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Syrien: "Es gibt viele Kapitäne"

Präsident Baschar al-Assad ist vergangenes Wochenende zur Eröffnung der Mittelmeerunion nach Frankreich gereist. Die WOZ hat ihn am Vorabend der Reise bei sich zu Hause in Damaskus besucht. Ein Auszug.

Von Alain Gresh, Damaskus *

Der syrische Präsident Baschar al-Assad empfängt die Gäste selbst an der Türe seines Hauses über den Dächern von Damaskus. Er gibt sich ungezwungen, das Treffen findet ohne Sicherheitsmassnahmen oder Kontrollen statt. «Hierher ziehe ich mich oft zusammen mit meiner Frau Bassma zurück. Hier lese ich, arbeite ich und bin produktiv. Das ist etwas, was im Präsidentenpalast nicht möglich ist», sagt al-Assad.

Auf die Frage, wie es um die innenpolitischen Reformen in Syrien steht, zeigt sich al-Assad davon überzeugt, dass der Grund für die «Verzögerungen» bei der allgemeinen Situation in der Region zu suchen ist. Syrien sei zwei Gefahren ausgesetzt: zum einen dem Extremismus, der durch den Irakkrieg genährt werde. Und zum andern den Destabilisierungsversuchen, die seit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierminis­ters Rafik Hariri im Jahr 2005 gegen seine Regierung geführt würden. «Damals waren wir gerade dabei, ein neues Gesetz für die politischen Parteien auszuarbeiten. Doch nach dem Attentat musste das verschoben werden.» Erst wenn in den USA 2009 eine neue Regierung an die Macht kommt, werden «wir ernsthafte politische Reformen in Angriff nehmen können. Allerdings nur unter den Bedingungen, dass nichts Schwerwiegendes in der Region geschieht, dass man nicht weiterhin von Krieg spricht und dass sich der Extremismus zurückzieht.»

Und was geschieht mit den politischen Gefangenen? «Hunderte Gefangene sind bereits vor oder kurz nach meinen Amtsantritt im Jahre 2000 freigelassen worden», fährt der Präsident fort. «Noch immer befinden sich rund tausend Personen wegen Terrorismus in Haft. Aber wollen Sie, dass wir diese auch freilassen?»

Im Anschluss entwickelt sich ein Gespräch über Michel Kilo. Der Intellektuelle wurde im Mai 2006 verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er habe dazu beigetragen, das «Nationalgefühl zu schwächen». Allerdings hat er nie zu Gewalt aufgerufen, noch hat er sie angewendet. Kilo habe aber zusammen mit Walid Dschumblatt, dem libanesi­schen Drusenführer und Vor­sitzenden der Progressiven Sozialistischen Partei, eine gemeinsame Erklärung unterschrieben, entgegnet al-Assad. Dies, obwohl «Dschumblatt vor zwei Jahren öffentlich die USA dazu aufgerufen hat, in Syrien einzumarschieren und sich des Regimes zu entledigen. Ge­mäss unseren Gesetzen macht ihn das zu einem Staatsfeind. Und wer sich mit ihm trifft, kommt ins Gefängnis. Damit ­Michel Kilo freikommt, braucht es einen Gnaden­erlass vom Präsidenten, den ich ihm gerne gewähre, wenn er bereit ist, seinen Fehler anzuerkennen.» Weder das Argument, dass Kilos Inhaftierung Syriens Bild im Ausland schade, noch die Tatsache, dass Kilo vehement nationalistische Überzeugungen vertritt und der US-Politik feindlich gegen­übersteht, vermögen den Präsidenten zu erweichen.

Auf die Hoffnungen angesprochen, die seine Wahl im Jahr 2000 geweckt hatten, spricht al-Assad von Illusionen: Es ist wie «wenn junge Menschen, die heiraten wollen, glauben, dass die Ehe eine wunderbare Sache ist. Am Anfang haben sie noch starke Gefühle füreinander. Aber später setzt der Schock der Realität ein. Wir können nicht innerhalb weniger Wochen alles verändern.» Und er fügt hinzu: «Wenn Sie Schach spielen, können Sie auch nicht einfach die Regeln ändern, sondern müssen die­se respektieren.» Ist das der Grund, warum er heute sagt, es brauche «eine ganze Generation, um eine echte Reform umsetzen zu können»? Offensichtlich durchläuft al-Assad die harte Lehre der Macht.

Nachdem sein älterer Bruder Basil 1994 bei einem Autounfall ums Leben kam, rief ihn sein Vater, Präsident Hafez al-Assad, zurück nach Damaskus. Baschar al-Assad, der in London eine Ausbildung als Augenarzt absolviert hatte, verbrachte danach sechs Jahre im Schatten seines Vaters, ohne je eine offizielle Funktion auszuüben. «Der Präsident hat nie etwas für mich getan. Er hat mich weder zum Vizepräsidenten, Minis­ter oder Parteichef ernannt. Er wollte vielmehr, dass ich meine ­Ausbildung beendete. Ich hatte nie vor, eines Tages Präsident zu werden, aber ich wusste immer, dass ich am öffentlichen Leben teilhaben würde. In Syrien treten die Söhne in die Fussstapfen der Väter.»

Nach dem Tod seines Vaters konnte Baschar al-Assad dank einer Verfassungsänderung zum Nachfolger gewählt werden. Dass die Wahl auf ihn fiel, habe zweierlei Gründe, sagt al-Assad: «Die Menschen haben mich gewählt, weil ich der Sohn von jemandem bin, der Stabilität in unser Land und in unsere Gesellschaft brachte. Und in unserer Gesellschaft kann ein Sohn immer nur ein Abbild seines Vaters sein. Ausserdem wussten einige Leute, dass ich ein Modernisierer war. Ich war Leiter der syrischen Informationsgesellschaft und habe unter anderem das Internet und Satellitenfernsehen eingeführt. Und vielleicht haben mich andere, obwohl sie mich nicht mochten, der alten Parteigarde vorgezogen.»

Auf die Frage, was er sich für die Zukunft seines Landes erhoffe, antwortet al-Assad: «Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft noch offener sein wird. Dass die nächste Generation genauso modern ist, wie es jene in den sechziger Jahren war. Und dass es eine klare Trennung zwischen Religion und Staat geben wird.» Trotzdem bleibt er Realist: «Das Schiff wird nicht von mir alleine gesteuert. Es gibt viele verschiedene Kapitäne, amerikanische, europäische, also ...»

* Der Nahostspezialist Alain Gresh arbeitet als Journalist für «Le Monde diplomatique» in Paris.

Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 17. Juli 2008



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