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"Im Namen der Revolution"

Bisher ruft UN-Vermittler Brahimi in Damaskus vergebens nach einer Waffenruhe beider Seiten

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der UN-Sondervermittler für Syrien, Lakhdar Brahimi, versucht die Bürgerkriegsparteien in Damaskus zu einer Waffenruhe zu überreden. Das Kriegsgeschehen verspricht ihm jedoch wenig Aussicht auf Erfolg.

»Wohin soll das nur führen?« Wie so oft am Nachmittag sitzt Herr M. in der Lobby seines kleinen Hotels in Damaskus und sieht sorgenvoll auf den Fernseher. Gerade wird eine Kundgebung aus Beirut übertragen, Anlass ist die Ermordung des libanesischen Geheimdienstkoordinators Wissam al-Hassan am Vortag. Mit dem Mann starben zwei weitere Personen in einer engen Straße in Aschrafiyeh. Mehr als 120 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Zehntausende, hauptsächlich Sunniten, demonstrierten landesweit gegen den Anschlag. Regierungschef Nadschib Mikati hatte Präsident Michel Suleiman am Vortag seinen Rücktritt angeboten. Der Präsident habe ihn allerdings gebeten, vorerst im Amt zu bleiben.

Auf dem Bildschirm ist ein Politiker zu sehen, der mit jedem Satz den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad beschuldigt, für den Mord verantwortlich zu sein. Herr M. verbirgt das Gesicht in den Händen und seufzt. »Politiker müssen zurückhaltender sein und die Untersuchung der Sicherheitskräfte abwarten«, sagt er kopfschüttelnd. »Mit ihren flammenden Reden hetzen sie die Menschen auf, wohin soll das nur führen?«

Libanon und Syrien seien eng verbunden, sagt Aziz*, der in der Rezeption des Hotels arbeitet. »Wenn es in einem der beiden Länder Probleme gibt, ist das wie eine Grippe, das andere Land steckt sich sofort an.« Man hätte die beiden Länder nie voneinander trennen dürfen, fügt er hinzu. »Syrien und Libanon - das ist doch eine Familie.«

Erst vor wenigen Tagen war Saleh*, Mitarbeiter und Fahrer von Herrn M., verschwunden. Auf dem abendlichen Nachhauseweg in einen etwa 6 Kilometer entfernten Vorort war Saleh an einem Kontrollpunkt der neuen - vom Staat eingeführten - Volkskomitees festgenommen worden. 24 Stunden später ließ man ihn wieder frei, seine Festnahme war eine Verwechslung.

Oft verschwinden Menschen in Damaskus und Umgebung. Manchmal bleiben sie verschollen und niemand weiß, ob sie in einem Gefängnis gelandet oder »im Namen der Revolution« entführt worden sind. Manchmal gibt es Forderungen nach schwindelerregenden Lösegeldsummen. Doch selbst wenn die ganze Familie oder das ganze Dorf zusammenlegt und gezahlt werden kann, kehren die Verschwundenen oft nicht zurück. Manchmal werden ihre Leichen vor den Häusern abgelegt.

»Im Namen der Revolution« raubten bewaffnete und maskierte Männer kürzlich eine Familie aus, deren Auto sie »kontrolliert« hatten. In einem Ort wurden die Tochter und der Sohn eines Generals erschossen. Zwei Brüder erfuhren das gleiche Schicksal, weil sie »aus einer Familie von Alawiten stammen«, erzählt ein Mann aus dem Ort. Konfessionelle Spannungen nähmen zu, sagt er. »Es ist furchtbar, wie unsere Gesellschaft durch diesen Krieg zerfällt.«

Als der UN-Sondervermittler für Syrien, Lakhdar Brahimi, am Freitag in Damaskus landete, war der Himmel über der Hauptstadt mit dem Lärm von Kanonen, Mörsergranaten und Gewehrsalven erfüllt. Seit Tagen gehen die syrischen Streitkräfte mit Unterstützung der Luftwaffe gegen bewaffnete Gruppen im Umland von Damaskus vor. Die Kämpfer verbreiten ihrerseits Angst und Schrecken mit willkürlich platzierten Sprengsätzen, Mörserbeschuss oder plötzlichem Auftauchen. Zivilisten wissen nicht, wie sie sich der Kämpfer erwehren sollen. Immer mehr Tote und Zerstörung erschüttern das Land. Am Sonntag erst explodierte eine Autobombe vor einer Polizeistation im Christenviertel Bab Tuma und tötete mindestens zehn Menschen.

»Wenn sie meinen, sich bekämpfen zu müssen, sollen sie es doch in der Wüste tun und nicht in unseren Wohnvierteln«, sagt ein wütender Familienvater, der zum wiederholten Male mit Frau und Kindern aus seiner Wohnung geflohen ist, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Ein junges Paar, das gerade erst geheiratet und sich neu eingerichtet hatte, fand seine Wohnung nach dem Ende der Kämpfe komplett leer geräumt vor. Niemand wird je erfahren, wer die Diebe waren. Polizeiliche Ermittlungen gibt es nicht mehr, seit Polizisten von den Aufständischen gezielt getötet werden. Viele haben den Dienst quittiert, auch wenn sie nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen.

Vier Tage will Lakhdar Brahimi in der Stadt bleiben. Die Beteiligten müssten eine »einseitige Entscheidung für einen Stopp der Gewalt treffen«, sagte er nach einem ersten Treffen mit Präsident Assad. Ob er Erfolg haben wird? »Meinen Segen hat er«, meint Hotelbesitzer M. »Wir alle wollen, dass die Waffen schweigen, nicht nur zum Opferfest.« * Namen geändert

* Aus: neues deutschland, Montag, 22. Oktober 2012


Syriens Krieg greift über

Tote bei Bombenanschlag in Damaskus / Demonstration in Beirut eskaliert

Von Christin Odoj **


Während UN-Vermittler Lakhdar Brahimi in Syrien für einen Waffenstillstand wirbt, starben am Sonntag bei einem Bombenanschlag in Damaskus mindestens zehn Menschen. In Aleppo explodierte ebenfalls ein Sprengsatz vor einem Krankenhaus. Unterdressen ergreift der Konflikt auch das Nachbarland Libanon.

Die Autobombe explodierte syrischen Berichten zufolge vor einer Polizeistation im mehrheitlich von Christen bewohnten Stadtteil Bab Tuma in der Altstadt von Damaskus. Unter den Toten soll nach Angaben der syrischen Nachrichtenagentur Sana auch ein Polizist gewesen sein. 29 Menschen seien verletzt worden. Bei der Explosion vor einem syrisch-französischen Krankenhaus in Aleppo gab es ebenfalls Verletzte.

Die Anschläge fanden etwa zeitgleich mit einem Treffen zwischen Brahimi und Syriens Präsidenten Baschar al-Assad statt. Bereits am Sonnabend war der algerische Diplomat mit Syriens Außenminister Walid al Mualem zusammengekommen, um über eine kurze Feuerpause von drei Tagen zu verhandeln, die während des bevorstehenden islamischen Opferfests »Eid al-Adha« herrschen soll. Regierung und Opposition hätten sich zwar offen gegenüber Brahimis Vorschlag gezeigt, stellten aber Bedingungen.

Unterdessen kam es anlässlich der Beisetzung des libanesischen Geheimdienstgenerals Wissam al-Hassan, der am Freitag einem Attentat zum Opfer gefallen war, am Sonntag in Beirut zu Ausschreitungen. Anhänger der antisyrischen Oppositionsbewegung versuchten am »Tag des Zorns«, das Regierungsgebäude zu stürmen. Die Polizei soll Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt haben. Zuvor hatten Tausende Menschen den Rücktritt von Ministerpräsident Nadschib Mikati gefordert, dem Nähe zum syrischen Präsidenten vorgeworfen wird.

** Aus: neues deutschland, Montag, 22. Oktober 2012


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