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Wirtschaftskrieg

Bundesregierung plant "Wiederaufbau" Syriens. Leidtragende der Sanktionen ist die Zivilbevölkerung

Von Karin Leukefeld *

Vertreter »aus mehr als 50 Staaten« und ausgewählte syrische Oppositionelle haben sich am Dienstag in Berlin getroffen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die zukünftige Entwicklung des Landes zu besprechen. Die Zusammenkunft der »Arbeitsgruppe Wirtschaftlicher Wiederaufbau und Entwicklung der Freundesgruppe des syrischen Volkes« wurde im Auswärtigen Amt von Minister Guido Westerwelle (FDP) eröffnet. Geleitet wird der Zusammenschluß, der sich erstmals im Mai in Abu Dhabi getroffen hatte, von Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes wurden von seiten syrischer Oppositioneller der Vorsitzende des Syrischen Nationalrats (SNR), Abdelbaset Sieda, der Politiker Riad Seif und Syriens ehemaliger stellvertretender Erdölminister Abdou Husameddin erwartet.

Zuvor hatte Sieda am Montag bei einem Treffen mit dem spanischen Außenminister García Marghallo in Madrid mehr und bessere Waffen für die Aufständischen sowie ein militärisches Eingreifen des Auslands gefordert, um »syrische Zivilisten zu schützen«. In Syrien selbst liefert sich unterdessen die mit dem SNR verbündete »Freie Syrische Armee« erbitterte Kämpfe mit den regulären Streitkräften, was zu enormen Verlusten in der Bevölkerung und zur Zerstörung der Infrastruktur führt. Für die Zeit nach der Zerstörung Syriens rechnen SNR und »Freunde Syriens« allein für die ersten sechs Monate damit, Wiederaufbauhilfe in Höhe von zwölf Milliarden US-Dollar zu benötigen.

Die »Freunde Syriens« sind ein loser Zusammenschluß von Staaten und politischen Organisationen um die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die Golfmonarchien. Die Gruppe, die bei ihrer zweiten Sitzung in Istanbul im April 2012 den Syrischen Nationalrat als »legitime Vertretung« Syriens anerkannt hatte, agiert parallel zum UN-Sicherheitsrat und betreibt politisch, militärisch und finanziell den Sturz der syrischen Regierung. Ein drittes Treffen ist für Oktober in Marokko vorgesehen.

Um die Koordinierung der Syrien-Maßnahmen der Bundesregierung sicherzustellen, hatte das Auswärtige Amt Anfang August eine ressortübergreifende »Task Force« eingerichtet, die von Botschafter Boris Ruge geleitet wird, dem Regionalbeauftragten des Ministeriums für den Nahen und Mittleren Osten und den Maghreb. Ruge hatte noch Anfang 2010 in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium und der syrischen Regierung einen »Syrisch-Deutschen Wirtschaftsrat« gegründet, um die bilateralen Handelsbeziehungen »positiv zu entwickeln«.

Nach der Einstellung aller Entwicklungshilfeprojekte in Syrien will die Bundesregierung nun allerdings nicht nur die syrische Ökonomie neu gestalten, sondern auch »die humanitäre Hilfe für die Menschen verstärken, die in Syrien Not leiden«, sagte Westerwelle. Deutschland werde sich dafür einsetzen, daß Damaskus weiter isoliert werde, sagte der Außenminister am Wochenende anläßlich der Übernahme des Vorsitzes im UN-Sicherheitsrat für den Monat September durch Berlin. Wesentlicher Teil der europäisch-US-amerikanischen Isolationspolitik ist das Verhängen von Sanktionen. Das syrische Außenministerium hat mehrfach mit Schreiben an die Vereinten Nationen und den Sicherheitsrat auf die Folgen dieser Embargomaßnahmen hingewiesen, die der Ökonomie des Landes und der Bevölkerung schweren Schaden zufügten. Die Syrer würden »zweimal bestraft«, hieß es in einem Schreiben Anfang 2012. Sie seien sowohl durch die Kämpfe als auch durch die Sanktionen betroffen, die ihre Rechte auf Entwicklung, Arbeit, Bildung und Bewegungsfreiheit verletzten. Gegen ein Entwicklungsland verhängte Sanktionen seien völkerrechtlich nicht zulässig.

Erneut betroffen von den Maßnahmen ist auch die syrische Botschaft in Berlin. Nachdem die Deutsche Bank der diplomatischen Vertretung alle Konten gekündigt hatte, zieht nun die Commerzbank, die zunächst eingesprungen war, entsprechend nach. Die Bundesregierung ist jedoch den internationalen diplomatischen Vereinbarungen zufolge verpflichtet, den Botschaften souveräner Staaten in Deutschland die Arbeit ermöglichen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. September 2012


Trauriger Flüchtlingsrekord

Allein im August verließen 103 000 Menschen Syrien / IKRK-Präsident bei Assad **

Der eskalierende Bürgerkrieg hat im August mehr Menschen zur Flucht aus Syrien gezwungen als in jedem anderen Monat zuvor. Rot-Kreuz-Chef Maurer zeigte sich bei einem Besuch in Syrien über die humanitäre Lage in dem Land sehr besorgt.

Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, ist am Dienstag in Damaskus vom syrischen Präsidenten Baschar al-Assad empfangen worden. In dem Gespräch habe Maurer den Wunsch seiner Organisation unterstrichen, ungehinderten Zugang zu notleidenden Menschen und zu Häftlingen in den Gefängnissen zu erhalten, sagte eine IKRK-Sprecherin in Damaskus. Assad erklärte nach Darstellung des syrischen Fernsehens, dass seine Regierung die Arbeit des IKRK unterstützen werde, so lange dieses »unparteiisch und unabhängig« bleibe.

Die Flüchtlingsstrom aus Syrien hatte im August mit 103 000 Personen einen traurigen Rekord erreicht. Nie zuvor seien so viele Menschen innerhalb eines Monats aus dem Land geflohen, teilten die UN am Dienstag in Genf mit. Insgesamt hätten sich seit Ausbruch der Kämpfe vor 17 Monaten in Nachbarländern knapp 235 000 Syrer beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) registrieren lassen, sagte UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming.

Tatsächlich sind nach Überzeugung von Helfern noch weit mehr Menschen aus Syrien geflohen. Viele würden sich nicht in den Nothilfelagern in der Türkei, Jordanien, Libanon und Irak melden, sondern versuchen, allein zurechtzukommen. Allein in der Türkei hilft das UNHCR bei der Versorgung von mehr als 80 000 syrischen Flüchtlingen.

Immer wieder würden Syrer auch in ihre Heimatgebiete zurückkehren, um ihre Häuser zu sichern, sobald dort die Kämpfe abflauen. Zugleich würden sie aber darum bitten, wieder in den Notlagern aufgenommen zu werden, wenn es daheim erneut zu gefährlich wird.

Syrische Kampfflugzeuge haben am Dienstag erneut Ziele in der nordsyrischen Metropole Aleppo und in ihrer Umgebung bombardiert. Des Weiteren sei die Großstadt mit Granatwerfern beschossen worden. Dies berichteten Regierungsgegner aus der Region. Aleppo ist seit anderthalb Monaten zwischen den Truppen von Assad und den Aufständischen umkämpft. Ein syrischer Armeekommandant sagte im Fernsehen, die Streitkräfte würden die Rebellen im Norden bald besiegt haben.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. September 2012


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