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Ist auch Damaskus nicht mehr sicher?

Beobachtungen und Gespräche in der syrischen Hauptstadt

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Nach monatelangen Kämpfen zwischen Armee und bewaffneten Regimegegnern habe die Gewalt auch die Hauptstadt Damaskus erreicht, meldeten Agenturen am Montag.

»Alles Gute zum neuen Jahr«, grinst ein junger Mann, als es in der Ferne kracht. Es ist später Sonntagnachmittag, noch immer heizt die Sonne Damaskus auf knapp 40 Grad, seit einer halben Stunde ist Gefechtslärm zu hören. Dumpfe Einschläge, die vermutlich von Granatwerfern stammen, werden mit Maschinengewehrfeuer beantwortet. Der Ort des Geschehens dürfte etwa sechsKilometer vom Zentrum entfernt liegen. Dort steigen am Himmel schwarze Wolken auf. »Vermutlich verbrennen sie Autoreifen«, meint der junge Mann, der es sich im Schatten auf einer kleinen Mauer bequem gemacht hat. »Passen Sie auf sich auf«, rät er zum Abschied.

Im Laufe des Abends wird deutlicher, was sich zugetragen hat. Wie vor Tagen auf Flugblättern angekündigt, fordern in den südlichen Vororten Kafar Susa, Tadamon, Derya und andernorts bewaffnete Kämpfer der »Freien Syrien Armee« die regulären Truppen heraus. Sie greifen Kontrollpunkte an, die dort stationierten Soldaten antworten mit Maschinengewehrfeuer. Ein Taxifahrer, der nachts einen Kunden zum Flughafen gebracht hat, berichtet am nächsten Morgen von einer Barriere aus brennenden Autoreifen auf der Flughafenautobahn. Nachdem er Polizei und Feuerwehr gerufen hatte, die das Hindernis beseitigten, konnte er seine Fahrt fortsetzen. »Ein politisches Programm habe ich von diesen Leuten noch nie gehört«, sagt er.

BBC Arabisch zeigt wackelige Bilder, die maskierte, schwer bewaffnete Kämpfer in Muchayem darstellen. Der Ort am Rande von Damaskus war ursprünglich von Palästinensern bewohnt, heute ist es ein gemischtes, dicht besiedeltes Wohnviertel.

Auch wenn die durchtrainierten Männer auf den Bildern nicht wie Jugendliche aussehen, meint ein syrischer Militärexperte, dass viele der Kämpfer junge Männer aus diesen Orten seien. »Die Armee kann dort nicht operieren«, erklärt er. »Sobald sie dort auftaucht, verstecken sie ihre Waffen auf den Feldern oder in einem Erdloch und tauchen bei Eltern oder Verwandten unter. In einem so dicht besiedelten Umfeld kann die Armee nicht operieren.«

Immer wieder gibt es Verhandlungen zwischen Armee und Aufständischen, die durch religiöse Scheichs oder anerkannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik vermittelt werden. Danach gebe es für einige Tage Ruhe, bis die bewaffneten Kämpfer mit ihren Angriffen wieder anfingen. »Sie dürfen nicht aufhören«, ist der Militärexperte überzeugt, »ihre Auftraggeber im Ausland wollen das nicht.« - »Ist Damaskus nicht mehr sicher?«, wollte am Sonntag ein Journalist von Jihad Mekdassi, dem Sprecher des Außenamtes, wissen. »Kein Land der Welt ist heute mehr sicher«, gab der zurück. Syrien bemühe sich, »international und gemeinsam den Terrorismus zu bekämpfen. Doch wenn einige Staaten weiterhin Terrorismus finanzieren, kann das nicht gelingen.«

Angriffe, Entführungen und Morde an Militärs oder Staatsbediensteten gehören seit Monaten zum Alltag in Syrien. Die Zahl der Toten in den letzten 16 Monaten schätzt das Beiruter Institut für strategische Studien auf etwa 15 000. 30 Prozent seien Soldaten und Sicherheitskräfte. Ein ausländischer Diplomat in Damaskus bestätigt, dass die Verluste der Armee zuletzt enorm gestiegen seien.

Vor wenigen Tagen wurden palästinensische Wehrdienstpflichtige aus Bussen auf der Autobahn zwischen Hama und Aleppo verschleppt. Maskierte Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« stoppen die Fahrzeuge und lassen sich die Ausweise der Passagiere zeigen. Da Soldaten einen Armeeausweis bei sich tragen, sind sie leicht zu identifizieren. Die Palästinenser bilden ein eigenes Bataillon in den syrischen Streitkräften, das an den derzeitigen Kämpfen aber nicht beteiligt ist. Die Soldaten hatten einige Tage frei, die sie bei ihren Familien verbringen wollten. Dort kamen sie nie an, stattdessen fand man ihre Leichen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


Russland klagt über Erpressung

Außenminister Lawrow: Westen provoziert Bürgerkrieg in Syrien

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Noch bevor Kofi Annan, der Syrien-Sondergesandte der UNO und der Arabischen Liga, am Montag in Moskau Konsultationen mit der russischen Führung aufnahm, warf Russlands Außenminister Sergej Lawrow dem Westen Erpressung im Syrienkonflikt vor.

Sergej Lawrow gab vor den Konsultationen mit Kofi Annan eine Pressekonferenz, um die Öffentlichkeit »maximal und umfassend« über die Position Russlands in der Syrienfrage zu informieren. Russland hatte zuvor mehrfach seine Unterstützung für den Annan-Plan bekundet, der eine Waffenruhe und die Aufnahme eines politischen Dialogs zwischen Regime und Rebellen vorsieht. Bisweilen ist in diesem Zusammenhang sogar vom »Lawrow-Plan« die Rede. Für Moskau, so der Minister, sei es offensichtlich, dass beide Seiten gezwungen werden müssten, das Blutvergießen einzustellen. Schwere Waffen und Kämpfer müssten unter Aufsicht der UN aus allen Städten abgezogen werden.

Nach der Logik des Westens müssten die regulären Truppen zuerst abziehen, tadelte Lawrow. Dieses Schema sei jedoch nicht realistisch, weil es nicht berücksichtige, dass auch die Opposition sehr gut bewaffnet ist. Daher müssten die UN-Beobachter einen konkreten Plan für jede umkämpfte Stadt vorlegen.

Leider, so Lawrow weiter, sei es Russland nicht gelungen, die syrische Opposition bei den Gesprächen in der vergangenen Woche zum Gewaltverzicht zu bewegen. Deren Vertreter hätten sich hinter dem Begriff »Revolution« verschanzt. Auch deshalb habe Moskau schon bei der Genfer Syrien-Konferenz Ende Juni auf Formulierungen gedrängt, die ausländische Einmischung auf Seiten der Opposition verhindern sollen und die Konfliktparteien zur Suche nach einem Kompromiss verpflichten.

Auf den Genfer Abmachungen basiere auch der neue, von Russland im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolutionsentwurf, der eine Verlängerung der UN-Beobachtermission in Syrien vorsieht. Ein Gegenentwurf des Westens verweise auf Kapitel VII der UN-Charta, das Sanktionen und ein militärisches Eingreifen der UN erlaubt. Beidem könne Russland nicht zustimmen, sagte Lawrow. Moskau stelle »Elemente von Erpressung« im Verhalten des Westens fest, der gedroht habe, die UN-Beobachtermission abzubrechen, falls Russland der Forderung nach Sanktionen nicht zustimmt.

Die Hoffnung, Baschar al-Assad zu einem Rücktritt bewegen zu können, sei unrealistisch, sagte Lawrow. Nicht weil Russland ihn schütze, was es nicht tue, sondern weil er »einen erheblichen Teil der syrischen Bevölkerung hinter sich« habe. Es sei das syrische Volk, das den Preis für die Haltung des Westens zahle, durch die ein Bürgerkrieg provoziert werde. »Wir sind sehr besorgt darüber, dass die Situation immer komplizierter wird und der Konflikt eine religiöse Dimension erhält.« Auch dürfe niemand die Augen davor verschließen, dass dort der Einfluss von Al Qaida und damit der eines gemeinsamen Feindes wachse.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


Fünftes Rad am Wagen

Syrien: Keine Chance auf friedliche Lösung

Von Werner Pirker ***


Im Konflikt in und um Syrien versuchen die auf »Regime Change« drängenden in-und ausländischen Kräfte nicht einmal mehr den Anschein zu erwecken, an einer friedlichen Lösung interessiert zu sein. Da das Kriegsbündnis aus NATO und Golfstaaten als »internationale Gemeinschaft« aufzutreten beliebt, bedarf es der Rückendeckung durch die UN-Bürokratie. Um China und Rußland doch noch zur Unterstützung einer syrienfeindlichen Resolution des Sicherheitsrates zu bewegen, ist UN-Generalsekretär Ban nach Peking und sein Vorgänger Annan nach Moskau gereist.

Daß der Westen eine Verlängerung des Mandats für die UN-Beobachtermission in Syrien verweigern will, sollte Moskau eine UN-Resolution mit der Androhung von Sanktionen gegen Syrien nicht unterstützen, ist vom russischen Außenminister Sergej Lawrow als Erpressung bezeichnet worden. Zumindest ist damit klargeworden, daß die »Freunde Syriens« eindeutig auf Eskalation und nicht auf Deeskalation setzen. In ihrer Strategie zur Konfliktlösung ist eine andere Option als die eines gewaltsamen Sturzes des Assad-Regimes nicht vorgesehen.

Entsprechend unnachgiebig verhalten sich dann auch die syrischen Freunde der »Freunde Syriens«. Eine politische Lösung wird für ausgeschlossen erklärt. Selbst angesichts der Tatsache, daß Präsident Assad gegenüber Annan die Bildung einer Übergangsregierung aus Vertretern des Regimes und der Opposition in Aussicht gestellt hatte. Man könnte dieser revolutionären Konsequenz durchaus Achtung entgegenbringen, würde ihr eine Strategie zugrunde liegen, die einzig auf dem Einsatz der eigenen Kräfte beruht. Dem ist aber nicht so. Ohne massive militärische und politische Hilfe durch die westlichen Hegemonialmächte und die arabische Reaktion wäre die bewaffnete Rebellion schon längst zusammengebrochen oder erst gar nicht entstanden. Um sich zu behaupten, werden die falschen Revolutionäre auch weiterhin auf die volle Unterstützung der falschen Freunde Syrien angewiesen sein.

Auch das Nationale Koordinationskomitee für demokratischen Wandel, die innere Opposition, spricht sich gegen eine nationale Vereinbarung zwischen Regime und Opposition aus und folgt damit der fremdbestimmten »Regime change«-Logik. Das läßt die Politik der drei Neins – nein zur ausländischen Intervention, nein zur Gewalt und nein zu konfessionellen Konflikten – als völlig abstraktes Wunschdenken erscheinen. Das Regime wird dem Wunsch des Komitees nach einem freiwilligen Wechsel eher nicht nachkommen. Ein friedlicher Machtwechsel und das Beharren auf der völligen Kapitulation des Assad-Lagers schließen einander aus. Syriens revolutionäre Opposition, die zum Kampf gegen Diktatur und neoliberale Zumutungen mobilisiert hatte, erwartet ein tragisches Schicksal: als fünftes Rad am Wagen der arabischen Konterrevolution.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Juli 2012 (Kommentar)


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