Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

In den Straßen Sowetos

Wo der Widerstand begann: Johannesburgs geschichtsträchtige Townships heute. Für die Ärmsten der Armen heißt der Alltag "Struggle"

Von Christian Selz, Johannesburg *

Spätestens seit dem Schüleraufstand vom 16. Juni 1976 ist Südafrikas größtes Township Soweto auch international zum Sinnbild der Zwangssiedlungen für Schwarze geworden. Der Ort steht stereotyp für den häufig romantisierten Mix aus Armut, Jazzkultur und dem Widerstand gegen die Apartheid. 16 Jahre nach den ersten freien Wahlen des Landes hat sich die gigantische Siedlung, die 1,3 Millionen Menschen beherbergt, stark verändert. Doch der »Struggle«, wie die Menschen hier den Kampf für Gerechtigkeit nennen, ist noch lange nicht vorbei.

Wer von Johannesburgs Innenstadt nach Soweto fährt, ist zunächst überrascht. Die in den meisten Townships Südafrikas nach wie vor allgegenwärtigen Blechhütten fallen hier anfangs kaum ins Auge. Die Straßen sind akkurat geteert, viele sogar durch Bürgersteige gesäumt, hinter kleinen Betonzäunen stehen einfache, aber stabile Häuschen. Etliche Familien haben ihr Heim ausgebaut und vergrößert. Teile von Soweto, wie beispielsweise Diepkloof Extension, sind zu reinen Villenvierteln geworden. Einkaufszentren, Bars und Restaurants sprießen wie Pilze aus dem Boden, sogar das Stadion für das Fußball-WM-Finale steht in Soweto.

Fast scheint es, als sei der so geschichtsträchtige Ort, der seit 2002 ein Stadtteil von Johannesburg ist, angekommen in der freien Zukunft, die sich die Schüler 1976 gewünscht hatten. Damals demonstrierten Tausende Kinder und Jugendliche gegen Afrikaans. Zukünftig sollte, so die Regierungsdirektive, in der Sprache der burischen Kolonialisten, und nicht mehr in englisch, unterrichtet werden. Ihr zunächst friedlicher Aufstand wurde von der Polizei niedergeknüppelt, Schußwaffen wurden eingesetzt, Hunderte junge Menschen starben im Kugelhagel - ein Fanal der weißen Herrschaft.

Schwarzes Selbstbewußtsein

Der Protest wurde zum Beginn einer Renaissance des Widerstands gegen das rassistische Regime. Die Black-Consciousness-Bewegung hatte den Schwarzen neues Selbstbewußtsein gegeben und war auch nach der Ermordung ihres Anführers Steve Biko durch die Polizei 1977 nicht mehr aufzuhalten. 1994 waren die South Western Townships - Soweto ist keinesfalls ein klangvoller afrikanischer Name, sondern eine schlichte Abkürzung aus den Zeiten der Apartheid-Städteplanung - frei wie der Rest des Landes. Der Fortschritt in Soweto ist nicht zuletzt Ausdruck dieser Freiheit. Schwarze haben heute Zugang zu höherer Bildung und besseren Jobs, die Chancen sind gestiegen.

Doch die glänzende Fassade ist nur das eine Gesicht des neuen Soweto. »Auf der anderen Seite sind die Hüttensiedlungen angewachsen, die extreme Armut ist heute deutlich sichtbarer«, sagt Claire Ceruti, Forscherin am Zentrum für Soziologische Recherchen an der Universität Johannesburg (CSR). Ihr Direktor am CSR, Peter Alexander, pflichtet ihr bei: »Wenn man als Tourist das erste Mal nach Soweto kommt, bemerkt man die Armut nicht. Man sieht viele neue Bauprojekte, und es scheint, als wäre es ein sehr dynamischer Teil der südafrikanischen Gesellschaft. Doch wenn man genauer hinschaut, wenn man in die Häuser der Leute oder in die Hüttensiedlungen abseits der Touristenrouten geht, findet man enorme Armut.«

Die Arbeitslosigkeit in Soweto liegt aktuell bei offiziell knapp 50 Prozent - die kleinen Straßenhändler, die sich mit dem Verkauf von etwas Obst und Süßigkeiten über Wasser halten, sind da noch nicht einmal eingerechnet. Lediglich 23,7 Prozent der Bevölkerung haben einen mehr oder minder festen Arbeitsplatz. Viele Menschen in Soweto müssen immer noch um die notwendigsten Güter des alltäglichen Lebens kämpfen: Strom, Wasser und Lebensmittel.

»Wasser ist Leben - Hört auf, es zu verkaufen«, steht in englischer Sprache auf einer kargen Mauer in Phiri, einem Teil von Soweto. Jabulani Molobela ist einer von denen, die hinter den Parolen stehen und die den neuen »Struggle« aufgenommen haben. Der heute Vierzigjährige wurde 1976 eingeschult. »Soweto hat damals gebrannt«, erinnert er sich an sein erstes Schuljahr. Später schloß er sich dem Congress of South African Students an, der Schülerorganisation der Unterdrückten. Nachdem diese 1985 verboten worden war, wurde auch Molobela 1987 ohne Verfahren ins Gefängnis gesteckt.

Die Schule brach er schließlich in der zwölften Klasse ab, ein Schritt den er heute zutiefst bereut. Doch er hatte keine Wahl: »Wir waren Soldaten des 'Struggles'«. Einmal, erzählt Molobela, und seine Augen funkeln, hätte er sich mit seinen Comrades wütend vor einem der gepanzerten Truppentransporter aufgebaut, lediglich eine Avocado in der Hand. Der Plan ging auf: In der Angst, daß da gerade eine Handgranate zwischen ihren Füßen gelandet sei, sprangen die Polizisten heraus. Doch nicht immer lief der Kampf so glücklich, ein Stück Schrot aus einem Polizei-Gewehr steckt noch immer in Molobelas Augenbraue - als Erinnerung an eine bewegte Zeit.

Erste Enttäuschungen

Als die inzwischen regierende Befreiungsbewegung ANC (Afrikanischer Nationalkongreß), für die er so lange gekämpft hatte, 1996 ihr marktliberales GEAR-Entwicklungsprogramm (Wachstum, Beschäftigung, Umverteilung) auflegte, brach Molobela mit ihr. Der Groll sitzt noch immer tief. »Thabo Mbeki hat niemals den Schmerz gespürt, er wurde niemals von den weißen Buren zusammengeschlagen«, schimpft er auf den Expräsidenten, der hinter dem Konzept stand und die Zeit des Kampfes im Exil verbracht hatte.

Heute ist Molobela Aktivist beim Soweto Electricity Crisis Committee (SECC), einer Nichtregierungsorganisation, die Mitglied im Antiprivatisierungsforum (APF) Südafrikas ist und sich für freien Zugang zu Wasser und Elektrizität für die arme Bevölkerung einsetzt. Im Rahmen des Programms Egoli 2000 hat Johannesburg zur Jahrtausendwende die Wasser- und Stromversorgung teilprivatisiert. Die Folgen für die Armen waren absehbar. Gerade einmal sechs Kubikmeter Wasser monatlich stand einem Haushalt in Soweto bis vor kurzem als kostenlose Grundversorgung zu. Bei durchschnittlich acht Personen pro Haushalt, sind das 25 Liter pro Kopf und Tag - etwas mehr als zwei Toilettenspülungen.

Nachdem sich eine Frau aus Phiri das Genick brach, als sie einen 20-Liter-Kanister Wasser auf ihrem Kopf von einem Gemeinschaftswasserhahn im nächsten Straßenzug nach Hause tragen wollte, weil dort die Versorgung unterbrochen worden war, klagten die Bewohner des Viertels gegen den Wasserkonzern Johannesburg Water. Sie bekamen recht und haben nun Anspruch auf zehn Kubikmetern - der durchschnittliche Verbrauch eines Haushalts in Soweto liegt nach Greenpeace-Zahlen von 2004 bei 14 Kubikmetern. Ist das Guthaben aufgebraucht, sitzen die Familien buchstäblich auf dem Trockenen.

Und im Dunkeln. Bei der Elektrizität reicht die frei zugängliche Menge sogar noch weniger lang. 50 Kilowatt gibt es pro Monat und Haushalt - damit könnte man zwei bis drei Glühbirnen die ganze Zeit durchbrennen lassen. Für einen Kühlschrank reicht der Strom allerdings schon nicht mehr. Und die Kosten für Energie steigen. Anfang des Jahres hat die Regierung dem halbstaatlichen Strommonopolisten Eskom einen Preisanstieg von jeweils 25 Prozent für die nächsten drei Jahre bewilligt.

Pragmatisches Handeln

Molobela und seine Genossen haben nach Jahren der Verhandlungen, Protestmärsche und nicht erfüllter Mindestforderungen deswegen inzwischen einen pragmatischeren Weg der Problemlösung gewählt. Sie überbrücken die abgeklemmten Wasser- und Stromleitungen: »Eskom wollte die Situation der Menschen hier nicht verstehen. Sie haben sie einfach abgeklemmt, also mußten wir sie wieder anschließen.« Am Stromkasten vor seinem Haus zeigt Molobela, wie das geht. Er weiß genau, welches Kabel wo angezapft werden kann, welche Teile er beschaffen muß, wenn die Mitarbeiter des Stromkonzerns mal wieder einen Haushalt lahmgelegt haben.«

Inzwischen gebe es unzählige entsprechend ausgebildete Aktivisten, die Sache hat sich verselbstständigt. Sie liefern sich ein regelrechtes Katz- und Maus-Spiel mit den Strom- und Wasserkonzernen. In seiner Straße verfüge nur noch ein einziges Haus über einen intakten Wasserzähler, erzählt Molobela - und das gehört dem Unternehmer, der die Geräte im Auftrag von Johannesburg Water installieren sollte. »Die sagen: Nothing for mahala - Nichts für umsonst«, empört sich Molobela, »doch wir sagen: Das Wasser kommt von Gott, wer hat also das Recht, es zu verkaufen?« Er verstehe schon, daß jemand für die Aufbereitung und den Transport bezahlen müsse, aber das sei Aufgabe der Regierung- zumindest, was die Ärmsten betrifft.

Auch Jeanett Matlhaela hat sich gewehrt. Daraufhin wurde ihr Haus von der Versorgung genommen, sie sollte nur noch Wasser aus einem Hahn an der Straße bekommen. Nun muß die gebrechliche alte Frau das kostbare Naß in Eimern hereinschleppen. Der Strom wird immer mal wieder abgeklemmt, momentan läuft er allerdings. »Wir sollen ja den Ball rollen sehen«, sagt Matlhaela mit leicht ironischem Unterton unter Hinweis auf die nahende Fußball-WM. Als wenn sie keine anderen Probleme hätte. Zusammen mit ihrer Tochter und deren fünf Kindern lebt sie in dem kleinen Drei-Zimmer-Haus in Phiri. Im Hof hinter dem Haus bauen sie ein wenig Gemüse an, zusammen mit der Rente und dem Kindergeld reicht das gerade so zum Überleben. Vor dem Haus liegt die Erde brach, zu viel Grün könnte die Kontrolleure des Wasserkonzerns aufmerksam werden lassen.

Phiris Bürgermeister Vusimuzi Mchunu vom ANC ist sich des Problems zwar bewußt, spielt es aber herunter. Mit dem Schicksal von Großmutter Matlhaela konfrontiert, sagt er nur: »Es sollte eine Lösung geben, aber ich habe momentan keine.« Ein Stadtratsmitglied, das noch von der vorhergegangenen Sitzung im Raum geblieben ist, springt ihm sofort zur Seite. Die Leute würden sich hinter ihren Großmüttern verstecken, um Leistungen zu erschleichen. Die wirklich von Armut Betroffenen seien nur »ein Tropfen im Wasser«. Mchunu fügt hinzu, daß Menschen mit Fernseher und Kühlschrank für ihn nicht arm seien. Der stämmige Mann verweist lieber auf das Essensprogramm an Schulen, das sein ANC gestartet habe, und die Zuschüsse für Familien, die sich die Schulgebühren nicht leisten könnten. Fazit: Alles Einzelfälle, wir tun genug.

Globaler Zusammenhang

Molobela hat für diese Argumentation nur ein müdes Lächeln übrig. Und er weiß, woher der Wind weht. Die Aktivisten der SECC sind eng vernetzt mit dem Antiprivatisierungsforum. Bei ihrem Kampf um die Grundversorgung geht es nicht nur um Alltagsbedürfnisse, sondern um politische Fragen. So halten die ebenfalls im APF organisierten Gruppen Keep Left und Socialist Group alljährlich einen Marxismus-Tag in Soweto ab, wo ideologische Fragen debattiert werden - auch, um die globalen Zusammenhänge nicht aus den Augen zu verlieren. Molobela beschreibt es praktisch: »Die meisten Leute hier bezahlen nicht für Strom und Wasser, also kümmern sie sich auch nicht um die Preissteigerungen. Aber die Unternehmen arbeiten natürlich weiter an Strategien. Deswegen brauchen wir den APF-Überbau, damit unser Kampf in die richtige Richtung geht.«

In Orange Farm

Wie wichtig dieser Rahmen ist, zeigt sich gute 45 Autominuten südöstlich von Soweto im Township Orange Farm deutlich schärfer. Der slumartige Wohnort entstand 1989 als Arbeitersiedlung für Industriebetriebe und Minen im Süden Johannesburgs. Hier gibt es noch nicht einmal eine Kanalisation, obwohl sie seit zehn Jahren versprochen wird. Im vergangenen Jahr wurde das Kanalisationsprojekt der Stadt erneut gestoppt, 57 der 64 Arbeiter wurden entlassen.

In einer Blechbarracke sitzen acht Männer zusammen, einstige Arbeiter der Manganfabrik SAMANCOR, einer Tochter der britischen BHP Billiton. Sie wirken erschöpft und hoffnungslos. Seit Jahren kämpfen sie um Entschädigung für die Manganvergiftungen, die sie und ihre Angehörigen in der Fabrik erlitten haben. Als der Konzern von der Erkrankung erfuhr, hatte er die Männer entlassen. Es muß für sie wie Hohn geklungen haben, als öffentlich wurde, daß BHP Billiton einen Spezialvertrag mit dem Stromversorger Eskom hat, nach dem der Strompreis etwa hundertmal niedriger ist als der Tarif für Privatverbraucher. Er liegt damit sogar unter dem Bereitstellungspreis. Immer, wenn die Arbeiter nun das Licht anschalten, subventionieren sie damit die Firma, die sie krank gemacht hat.

»Es scheint, als seien wir der vergessene Teil dieser Stadt«, sagt Sam Makgoka vom Wasserkrisenkomitee, Vorsitzender im Orange Farm Water Crisis Committee und aktiver Mitarbeiter im Itsoseng-Projekt. Itsoseng heißt »Wach auf« und ist ein Beleg dafür, daß die Menschen in Orange Farm den Kampf um Gerechtigkeit niemals aufgeben werden. Gladys Mokolo startete das Projekt gemeinsam mit anderen 1997 aus der Arbeitslosigkeit heraus. Anfangs versuchten sie, im verwilderten Buschland auf dem Gelände einer staatlichen Schule mit Gemüseanbau ein Auskommen zu verdienen, doch nachdem sie das Gelände urbar gemacht hatten, mußten sie es wieder räumen. Zudem ist der Anbau auf der geringen Fläche wenig effizient - auch weil die gespendete Saat genetisch manipuliert war, neue Zöglinge lassen sich aus der Vorjahresernte nicht ziehen.

Projekt Kindergarten

»Die Probleme türmen sich auf«, sagt Kaizer Sebidi, ebenfalls im Projekt aktiv. Die Menschen in Orange Farm seien nicht über die sterile Gensaat informiert worden, das Itsoseng-Projekt leiste deswegen nun Aufklärungsarbeit, doch sei es schwer, überhaupt noch an reproduzierbare Saat zu kommen. Es gebe inzwischen nur noch einen kleinen Garten, dafür aber ein Müll-Recycling-Projekt und einen Kindergarten mit Vorschule für die Menschen im Township. 85 Kinder werden hier betreut und unterrichtet, vier Erzieherinnen und eine Köchin haben so Arbeit gefunden.

Doch dort, wo ein »Golden Highway« die ärmsten Siedlungen Johannesburgs mit der reichsten Wirtschaftsmetropole des Kontinents verbindet, geschieht Unglaubliches - die Geschichte des Kindergartens, der eigentlich ein Vorzeigeprojekt ist, erzählt davon. Weil das Gesetz für die Vergabe von Kindergartenlizenzen fließendes Wasser und Toiletten mit Spülung verlangt, beides aber trotz ewiger Versprechungen der Stadtoberen noch nicht angeschlossen ist, droht der Einrichtung inzwischen die Zwangsschließung.

»Das sind die Frustrationen, mit denen wir leben, mein Junge«, sagt Mokolo mit einem Schulterzucken. Wer die kämpferische Frau trifft, weiß, daß sie deswegen nicht klein beigibt. Der Wasser- und Stromüberbrücker Molobela trifft den Nagel auf den Kopf: »Ich glaube, wir haben noch nicht erreicht, wofür wir gekämpft haben. Der 'Struggle' geht weiter.«

Für den Itsoseng-Kindergarten bittet Gladys Mokolo dringend um Unterstützung jeglicher Art. Sie ist zu erreichen unter 0027-11-8503477 oder itsosen

* Aus: junge Welt, 10. April 2010


Zurück zur Südafrika-Seite

Zur Seite "Armut, Massenarbeitslosigkeit, Hunger"

Zurück zur Homepage