunde des größten Triumphes. Mandela und seine Befreiungsbewegung hatten einen Sieg von übernationaler Bedeutung errungen – und dort auf der Bühne stand nicht in erster Linie der erfolgreiche Politiker, sondern der Mensch Nelson Mandela. Er gedachte derer, die diesen Triumph nicht mehr miterlebt hatten, und verkündete seine Botschaft der Versöhnung, die in dem von Apartheid und Bürgerkrieg zerrissenen Südafrika so wichtig war.

Als Mandela am 18. Juli 1918 in den ländlichen Weiten der Transkei im Südosten Südafrikas geboren wurde, gab ihm sein Vater, Berater des Königs der Thembu, den Namen Rolihlahla – sinngemäß der »Unruhestifter«. Den Vornamen Nelson erhielt er später von seiner Lehrerin. Aufgewachsen in traditionellen ethnischen Hierarchien, konnte Mandela ein Studium an der einzigen höheren Bildungsstätte für Schwarze – dem College in Fort Hare – aufnehmen. Er wurde dort aber wegen politischer Aktivitäten entlassen und beendete seine juristische Ausbildung im Fernstudium.

Wer in Mandelas Memoiren seinem »langen Weg zur Freiheit« folgt, stellt fest, wie stark seine menschlichen und politischen Charakteristika bereits durch die traditionelle Erziehung in früher Jugend geprägt wurden. 1944 war Nelson Mandela Gründungsmitglied der Jugendliga des ANC. Als 1948 in Südafrika die Nationalpartei an die Macht kam und rassistische Diskriminierung in Form der Apartheid zur Staatspolitik erhob, antwortete der ANC mit Boykott, Streiks und zivilem Ungehorsam. Mandela, der als erster Schwarzer eine Anwaltspraxis in Südafrika betrieb, wurde 1952 wegen aktiven Widerstands gegen die Apartheid zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, gefolgt vom Bann, einem erweiterten Hausarrest. Das konnte Rolihlahla, den Unruhestifter, aber nicht beeindrucken. Er verstärkte seine politischen Aktivitäten und entwarf einen Plan für die Untergrundarbeit. Rasch stieg er von der Jugendliga in die nationale Führung des ANC auf.

Nach dem Verbot der Organisation 1960 bereits einmal verhaftet, ging Mandela 1961 in den Untergrund, baute die bewaffnete Widerstandsorganisation Umkhonto we Sizwe (MK) auf und wurde deren erster Kommandeur. Nach Rückkehr von einer längeren Auslandsreise 1962, bei der er in Algerien auch eine Militärausbildung erhielt, wurde er erneut verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als den Häschern des Regimes im Jahr darauf fast das gesamte MK-Oberkommando mit wichtigen Unterlagen für den bewaffneten Kampf in die Hände fiel, wurde ihnen erst bewusst, dass sie den Kopf dieser »hochverräterischen« Organisation, Mandela, bereits hinter Gittern hatten.

Als Hauptangeklagter im weltweit beachteten Rivonia-Prozess nutzte Mandela die Anklagebank zu einem bewegenden Plädoyer für die Ideale des Befreiungskampfes. In dieser historischen Erklärung beschwor er die Demokratie und das Ideal einer freien, gerechten Gesellschaft, für das er notfalls auch zu sterben bereit sei. Das war nicht leichtfertig dahergesagt. Denn der Staatsanwalt forderte die Todesstrafe. Auch dank internationaler Solidarität entgingen Mandela und seine Mitangeklagten dem Galgen – die Strafe lautete lebenslänglich. Mandelas Rede war für mehr als 27 Jahre seine letzte öffentliche Äußerung.

Auf der Gefängnisinsel Robben Island war Nelson Mandela der anerkannte Führer der politischen Häftlinge. Gegenüber Wärtern, die auch vor körperlichen Misshandlungen nicht zurückschreckten, erzwang er sich Respekt und demonstrierte unter teilweise entwürdigenden Haftbedingungen Stärke und menschliche Größe. Er trug dazu bei, dass Robben Island zum Symbol des Widerstands gegen das inhumane Apartheidsystem wurde. Auch Jahre später konnte ihn das Angebot einer Freilassung bei Aufgabe seiner Prinzipien nicht korrumpieren, ebenso misslang der Versuch, ihn gegen seine Organisation auszuspielen.

Der Befreiungskampf unter Führung des ANC, internationale Solidarität mit dem kämpfenden Südafrika, die Sanktionen gegen das Apartheidregime, das Scheitern der Apartheidpolitik selbst – all das führte die Wende herbei. Mandela war inzwischen der prominenteste politische Gefangene weltweit und Symbol des Kampfes gegen die Apartheid. Die Forderung nach seiner und der Freilassung aller politischen Gefangenen in Südafrika war in aller Munde. 1990, nach Legalisierung des ANC und anderer Widerstandsorganisationen, öffneten sich die Gefängnistore, Mandela wurde zum Sprecher seines Volkes in den Verhandlungen über ein demokratisches Südafrika. Damals, nach dem Ende des Kalten Krieges, weckte er auch international Hoffnungen auf eine neue Ära im Zeichen gemeinsamer menschlicher Werte – eine Hoffnung, die sich allerdings nicht erfüllte.

1993 nahm Mandela gemeinsam mit Frederik Willem de Klerk den Friedensnobelpreis entgegen – er selbst im Namen aller Südafrikaner, die gelitten und Opfer gebracht hatten, um dem Land Frieden zu bringen, wie er betonte. Die Welle internationaler Würdigungen und Auszeichnungen, die bereits lange vor seiner Freilassung begonnen hatte, riss bis an sein Lebensende nicht ab. Er erhielt Orden, war Ehrendoktor von mehr als 50 Universitäten, Straßen, Plätze und Schulen wurden nach ihm benannt, Denkmale errichtet. In der offiziellen Liste dieser Ehrungen finden sich bereits frühzeitig sowohl der »Stern der Völkerfreundschaft« der DDR als auch die Ehrenpromotion der Karl-Marx-Universität Leipzig.

1994 trat Nelson Mandela als Staatspräsident an die Spitze des neuen Südafrikas. Er führte sein Land und dessen Menschen aus einer Bürgerkriegssituation heraus auf den Weg der Versöhnung. Er selbst wies übertriebene Bewertungen der eigenen Rolle zurück: »Ich war kein Messias, nur ein gewöhnlicher Mensch, der unter außergewöhnlichen Umständen zum Führer wurde.« Mandela zeigte Größe, als er 1999 das Präsidentenamt nach nur einer Amtszeit aufgab, um einem Jüngeren Platz zu machen.

Von den Großen dieser Welt hofiert und international zur moralischen Autorität erhoben, ließ Nelson Mandela nie einen Zweifel daran, dass sein Engagement vor allem seinem Volk und der Entwicklung in Südafrika galt. Die zur Überwindung der Apartheid notwendige Aussöhnung wurde durch ihn geprägt. Hier brachte er Weisheit und Mut, Prinzipienfestigkeit und Großmut ein und erhob sich dabei über die zutiefst gespaltene Gesellschaft Südafrikas. Er sagte einst: »Wer Hass verspürt, kann nicht frei sein.« In dieser historischen Versöhnungsleistung verband sich in beeindruckender Weise seine menschliche Größe mit politischer Weitsicht.

Dieser »Mandela-Faktor« ist für die jüngste Entwicklung Südafrikas ungeheuer wichtig gewesen. Das neue Südafrika hat auch international sehr von dem Sympathieträger Mandela profitiert. Dass 2010 die Fußballweltmeisterschaft erstmals am Kap und damit in Afrika stattfand, war auch ihm zu verdanken. Zu diesem Anlass hatte Mandela seinen letzten großen öffentlichen Auftritt in Johannesburg.

Der Mensch Nelson Mandela strahlte eine unerschütterliche Zuversicht aus. Madiba, wie er von Freunden und Kampfgefährten genannt wurde, war vor allem auch deshalb so glaubwürdig, weil für ihn Menschen zunächst einmal und vor allem immer Menschen waren. Und er vergaß deren Sorgen und Probleme nicht. Das traf für den Kampfgefährten ebenso zu wie für den politischen Gegner. Wer erlebt hat, wie ehemalige Widersacher aus dem Apartheidlager später mit Hochachtung und großer Wärme von »unserem Nelson« sprachen, begriff, wie Mandela die Hypothek seiner 27 Gefängnisjahre zum durchschlagenden Argument politischer Überzeugung im »nation building« gemacht hat. Die Konsequenz dieser Politik ist nicht immer von allen Apartheidopfern verstanden worden.

Andererseits war Mandela auch weiterhin nicht bereit, um des lieben Friedens willen seine Prinzipien preiszugeben, politischen Gegnern wie auch Freunden gegenüber. Da konnte er auch undiplomatisch sein. So stand er beim ersten Besuch von George W. Bush in Südafrika für eine Begegnung mit dem mächtigsten Mann der Welt nicht zur Verfügung, nachdem er zuvor bereits scharf dessen Irakkrieg verurteilt hatte. Es blieb einem Bush vorbehalten, Mandela und den ANC bis in sein letztes Amtsjahr hinein auf der Terrorliste der Vereinigten Staaten zu führen.

Als Persönlichkeit verband Mandela in seiner unnachahmlichen Ausstrahlung persönliche Bescheidenheit mit seiner Tradition entspringender Würde und Stolz. Er war dabei sehr menschlich und nicht frei von Schwächen und Fehlern. Beobachter sprachen von einem seiner Herkunft geschuldeten »Bonapartismus«, wenn er politische Überlegungen und Interessen überstimmte, um Dinge durchzusetzen, die er für richtig hielt. Den Kult, der um ihn entstanden ist, hat er jedoch nie missbraucht. Er verstand sich als Teil einer Gemeinschaft von Kampfgefährten und beugte sich kollektiven Entscheidungen der ANC-Führung, so auch der zur Person seines Nachfolgers.

Im persönlichen Bereich gab es für ihn schwere Schicksalsschläge – den Tod zweier Kinder, die schmerzhafte Trennung von seiner Frau Winnie, die den Kontakt zur politischen Realität verloren und mit ihrem exzentrischen Verhalten gemeinsame Werte und Prinzipien aufgegeben hatte. In Graca Machel fand er eine neue Partnerin mit Charme, Intellekt und eigenem politischen Profil. Sie sprach davon, dass Nelson in den Jahren ihrer Partnerschaft seine Ziele erreicht habe und im Frieden mit sich sei. Es war bedauerlich, dass in jüngster Zeit Auseinandersetzungen unter seinen Nachkommen, die auch den Patriarchen tangierten, diesen Frieden störten.

Auch im Ruhestand kam Mandela lange nicht zur Ruhe, trotz des demonstrativen Rückzugs aus dem politischen Alltag. Er hat sich nicht mehr in die zunehmenden Auseinandersetzungen im ANC hineinziehen lassen, hatte aber frühzeitig zu politischer Kultur gemahnt. Als »elder statesman« gehörte er zeitweilig einer Art internationalem Ältestenrat an. Er engagierte sich zudem für soziale und humanitäre Aufgaben, wobei er seine Autorität und seinen oft nachdrücklichen Charme nutzte. Wer wollte Mandela eine Spende für einen guten Zweck verweigern? Andererseits haben Mandela und viele seiner Mitkämpfer aber auch nicht vergessen, wer in den schweren Jahren an der Seite des ANC und des südafrikanischen Volkes gestanden hat. Das galt auch für die Solidarität der DDR und vieler ihrer Menschen in den schweren Jahren des südafrikanischen Befreiungskampfes, die nicht vergessen ist, wie Mandela auch als Staatspräsident bei persönlichen Begegnungen ausdrücklich betonte.

In den letzten Jahren lebte Mandela auch aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen in seinem Haus in Houghton in Johannesburg oder in Qunu, wo er aufgewachsen war, in der östlichen Kap-Region. Der Afrikakenner Basil Davidson wird Mandela wohl gerecht, wenn er schreibt: »Die Menschlichkeit bringt von Zeit zu Zeit bemerkenswerte Menschen hervor.« Im Andenken an den bemerkenswerten Menschen Nelson Mandela verneigt sich heute die Welt, Millionen erinnern sich seiner mit großer Zuneigung. Mit ihm ist ein Politiker und Staatsmann, ein Humanist, ein Mensch gegangen, der bereits zu Lebzeiten zur Legende geworden war. Selten ist sich die internationale Gemeinschaft so einig wie in der Trauer um einen ihrer ganz Großen. Das traditionelle südafrikanische »Hamba kahle« zum Abschied gilt einem Giganten des Befreiungskampfes und einem großen, warmherzigen Menschen.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Dezember 2013


Am Ende des Regenbogens

Nachruf. Überzeugter Antirassist, Überwinder der Apartheid und verhinderter Revolutionär: Mit Nelson Mandela stirbt ein Symbol des Freiheitskampfes in Südafrika

Von Christian Selz ***


Aus der Erfahrung eines außergewöhnlichen menschlichen Unheils, das viel zu lange dauerte, muß eine Gesellschaft geboren werden, auf die die ganze Menschheit stolz sein kann.« Nelson Mandela hatte hohe Ziele, als er 1994 in den monumentalen Union Buildings in Pretoria, Südafrikas Regierungssitz, als erster schwarzer, von allen Bürgern des Landes gleichberechtigt gewählter Präsident antrat. Seine Rede, abgeschlossen mit den Worten »Gott segne Afrika«, war ein Aufruf zur Überwindung der Apartheid in dem zerrütteten Land – und auf dem gesamten Kontinent. In Südafrika markierte der zum Staatschef gewählte Widerstandskämpfer, der 27 Jahre in den Kerkern der rassistischen Unterdrücker verbracht hatte, das Ende von knapp 350 Jahren Kolonialherrschaft und fast einem halben Jahrhundert Apartheid. Es war der emotionalste Moment der jungen Republik – bis heute.

Der Weg zu Mandelas Vision der Freiheit, von der »Gesellschaft, in der alle Südafrikaner, Schwarze und Weiße, aufrecht gehen können, ohne Angst in ihren Herzen und ihres unveräußerlichen Rechts auf Menschenwürde sicher«, ist noch immer lang. Der Visionär selbst hat das Ende dieses Weges nicht mehr erlebt. Am Donnerstag abend starb Nelson Rolihlahla Mandela im Alter von 95 Jahren in seinem Haus in Johannesburg. Er erlag einem langen Lungenleiden.

Mandela – so sehr ihm das auch mißfallen haben mag – war für viele eine Ikone. Er wurde zum weltweiten Symbol von unbändigem Freiheitskampf, unerschütterlichem Antirassismus und tiefer Menschlichkeit.

Entsprechend groß war die Sorge um den Friedensnobelpreisträger, die sich noch vergrößerte als Mandela Mitte des Jahres im Krankenhaus behandelt werden mußte. Er war in seinen späten Jahren gesundheitlich schwer angeschlagen. Vor allem anhaltende Lungenleiden, Langzeitfolgen einer während der Zwangsarbeit im Steinbruch von Robben Island erlittenen Tuberkulose, machten ihm zuletzt zu schaffen. In diesem Jahr war er insgesamt dreimal in einem, anfangs geheimgehaltenen, Krankenhaus behandelt worden.

Es war der späte Tribut für ein entbehrungsreiches Leben im Kampf um die Freiheit, daß Mandela zuletzt nur noch stark zurückgezogen lebte. In der Öffentlichkeit ließ er sich seit dem Finale der Fußballweltmeisterschaft im Juli 2010 in Johannesburg nicht mehr sehen. Schon damals mußte ihn seine Frau Graça Machel, die Witwe des mosambikanischen Freiheitskämpfers und Staatspräsidenten Samora Machel, zum Winken animieren. Aus der aktiven Politik hatte sich Mandela, der Südafrika als Präsident nur eine Amtszeit von 1994 bis 1999 dienen konnte, da ohnehin längst verabschiedet.

Das Interesse am Vater der südafrikanischen Regenbogennation war allerdings auch nach dessen Rücktritt nicht abgeebbt – mit bisweilen negativen Auswirkungen. Zwei Krankenhausaufenthalte Anfang 2011 und Ende 2012 führten – zusammen mit einer chaotischen Informationspolitik des Präsidialamtes – zu wilden Spekulationen über Mandelas Gesundheitszustand. Auf TV-Aufnahmen anläßlich seines 94. Geburtstags im Juli 2012 wirkte er gebrechlich und abwesend, bei einem Besuch des Staatspräsidenten Jacob Zuma im April dieses Jahres gar völlig apathisch und verwirrt. Regungslos saß der sichtbar kranke Greis auf seinem Sofa, als der um positive Schlagzeilen bemühte Zuma erfolglos nach seiner Hand griff. Mit seiner anschließenden Behauptung, der Altpräsident sei »gut in Form und wohlauf«, machte sich der immer wieder der Korruption bezichtigte Politiker des Afrikanisches Nationalkongresses (ANC) vor dem Hintergrund der Fernsehbilder förmlich lächerlich. Viel Vertrauen schenkten die Südafrikaner den offiziellen Beruhigungsbotschaften ohnehin nicht mehr. In sozialen Netzwerken wurden bereits mehrere Male in den vergangenen Jahren falsche Nachrichten vom Tod Mandelas verbreitet.

Radikalisierung seines Kampfes

Geboren unter dem Namen Rolihlahla am 18. Juli 1918 in Mvezo, einem kleinen Dorf in der heutigen Provinz Ostkap, ging Mandela als erstes Mitglied seiner Familie zur Schule. Von seiner Lehrerin bekam der zur Volksgruppe der Xhosa gehörende Junge dort seinen englischen Namen Nelson – eine Standardmaßnahme, die beispielhaft für die Geringschätzung der afrikanischen Kulturen durch die Kolonialisten stand. Mandela, der damals schon große Träume hatte, entwuchs dem traditionellen ländlichen Leben schnell. Südafrikas berühmtester Karikaturist Jonathan Zapiro hat die Entwicklung 1998 am treffendsten dargestellt. In seiner Zeichnung sitzt der junge Mandela in einem kleinen Klassenraum in der ersten Reihe. Draußen grast eine Kuh vor vier Rundhütten, an der Tafel steht die Frage »Was will ich werden?« – und die verblüffte Lehrerin liest dem herbeigerufenen Direktor Mandelas Antwort vor: »Rechtsanwalt, Aktivist, Freiheitskämpfer, Gefangener des Bewußtseins, Präsident, Versöhner, Nationenerbauer, Visionär und Ikone des 20. Jahrhunderts.« Eins hatte der Künstler allerdings vergessen: Mandela war auch ein wichtiger Verfechter afrikanischer Einheit. Seinen ersten Freund aus einer anderen Volksgruppe, der der Sotho, traf Mandela 1937 auf dem College in Fort Beaufort. Es war für ihn der erste kleine Schritt zu einer schwarzen Einheit, die die Kolonialisten und später die Herrschenden des rassistischen Apartheidsystems zu unterdrücken versuchten. Für Mandela war das der persönliche Anfang eines langen Weges, der in der Vernetzung der Freiheitsbewegungen des Kontinents münden sollte.

1941 entfloh Mandela einer arrangierten Heirat, ging in die hektische Wirtschaftsmetropole Johannesburg, arbeitete zunächst als Wachmann einer Mine und studierte schließlich Jura. Während seiner Zeit an der dortigen Universität Witwatersrand lernte er spätere Schlüsselfiguren des Antiapartheidkampfes wie Joe Slovo kennen und arbeitete schließlich in einer Gemeinschaftskanzlei mit Oliver Tambo, dem späteren langjährigen Präsidenten des ANC, den auch Mandela noch prägen sollte. In der »Stadt des Goldes« traf Mandela auch erstmals Mitglieder der Kommunistischen Partei Südafrikas, wohnte deren Versammlungen bei, sah die Konflikte in Südafrika aber selbst mehr als Rassen- denn als Klassenkämpfe. Obwohl der junge Anwalt ursprünglich Anhänger eines gewaltlosen Widerstands war, engagierte er sich 1943 federführend bei der Gründung der radikaleren ANC-Jugendliga. Mandela wurde Mitglied des Exekutivkomitees unter deren erstem Präsidenten Anton Lembede und teilte dessen Ablehnung eines Weiße einschließenden Widerstands – trotz seiner Freundschaften mit weißen Kommunisten.

Diese Einstellung änderte sich, als sich Mandela ab den 1950er Jahren immer mehr an kommunistische Ideale annäherte, Marx und Engels las und federführender Verfasser der Freiheitscharta wurde. »Der Reichtum an Mineralien unter der Erde, die Banken und die Monopolindustrie sollen in den Besitz des Volkes als ganzem übergehen«, heißt es in dem 1955 verabschiedeten Leitdokument des ANC. Dessen heutige Führung findet darin allerdings keinen Ansatz für eine Verstaatlichung der Minen, und auch Mandela sah sich zeitlebens mehr als ein auf die Einheit Afrikas konzentrierender Revolutionär und weniger als Kommunist.

Dennoch radikalisierte sich sein Kampf. Aus Demonstrationen wurde ziviler Ungehorsam, den die Schergen des Apartheidstaates jedoch brutal unterdrückten. Vielen Schwarzen reichten symbolische Aktionen gegen die Unterdrücker deshalb bald nicht mehr. Der ANC drohte seinen Einfluß unter den Unterdrückten an militantere Gruppen zu verlieren – und mußte handeln. Schließlich – nach dem Massaker von Sharpeville 1960, bei dem die Polizei 69 Demonstranten erschossen hatte – wurde Mandela Gründungsmitglied des Umkhonto we Sizwe, des »Speers der Nation«. Der bewaffnete Arm des ANC verübte Sabotageakte und Bombenanschläge gegen staatliche Infrastruktur. Doch seine Gründungszelle flog schnell auf. Im Rivonia-Prozeß der Jahre 1963 und 1964 drohte Mandela die Todesstrafe. Das Schlußwort seiner Verteidigungsrede schmückt heute Museumswände: »Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft, und ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe das Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft gehegt, in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Möglichkeiten zusammenleben. Es ist ein Ideal, für das ich hoffe zu leben und das ich zu erreichen hoffe. Aber wenn es sein muß, ist es ein Ideal, für das ich zu sterben bereit bin.« Mandela überlebte mit seiner Hoffnung, trotz der Verurteilung zu lebenslanger Haft, trotz der brutalen Zwangsarbeit im Steinbruch von Robben Island. Auf dem berühmt-berüchtigten Eiland vor der malerischen Kulisse Kapstadts führen heute Exhäftlinge Touristen durch die winzigen Zellen.

Neoliberaler Politikkurs

Mandela blieb seinen Idealen treu, auch – und das ist womöglich sein größter Verdienst – nach der Befreiung. »Wir haben extra einen grünen Toyota Crescida aufgetrieben, weil Mandela einen großen Mercedes nicht akzeptieren wollte«, erinnert sich Faizel Moosa, der damalige Sicherheitschef des ANC in der Region um Kapstadt, im Gespräch mit junge Welt an die Freilassung Mandelas im Februar 1990. In diesem einfachen Wagen fuhr er ihn schließlich zur Grand Parade in der Innenstadt, wo ein unerschrockener Mandela seine Anhänger aufrief, »den Kampf an allen Fronten zu intensivieren« und ausdrücklich auch den bewaffneten Widerstand als »pure Verteidigungsaktion gegen die Gewalt der Apartheid« bezeichnete.

Die Zeit der Verhandlungen hatte allerdings längst begonnen. Schon lange vor Mandelas Freilassung trafen sich insgeheim auf britischem Boden ANC-Größen um seinen späteren Nachfolger als Staatspräsident, Thabo Mbeki, mit Vertretern aus Wirtschaft und politischem Establishment Südafrikas. Sie legten die Richtlinien für den Übergang in eine von Apartheid befreite Gesellschaft fest. Als Mandela vom Kapstädter Rathausbalkon rief, daß »Verhandlungen nicht über die Köpfe unseres Volkes hinweg oder hinter seinem Rücken« stattfinden könnten, war genau das längst geschehen.

Was nach der ersten freien Wahl 1994 und dem grandiosen Sieg Mandelas folgte, war daher nicht das »bessere Leben für alle«, das sein ANC überall im Land auf Wahlplakaten versprochen hatte. Marktliberalisierungen, Einschnitte bei Beschäftigtenrechten und Arbeitsplatzverluste nach Anwendung der »Allheilmittel« des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank prägten die Wirtschaftspolitik des ANC. Hatte die Partei nach dem Wahlerfolg 1994 noch ihren Wiederaufbau- und Entwicklungsplan (RDP) zur Leitlinie einer sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik gemacht und versucht, die staatliche medizinische Versorgung, das Bildungswesen und den sozialen Wohnungsbau voranzutreiben, schwenkte die Regierung Mandela bereits ab 1996 auf das marktradikale Programm »Wachstum, Arbeit und Umverteilung« (GEAR) um. Umverteilt wurde vor allem in eine Richtung: nach oben. Die Schere zwischen Arm und Reich ging folglich weiter auseinander. Importschranken fielen, ganze Wirtschaftszweige, wie die Textilindustrie, wurden zerstört, mehr als eine Million Menschen entlassen. Zwischen 1996 und 2000 stieg die Arbeitslosenquote in Südafrika von 19,3 auf 23,3 Prozent. Effektiv verscherbelte der als revolutionäre Bewegung angetretene ANC innerhalb kürzester Zeit den Staatsbesitz der Apartheidära mit großangelegten Privatisierungskampagnen an nationale und internationale Großkonzerne.

Ziel: Keine rassistischen Grenzen

Doch die Wut darüber zog weitestgehend Thabo Mbeki, ab 1994 Vize- und ab 1999 Staatspräsident, auf sich. Mandela blieb die Freiheitsikone, zu der ihn der ANC und die globale Antiapartheidbewegung über Jahrzehnte aufgebaut hatten. Realpolitisch war auch Mandela kein Zauberer, aber er vollbrachte es, das zur weltweiten Identifikation mit den unterdrückten Südafrikanern aufgebaute Bild von einem Helden mit Leben zu füllen. 1993 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, wurde Mandela den hohen Ehren auch in den Folgejahren gerecht mit seiner überragenden Rolle bei der Aussöhnung der entlang der rassistischen Trennlinien gespaltenen südafrikanischen Gesellschaft.

Nur ein Jahr nach seiner Wahl ins Präsidentenamt avancierte er zum größten Fan der Rugby-Nationalmannschaft, dem Team der Weißen, das vor heimischer Kulisse sensationell die Weltmeisterschaft gewann. »Nie, nie und nie wieder soll dieses wunderschöne Land noch einmal die Unterdrückung des einen durch den anderen erfahren und die Erniedrigung erleiden, das Stinktier der Welt zu sein«, hatte Mandela bei seiner Vereidigung gesagt. Er meinte es ernst. Er wollte der Präsident aller Südafrikaner sein. Sein Ziel war es, das Land über rassistische Grenzen hinweg zu einen. Im Film »Invictus« setzte ihm Hollywood dafür ein spätes Denkmal. »Mandela ist etwas zu weit gegangen mit seinen guten Taten für die nichtschwarzen Gemeinschaften, in einigen Fällen war er zu gut, zu sehr wie ein Heiliger«, resümierte dagegen Simbabwes Präsident Robert Mugabe, ein alter Verbündeter aus dem antiimperialistischen Kampf, in einem Interview mit Dali Tambo, Sohn des ehemaligen ANC-Präsidenten.

Die Streitfrage in der historischen Bewertung der wirtschafts- und sozialpolitischen Errungenschaften unter der Regierung Mandelas bleibt die nach seinem Handlungsspielraum. Aufgebaut hat er einen Sozialstaat, der auf dem afrikanischen Kontinent seinesgleichen sucht. Mehr als drei Millionen Häuser haben die ANC-Regierungen seit 1994 in den Townships des Landes bauen lassen und kostenfrei an Familien übergeben, die zuvor in Wellblechhütten wohnten. Arme Südafrikaner haben heute ein Anrecht auf Kindergeld, Alters- und Invalidenrente sowie freien Zugang zu Strom und Wasser – auch wenn es Kritik an den geringen Zuteilungsmengen gibt. Zum Gesundheits- und zum Bildungswesen, die vor 1994 nur neun Prozent der Bevölkerung dienten, haben heute alle Südafrikaner Zugang.

Und dennoch: Die Unterschiede zwischen der privaten medizinischen Versorgung der Reichen und den staatlichen Krankenhäusern sind enorm. Die Ergebnisse der allermeisten Schulen in den Townships und ehemaligen Homelands, in die die Schwarzen verbannt wurden, hinken weit hinter denen der vormals weißen Eliteeinrichtungen her. Die krassen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der südafrikanischen Gesellschaft haben weder Mandela noch seine Nachfolger behoben – im Gegenteil, der statistische Gini-Koeffizient, der das Maß der Ungleichverteilung von Wohlstand bezeichnet, ist heute noch höher als 1994 und weltweit kaum überboten.

Das Scheitern der südafrikanischen Revolution hat mit dem Verwässern der Freiheitscharta zu tun. Sie wird innerhalb des ANC inzwischen so frei interpretiert, daß sie jegliche progressive Kraft verloren hat: mit der sklavenhaften Investorenfreundlichkeit sämtlicher Regierungen seit Mandela und der de facto verhinderten Landreform, bei der das Prinzip »williger Käufer, williger Verkäufer« einer nennenswerten Umverteilung der Anbauflächen im Wege steht. Zugegeben hat Mandela nach seinem Rücktritt vom Präsidentenamt 1999 nur seine Fehler bei der Reaktion auf die AIDS-Epidemie, die Millionen Südafrikaner das Leben kostete.

Die Tatsache, daß ein schwarzes Kind in Südafrika heute immer noch fünfmal niedrigere Chancen hat, einmal an einer Universität zu studieren, oder den Fakt, daß ein weißer Haushalt inzwischen sechsmal soviel Einkommen hat wie ein schwarzer – all das begründen die Mächtigen der Regenbogennation bis heute mit dem schweren Erbe der Apartheid. Doch so sehr das strukturell begründet sein mag, so deutlich wirft es eben auch die Frage auf, wie mächtig Südafrikas Regierung überhaupt ist.

Erbe für einen zerstrittenen ANC

Nelson Mandela verdankte seine Freilassung und seinen Aufstieg ins Präsidentenamt nicht dem militärischen Sieg des ANC, sondern einer Mischung aus internationalem Druck und dem kubanischen Engagement auf seiten der namibischen Befreiungsfront SWAPO in Südangola, die das Apartheidregime zum Einstürzen brachte. Dazu kam die Einsicht der Konzerne, daß in einem Südafrika ohne brennende Barrikaden in den Townships mehr Profit zu machen war. Das Ergebnis war eine Verhandlungslösung, die den ANC – der ohnehin den antirassistischen Kampf als kleinsten gemeinsamen Nenner eines breiten Bündnisses hatte – wirtschaftspolitisch stark einschränkte.

Mandela blieb so ein verhinderter Revolutionär, ein unermüdlicher Vorkämpfer einer antirassistischen Gesellschaft, ein moderater, international hoch angesehener Staatsmann, aber keiner, der einer radikalen Umverteilung das Wort reden konnte. Die historischen Erfolge seiner Amtszeit sind daher schwer in Zahlen meßbar. Zu Mandelas Verdiensten zählen die Stabilität, die Südafrika heute genießt, und die Tatsache, daß das Land die friedliche Transition von einer menschenverachtenden, rassistischen Minderheitenherrschaft hin zur Demokratie vollbracht hat. In seine Versöhnungspolitik fielen auch die Prozesse der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Die gewährten zwar noch dem brutalsten Knecht des alten Regimes Straffreiheit, wenn er den Angehörigen der Opfer offenlegte, was passiert war – aber die Verfahren schlossen pragmatisch tiefe Wunden in einer bis heute noch immer zerrissenen Gesellschaft. Mandela war kein Rächer, er ist der prinzipientreue Visionär geblieben, der schon seine Grundschullehrerin verblüfft hatte.

In Südafrika hinterläßt er ein enormes moralisches Erbe, das seine Nachfolger im zerstrittenen und von Vetternwirtschaft, Machtmißbrauch und Korruptionsskandalen erschütterten ANC derzeit nicht im entferntesten würdigen können. Wie kein zweiter Präsident wurde Madiba, wie ihn seine Landsleute nach seinem Clan-Namen nennen, von allen Südafrikanern, Weißen wie Schwarzen, verehrt und geliebt. Als zuletzt stiller, aber dennoch dauerhaft charismatischer, moralischer Fixpunkt wird er dem Land, seinen Menschen und natürlich dem ANC fehlen. In ihrer Trauer um den außergewöhnlichen Staatsmann ist die Regenbogennation nun tatsächlich einmal vereint. Mandela hätte es verdient, daß sie es auch bleibt, wenn die Tränen getrocknet sind.

*** Aus: junge welt, Samstag, 7. Dezember 2013


Die Tränen der Krokodile

Von Jürgen Reents ****

Die Bundeskanzlerin hat Nelson Mandela als »Vater einer endlich freien Nation« und »Gigant der Geschichte« gewürdigt. In ihren Worten liegt ehrliches Mittrauern über seinen Tod. Angela Merkel wuchs in einem Land auf, in dem die Ächtung des früheren Apartheid-Regimes, die Solidarität mit seinen Opfern und Gegnern keine leere Formel war. Nun aber regiert sie einen Staat und eine Partei, in denen bis fast 1990 anderes galt. Diese Geschichte mit zu schultern, ist keine persönliche Pflicht – und wäre doch ein Gebot ihrer jetzigen Ämter. Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hat es unterlassen.

Konzerne und Politiker der Bundesrepublik waren eifrige Förderer und Partner des bis 1994 amtierenden Apartheid-Regimes: Westdeutschland bezog Uran aus Südafrika, lieferte im Gegenzug Technologien für Pretorias Basteln an einer Atombombe. Die Bundeswehr bildete südafrikanische Offiziere aus, verschaffte ihnen sogar Zugang zu geheimen NATO-Unterlagen. Daimler-Benz half den Rassisten beim Bau von Panzermotoren; bei anderen Militärprojekten kooperierten und verdienten AEG-Telefunken, Blohm & Voss, Klöckner, Krupp , Rheinmetall, Siemens, STEAG, Thyssen...

1983 antwortete die Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen: Eine »verwertbare Statistik« zu Waffenexporten an Südafrika sei »nicht verfügbar«. Das Blut von Steve Biko, der aufständischen Schüler in Soweto und zahlloser anderer Opfer der Apartheid klebte dick in bundesdeutschen Bilanzen. Manches geschah auch gegen geltende Richtlinien. Dazu sagte der ANC-Vertreter Pallo Jordan einst treffend: »Das Kind mag unehelich sein, aber die Vaterschaft ist unbestritten.« Zu dieser gehörte eine Reisenotiz von zwei CDU-Abgeordneten 1971: »Auf Jahrzehnte, wohl Generationen, gibt es zur derzeitigen Politik der Apartheid ... kaum eine Alternative, es sei denn das Chaos.« Ihr Geschäftsführer empfahl den Report seiner Fraktion zur Aufmerksamkeit.

Die »Welt« schrieb in ihrer gestrigen Online-Ausgabe, Mandela habe sein Land »zusammengeführt wie es niemand vor oder nach ihm vermochte«. Das textete man bei Springer früher anders. Als Heiner Geißler, einer von wenigen, argwöhnisch beäugten Apartheid-Gegnern in der CDU, Mandelas »bedingungslose Freilassung« forderte, las man in jener Zeitung: »Das Wort ›bedingungslos‹ geht genau einen Schritt zu weit.« Wir schrieben bereits das Jahr 1988, Mandela war fast 70 und saß inzwischen 26 Jahre im Gefängnis. Die deutschen Konservativen sahen ihn immer noch zu Recht inhaftiert, weil er – 1960 nach dem Massaker von Sharpeville – den bewaffneten Kampf gegen die Rassisten bejaht hatte.

In manch heutigem Nachruf fließen die Tränen der Krokodile.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Dezember 2013 (Kommentar)


Zurück zur Südafrika-Seite

Zurück zur Homepage