Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Syrischer Aufstand verwandelt sich in regionale und globale Kriege

Von Phyllis Bennis *

Ein geteiltes, balkanisiertes Syrien droht als gefahrvolle Eventualität, wenn selbst der UN-Generalsekretär Ban ki-Moon erklärt, dass der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Weltmächten geworden ist.

Die Nachrichten aus Syrien sind dieser Tage wirklich schlimm. Und schlimme Dinge in Syrien bleiben nicht auf das Land beschränkt – auch wenn die syrische Zivilbevölkerung mit Abstand den höchsten Preis dafür zahlt. Wenn ausländische Regierungen in einem Bürgerkrieg die Fäden ziehen und, geleitet mehr von engen eigenen Interessen als der Sorge um die dortige Zivilbevölkerung, beide Seitenmit Waffen versehen, dann befinden wir uns in ernsthaften Schwierigkeiten.

Und derzeit bleibt dieses Spiel der auswärtigen Supermächte unglücklicherweise das bestimmende. Syrien ist zum Schmelztiegel für eine ganze Zahl von separaten Kriegen geworden, Kämpfen um Macht und Einfluss, um regionale Ressourcen und deren Zugang, für strategische Lokalitäten und militärische Ausdehnung. In diesen Kriegen stehen regionale Kandidaten der arabischen Golfstaaten und der Türkei gegen Syrien und den Iran. Sie bestimmen die Bedingungen in den sich steigernden Religionsauseinandersetzungen zwischen dem sunnitisch dominierten Saudi-Arabien und Katar einerseits und den Schia-Machtträgern in Syrien, Irak und Iran. Sie gestalten den Wettstreit im Nahen/Mittleren Osten zwischen den USA und Russland um globale militärische/strategische Macht aus. Und, was darüber hinaus entscheidend ist, Syrien stellt eine zentrale Komponente in der US-amerikanischen, israelischen und westlichen Kampagne gegen den Iran dar.

Sogar UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der gewöhnlich Washingtons Positionen vertritt, erkannte an, dass der Syrienkonflikt zu einem „Stellvertreterkrieg“ geworden sei. Er rief die Großmächte dazu auf, ihre Rivalitäten zu überwinden, um eine Lösung für ein Ende der Gewalt zu finden. Bisher tut sich nichts in dieser Richtung. Es sollte nicht vergessen werden, dass Moskaus unnachgiebiges Bewahren seines Marinestützpunkts in Tartus, an Syriens südlicher Mittelmeerküste gelegen, seine perfekte Entsprechung findet in Washingtons Engagement in dem Hafen in Bahrein, in dem die 5. Flotte des Pentagons stationiert ist. Russland wird für seinen Tartus-Stützpunkt bis um letzten Syrer kämpfen, so wie die USA alles tun werden, einschließlich der Unterstützung einer saudischen Militärintervention zur Unterdrückung friedlicher Proteste in Bahrein, um die 5. Flotte dort zu halten.

Und keiner dieser „global players“ ist auch nur im geringsten daran interessiert, was mit dem syrischen Volk passiert.

Syriens demokratische Opposition am Leben, aber "übertönt von der Kakophonie von Kanonen- und Gewehrfeuer"

Die kleine gute Nachricht, wenn man sie so bezeichnen will, ist, dass die ursprüngliche demokratische, überwiegend gewaltlose syrische Bewegung, die sich im Frühjahr 2011 als Reaktion auf den Arabischen Frühling erhob, noch nicht vollständig verschwunden ist. Der frühere ABC News -Chef im Nahen/Mittleren Osten, und langjähriger Syrienkorrespondent Charlie Glass beschrieb:

„die Menschen, die dies tatsächlich auslösten, Menschen, die Jahre in Gefängnissen verbracht hatten als Gefangene des Assad-Regimes, die Protestdemonstrationen wollten, die zivilen Ungehorsam wollten, die Verhandlungen mit dem Regime für einen Übergang – einen friedlichen Übergang – wollten , bei dem es letztendlich freie Wahlen geben würde, die das Regime verlieren könnte oder würde, diese Stimmen werden zur Zeit überall in Syrien übertönt von den Kakophonie von Artillerie- und Gewehrfeuer. Diese Menschen sind, so glaube ich, desillusioniert von den USA. Diese Menschen in der friedlichen Opposition wollen keine Bauern im Schach der Großmächte werden.“

Charlie Glass hat recht. In den USA zu mindestens hören wir diese Stimmen nicht. Die Oppositionsstimmen, die wir hören, sind die, die sich die USA zu eigen gemacht haben, die der höchst disparaten, zersplitterten und zumeist niemandem verantwortlichen Milizen der Freien Syrischen Armee, und die im Exil lebenden , stark gespaltenen politischen Kräfte, die sich im Syrischen Nationalrat gruppiert haben. Alle diese Gruppen werden gestärkt mit Geld, neuen Waffen und, was entscheidend ist, mit politischer Unterstützung seitens der USA, Europas und deren regionaler Verbündeter. Sie verfügen auch über eine gewisses Maß an Unterstützung innerhalb Syriens, wie übrigens auch das Regime selbst, aber es ist völlig unklar, wen die vom Westen unterstützte bewaffnete Opposition in Wirklichkeit repräsentiert.

Die interne Opposition bleibt bestehen, wobei sie weiter auf politische Mobilisierung setzt, der Gewaltlosigkeit soweit wie möglich verpflichtet bleibt und sich einer US- oder anderen internationalen Einmischung in den militärischen Kampf widersetzt.

Aber in der Zwischenzeit toben blutige Schlachten in der historischen Stadt Aleppo und selbst in Teilen von Damaskus, wie auch in anderen Städten überall im Land. Die Regierungstruppen haben ihre Angriffe eskaliert, obwohl das Militär mit ernsten Problemen beim Personal und insbesondere der Ausrüstung, Kampfhubschraubern und anderen Waffensystemen, die in der sengenden Hitze und dem Sand des syrischen Sommers versagen, konfrontiert ist. Die oppositionellen Militärkräfte scheinen stärker zu sein, mit Zugriff auf Panzer und andere schwerer Ausrüstung, die entweder von Regierungsstützpunkten erobert wurden oder von desertierenden Soldaten mitgebracht wurden. Anders als die demokratische gewaltlose Opposition lehnen NSR und FSA jegliche Verhandlungen oder politische Vereinbarungen mit dem Regime, wie sie von vielen Syrern im Land selbst unterstützt werden, vollständig ab. Eine militärische Lösung der syrischen Krise kann es aber nicht geben.

Das Vorgehen auswärtiger Mächte, die das Militär auf einer der beiden Seiten verstärken, dient lediglich dazu, das Kämpfen zu verlängern. Die Schwächung des Militärs beider Seiten könnte den brutalen Kreislauf des Kämpfens reduzieren. Das regierungstreue Militär scheint konfrontiert zu werden mit Schädigungen der Ausrüstung und durch Fahnenflucht, was dazu beitragen könnte die Kämpfe zu reduzieren. Aber das wachsende religiöse Sektierertum des syrischen Konflikts bleibt ein Gefahrenmoment. Die Flucht hochrangiger Regierungsmitglieder des syrischen Regimes, wie z.B. das kürzlich erfolgte Überlaufen des Premierministers Riad Hijab, stellen einen kräftigen Schlag gegen die Legitimität des Regimes dar. Aber bei fast allen der hochrangigen Überläufer handelt es sich um die kleine Zahl der Angehörigen von Nicht-Alawiten unter den oberen Rängen von Syriens militärischer und politischer Elite. Hijab, z.B., ist Sunnit. Daher ist die alawitische Identität des verbleibenden Machtzentrums der syrischen Regierung stärker als je zuvor. Das syrische Militär könnte reduziert werden auf ein im wesentlichen alawitische Miliz, bei einem intakt gebliebenen Regime, das allerdings gezwungen wäre, sich in eine isolierte alawitische Bastion zurückzuziehen. Ein gespaltenes, balkanisiertes Syrien droht als gefahrvolle Eventualität.

Eine Steigerung der Militarisierung des Konflikts – inklusive durch Reparatur oder Ersatz der Waffen des Regimes, oder die Lieferung von noch mehr , besseren, schwereren Waffen an die Opposition – wird das Töten nicht beenden, es wird noch mehr davon zur Folge haben.

Gegenwärtig scheint klar, dass die Obama-Regierung nicht direkt in den Kampf weder einzugreifen gewillt ist noch es beabsichtigt, gewiss nicht mit Bodentruppen, und bis jetzt auch nicht mit Kampfflugzeugen oder Bombardierungen. Der Hauptgrund dafür ist, dass das syrische Militär, insbesondere mit seinem Luftabwehrsystem, eines der stärksten in der Region ist. Eine US-Bombardierungskampagne würde, anders als in Libyen, nicht einfach mit dem Abdrehen und dem Rückflug der Piloten enden.

Wie der damalige Verteidigungsminister Robert Gates uns letztes Jahr in Erinnerung rief bei der Diskussion über Libyen, die Einrichtung einer Flugverbotszone „beginnt mit einem Angriff auf Libyen zur Zerstörung seiner Luftabwehr. Auf diese Weise wird eine Flugverbotszone eingerichtet. Und danach kann man Flugzeuge überall im Land herumfliegen lassen ohne sich über den Abschuss unserer Jungen Sorgen machen zu müssen. Aber auf diese Weise beginnt man sie.“ Das war Libyen – das praktisch über kein Luftabwehrsystem verfügte. Dies hier ist Syrien. Wenn sie Syrien bombardieren, werden US-Kampfflugzeuge abgeschossen werden. Piloten werden fast unweigerlich getötet oder gefangen genommen werden. Damit befinden sich die USA unmittelbar im Krieg, nicht bloß als Unterstützer einer Seite, sondern als Beteiligte auf dem Boden. Denn selbst wenn man nicht beabsichtigte Bodentruppen einzusetzen, befindet sich der erste abgeschossene Pilot auf dem Boden. Und das bedeutet, dass andere Truppen – vermutlich Spezialkräfte – losgeschickt werden um den Piloten zu retten, und einige davon werden gefangen genommen oder getötet, und Syrien fängt an mehr und mehr auszusehen wie der Irak als wie Libyen.

Kofi Annan tritt zurück

An der UN- und internationalen diplomatischen Front gibt es zwei neue Entwicklungen: der Rücktritt Kofi Annans und die Unfähigkeit des Sicherheitsrats sich auf eine Resolution zu einigen, die helfen könnte, das Kämpfen in Syrien zu beenden.

Bei dem Primat der auswärtigen Akteure, und trotz der Eskalation des Krieges, war die Entscheidung des ehemaligen Generalsekretärs, von seinem Posten als Gesandter der UN (und, offiziell, der Arabischen Liga) für Syrien zurückzutreten, sicherlich verständlich, vollkommen nachvollziehbar und vielleicht auch unausweichlich. Annan war dem erfolgreichen Abschließen einer Feuerpause, dem Ausgangspunkt seines Sechs-Punkte Friedensplans, keinen Schritt näher gekommen. Aber sein Rücktritt beleuchtet zwei harte reale Sachverhalte. Erstens, dass, was immer der Fall ist, auswärtige Mächte – insbesondere die USA, Saudi-Arabien, Katar, die Türkei, Russland, der Iran – lediglich für ihre eigenen engeren strategischen Interessen und nicht für die der syrischen Bevölkerung operieren. Und zweitens lieferten der UN-Sicherheitsrat und seine Mitgliedstaaten keinerlei Unterstützung für eine potenzielle politische Lösung, sondern sie stärkten stattdessen die militärischen Kräfte auf beiden Seiten.

Es ist bezeichnend, dass Annan den Sicherheitsrat und seine Mitglieder direkt kritisierte, insbesondere seine fünf ständigen Mitglieder, China, Frankreich, Groß-Britannien, Russland, USA, bekannt als die „Ständigen Fünf“. Während der Sicherheitsrat anfänglich Annans Plan guthieß, gab es nie irgendeine wirkliche Unterstützung für ihn oder für die Arbeit des UN-Beobachter Teams in Syrien. Die drei US-, britischen und französischen Resolutionen forderten strenge UN-Sanktionen und eine breite Palette von ökonomischen und diplomatischen Druckmitteln gegen das syrische Regime. Gegen alle drei legten Russland und China ihr Veto ein. Die USA und ihre Verbündeten behaupteten (und zum damaligen Zeitpunkt wohl wahrheitsgemäß) dass sie keinerlei Absicht hegten, direkt in die militärischen Kämpfe gegen die syrische Regierung einzugreifen. Aber die drei bestanden darauf, dass alle diese Resolutionen unter dem Kapitel VII der UN-Charta getroffen würden – derselben Vorbedingung für die Autorisierung des Einsatzes von Gewaltmaßnahmen.

Die Resolutionen hätten gut ein Drehbuch für die politische Bühne einer direkten US-/europäischen/NATO-Partizipation in den Kämpfen abgeben können. Wenn man den Präzedenzfall der letztjährigen Sicherheitsrats-Abstimmung zu Libyen betrachtet, als die Ermächtigung zu einer Flugverbotszone unmittelbar transformiert wurde in einen vollen US/NATO-Luftkrieg, dann war diese Art von Eskalation eine begründete Vermutung.

Wir werden niemals wissen, ob Russland z.B. Resolutionen akzeptiert hätte, die Druck, vielleicht sogar einschließlich eines Waffenembargos (das Waffenverkäufe, Unterstützung, Reparaturen oder anders verbot) für beide Seiten – wenn sie nicht unter dem Kapitel VII gefasst worden wären. Das hätte tatsächlich von gewissem Wert gewesen sein können. Stattdessen schlugen die Resolutionen fehl.

Aber ist die UNO paralysiert oder erledigt sie tatsächlich ihre Aufgaben?

Es ist von einer gewissen Ironie, dass die große Spaltung zwischen den Ständigen Drei ( USA, Frankreich, GB ) und den Ständigen Zwei ( Russland und China ), die gegenseitig die Chance der Kapitel VII Autorisierung blockierten, in Wirklichkeit dem Sicherheitsrat erlaubten, die Verpflichtung seiner Charta zu verfolgen, die „Geißel des Krieges“ an ihrer weiteren Ausbreitung zu hindern. Anders ausgedrückt, wenn der Sicherheitsrat sich auf eine Kapitel VII Resolution verständigt hätte, wäre die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation mit noch mehr Gewalt größer gewesen, als die einer schnellen Beendigung des Krieges.

Es gibt da eine gewisse Art von revisionistischer Geschichtsnarrativ der Vereinten Nationen. Das schreckliche Vermächtnis der „humanitären Interventionen“ der 1990er Jahre und des Irak-Kriegs von 2003 bedeuten nun, dass die UNO als Versager gesehen wird, wenn sie die Teilnahme an militärischen Aktionen verweigert, anstatt sie als Versager anzusehen, wenn sie sich dem Zug in den Krieg anschließt. Wir sollten uns bewusst bleiben, dass eine der größten Leistungen der UNO die Weigerung des Sicherheitsrats war, George W. Bushs Krieg gegen den Irak 2002-03 zu ermächtigen. Der achtmonatige Widerstand ermöglichte dieser globalen Institution eine Partnerschaft mit der außergewöhnlichen globalen Friedensbewegung jener Periode – dem Moment, als „die Welt nein zum Krieg sagte“. Das sollte ein Moment sein, auf den man sich beruft, nicht einer, den man verwirft.

Einer von Syriens Führern des gewaltlosen Widerstands, Michel Kilo, war Teil einer Oppositionsdelegation, die nach Moskau reiste, um sich mit offiziellen russischen Vertretern zu treffen und eine Strategie für die Beendigung der Kämpfe zu entwerfen.“ Wenn diese Zerstörungen weitergehen und das herrschende Regime gewinnt, wird es über einen Ruin herrschen und damit eine strategische Niederlage erleiden. Wenn die Opposition gewinnt, wird sie ein Land in einem unregierbaren Zustand erben. Auf alle Fälle ist es notwendig diese Gewalt, dieses Blutvergießen zu stoppen.“

[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]

* Phyllis Bennis ist "Fellow" (Forschungsstipendiatin) am Institut für Politikwissenschaft (Institute for Policy Studies) in Washington DC - dort ist sie Direktorin des "New Internationalism Project" - und am Transnationalen Institut (Transnational Institute) in Amsterdam. Sie ist Expertin für die US-Außenpolitik insbesondere mit Bezug auf den Nahen und Mittleren Osten. Zehn Jahre lang arbeitete sie als Journalstin für die UNO, für die sie heute noch als Beraterin tätig ist. Eines ihrer letzten Bücher befasst sich mit dem US-geführten "Krieg gegen den Terrorismus": "Before & After: US Foreign Policy and the War on Terrorism".

Originalartikel: "Syrian Uprising Morphs Into Regional and Global Wars", by Phyllis Bennis, August 10, 2012; www.ips-dc.org



Zurück zur Syrien-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage