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Dialog oder Eskalation

Eine Lösung des Konflikts in Syrien kann nur auf friedlichem Weg erreicht werden. Die einseitige Berichterstattung in westlichen und arabischen Leitmedien trägt dazu nicht bei

Von Karin Leukefeld *

Syrien im März 2011. Ausgelöst durch Mißhandlungen von Jugendlichen und deren Eltern begannen in Deraa Proteste gegen Bevormundung und Korruption, für politische und wirtschaftliche Teilhabe. Man forderte ein Ende des Ausnahmezustandes und der Alleinherrschaft der Baath-Partei. Parolen wie »Sturz des Regimes« oder »Tod dem Präsidenten« waren nicht zu hören. Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben, ein neues Parteien- und Wahlgesetz verabschiedet, per Referendum konnten die Syrer unlängst auch über eine neue Verfassung abstimmen, in der die »führende Rolle der Baath-Partei« durch »ein pluralistisches Parteiensystem« abgelöst wird. Dennoch ist die Lage eskaliert.

Das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte­, Repression und Massenverhaftungen provozierten bewaffneten Widerstand. Die Lieferung von Waffen und das Einsickern von Kämpfern aus Jordanien, dem Libanon und der Türkei trieben die Militarisierung des Konflikts weiter voran. An die Spitze der Regimegegner setzte sich der im Ausland gegründete Syrische Nationalrat (SNR), der zwar nicht vor Ort, dafür aber umso mehr in Massenmedien wie Al Dschasira und Al Arabiya das Wort ergreift. Diese Oppositionskräfte, die einen politischen Übergang durch Dialog und Verhandlungen fordern, wurden ins Abseits gedrängt.

Widersprüchliche Berichte und Einschätzungen der Medien lassen kein einheitliches Bild zu und sorgen für Verwirrung. In Brennpunkten wie Baba Amr und Idlib spricht man von Bürgerkrieg. Die Forderung des Westens nach einem Rücktritt von Präsident Baschar Al-Assad, der einstweilige Ausschluß Syriens aus der Arabischen Liga, Sanktionen der Europäischen Union und Resolutionen der UN-Vollversammlung spalten das Land. Die einen begrüßen die Maßnahmen und fordern, den Druck auf die syrische Führung weiter zu erhöhen. Die anderen lehnen die Maßnahmen als Einmischung ab. Sie fühlen sich als Geiseln ausländischer Interessen und sehen sich um ihren friedlichen Aufbruch für Demokratie und Reformen betrogen.

Tägliche Übergriffe

Auch die Öffentlichkeit im Ausland ist geteilter Meinung über die Entwicklung in Syrien. Für US-amerikanische, viele europäische und manche arabische Medien ist die syrische Führung für das Blutvergießen verantwortlich. Asiatische, russische, einige arabische und lateinamerikanische Medien zeichnen ein differenzierteres Bild. Sie berichten von Verhandlungsversuchen mit Aufständischen, unterscheiden zwischen der Armee und den Sicherheitskräften der Geheimdienste, porträtieren bewaffnete Gruppen, die die öffentliche Infrastruktur angreifen, Zivilisten entführen und ermorden, Armee- und staatliche Sicherheitskräfte attackieren. Man erfährt von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Unruhen und der Sanktionen. Im Land gibt es neben den staatlichen Medien mit Syria Today und Forward Syria englischsprachige private Magazine und Webseiten, die sich mit dem Hintergrund der Unruhen befassen. Sie lassen verschiedene Seiten zu Wort kommen, schildern die Schwierigkeiten bei der Berichterstattung und stellen ausführlich gesellschaftliche Gruppen vor, wie zum Beispiel die »alte und neue Garde« der syrischen Opposition.

Menschen berichten von den täglichen Übergriffen, denen sie ausgesetzt sind. Dazu gehören Einschüchterungen und Drohungen durch die Geheimdienste; von Soldaten und Armee fühlen sich die meisten beschützt.

Im Gebiet zwischen Aleppo und Idlib und nahe der syrisch-türkischen Grenze werden öffentliche und private Busse überfallen, die Insassen aufgefordert, sich auszuweisen. Angehörige des Militärs, die einen Soldatenpaß haben, werden herausgezerrt und müssen sich entweder den Aufständischen anschließen oder werden verschleppt. Angestellte im öffentlichen Dienst und Arbeiter werden zur Zielscheibe; die Kriminalität hat zugenommen. »Kein Staat der Welt würde sich das bieten lassen«, sagte ein ausländischer Diplomat im Gespräch mit der Autorin in Damaskus. »Jeder Staat ist verpflichtet, seine Bevölkerung vor solchen Angriffen zu schützen.«

In einem gut choreographierten Zusammenspiel von Auslandsopposition (Syrischer Nationalrat), westlichen Medien und Regierungen ist es gelungen, Syrien international zu isolieren. Präsident Assad wird dämonisiert, große Teile der Bevölkerung glauben heute »Al Dschasira und Al Arabiya mehr, als dem, was sie vor der eigenen Haustüre sehen«, wie mehrere Gesprächspartner der Autorin in Damaskus sagten. Sie sprechen von einem »Medienkrieg«. Frei von aller journalistischen Sorgfaltspflicht werden von internationalen Leitmedien auf dem Internetportal youtube oder diversen Blogs veröffentlichte Videos übernommen und ausgestrahlt. Journalisten, die weit entfernt von Syrien in Redaktionsstuben arbeiten, vertrauen blind den »Spindoktoren«, den PR-Beratern, die sie mit »Berichten und Analysen« versorgen. Dabei sind die engen Kontakte der Auslandsopposi­tion um den SNR zu den USA, Großbritannien sowie den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien hinreichend bekannt, so daß Redakteure zumindest andere Meinungen einholen und den Wahrheitsgehalt des ihnen zugetragenen Materials prüfen müßten. Das allerdings geschieht in den meisten Fällen nicht. Offenbar ist der Druck der »neuen Medien« und »sozialen Netzwerke« so groß, daß trotz eventuell vorhandener Zweifel veröffentlicht wird. Manche Journalisten zeigen Zivilcourage und bestehen darauf, alle Seiten des Konflikts zu benennen. Sie werden beschimpft, bedroht, ausgegrenzt; der Druck innerhalb der Medien nimmt zu. Manche kündigen ihren Job oder nehmen einen Rauswurf hin, darunter Kollegen von Al Dschasira oder Kollegen türkischer Medien, wie die Autorin in Damaskus erfuhr.

Im März 2012 kommen die Schlagzeilen zu Syrien aus London (Sitz der »Menschenrechtsorganisation« SOHR, »Syrian Observatory for Human Rights«), Doha (Katar), Riad (Saudi-Arabien), Kairo (Ägypten) oder New York, wo der UN-Sicherheitsrat tagt. Meinungen der in Syrien lebenden Menschen finden kaum Eingang in die Berichterstattung der Medien der westlichen Staaten, geschweige denn in deren Öffentlichkeit. Für die Zukunft des Landes geben internationale Denkfabriken die Richtung vor.

In Syrien halten indes die Kämpfe zwischen Armee und Sicherheitskräften auf der einen und bewaffneten Gruppen unterschiedlicher Herkunft auf der anderen Seite an. Täglich sind viele Tote zu beklagen, Unsicherheit und Mißtrauen in der Bevölkerung wächst. Eine Wirtschaftskrise – ausgelöst durch die Unruhen und ausländische Sanktionen – macht der Bevölkerung zusätzlich das Leben schwer.

Eindrücke aus Damaskus

Samstag nachmittag in einer Damaszener Vorstadt. Drei Nachbarinnen diskutieren über die aktuelle Lage; aus Gründen der Sicherheit sollen ihre Namen nicht genannt werden. Seit März 2011 hat es bei Demonstrationen gegen das Regime und bei nächtlichen Schießereien in dem Ort Festnahmen und Tote gegeben. Parolen werden an Mauern geschrieben und tags darauf von jungen Soldaten übermalt. Mit Mülltonnen und Steinen errichtete Barrikaden werden wieder beiseite geräumt. Nicht alle der rund 50000 Einwohner sind mit Auftreten und Vorgehen der Demonstranten einverstanden. Wenn einige Dutzend Menschen von einer Moschee zur anderen ziehen und den »Sturz des Regimes« fordern, schließen Anwohner Fenster und Türen, holen die Kinder von der Straße, und Geschäftsleute lassen die Rollläden herunter.

Was die Zerstörung von Stromkästen, Straßenlampen und Wassertanks soll, will eine Frau von ihrer Nachbarin wissen, das schade doch allen. Wenn man Veränderung wolle, müsse man politische Forderungen stellen und darüber verhandeln. Die andere Frau spricht zornig von festgenommenen Angehörigen und daß ihre Familie nicht länger bereit sei, sich dem Regime unterzuordnen. Es sei Zeit für Freiheit und Demokratie in Syrien, sagt sie. »Und was bedeutet Demokratie?«, fragt die erste Frau.

Als »Modeerscheinung« bezeichnet Khaled [1], ein Friseur, die Proteste. Auch er lebt in einer Vorstadt von Damaskus und kennt viele Leute. Man habe die Bilder aus Tunesien und Ägypten im Fernsehen verfolgt und kopiere sie einfach, ohne nachzudenken, sagt er. Er wolle niemanden verurteilen, manche hätten durchaus politische Vorstellungen, aber die Mehrheit mache einfach nach, was sie im Fernsehen sehe: »Sie haben kein Programm für ein neues Leben, eine neue Gesellschaft oder eine neue Regierung«, meint Khaled. Auf den Einwand, daß es doch Parolen gebe, wie die Forderung nach einer »Flugverbotszone« oder »ausländischer Intervention« reagiert der sonst ruhige Mann heftig. Das habe nichts mit ihrem Leben zu tun, ist er überzeugt und spricht von einem »Medienkrieg«. »Die Menschen glauben dem Fernsehen mehr als der Realität vor ihrer Tür«, sagt er und nennt einige Beispiele. Einmal gab es eine Meldung von Al Dschasira, es gebe kein Brot mehr in Syrien, und die Bäckereien seien geschlossen. Er sei dann selber losgegangen und habe festgestellt, daß die Bäckereien offen waren und arbeiteten. Ein anderes Mal habe er einen Anruf von Freunden erhalten, die sich nach seiner Gesundheit erkundigten. Sie hätten auf Al Dschasira gesehen, daß in seinem Viertel »Krieg« herrsche. Doch alles um ihn sei ruhig gewesen, und auch bei einem Spaziergang durch den Ort habe er nichts bemerken können. Dann habe Al Dschasira drei Tote bei einer Demonstration in seinem Ort gemeldet. Er habe sich auf den Weg gemacht, um herauszufinden, wer getötet worden sei. Bei jeder Familie habe er neue Namen erhalten, bis er schließlich die Namen von zehn Männern hatte. Jede der Familien habe er besucht und die angeblich getöteten Männer hätten gesund in ihren Wohnungen gesessen. Niemand sei ums Leben gekommen, das bestätigte man ihm auch auf dem Friedhof. »Falschmeldungen und Gerüchte treiben die Menschen vor sich her«, sagt Khaled. Er traue niemandem mehr. Besonders empörend findet Khaled, daß Kinder auf die Straßen geschickt würden, obwohl es gefährlich sei. Er erlaube seinen Kindern nicht, das Haus zu verlassen, außer zur Schule.

Auf die Frage, wie es weitergehe, wiegt der Friseur bedächtig den Kopf. Es gebe das Regime, eine Opposition im Land, eine draußen, und es gebe die Leute auf den Straßen. »Und keiner hat einen Plan, keiner hat Einfluß auf den anderen, jeder arbeitet für sich und die eigenen Interessen.« Selbst wenn der Syrische Nationalrat im Ausland eine Entscheidung treffe, sei sehr unwahrscheinlich, daß die Leute auf den Straßen ihm folgten, meint Khaled. »Wahrscheinlich brauchen wir in Zukunft drei Regierungen statt einer. Jeder will einen Ministerposten haben.« Für ihn ist klar, daß die oppositionellen Gruppen im Ausland Geld erhielten und entsprechend »für ihre Chefs arbeiten«: Saudi-Arabien, Katar, Frankreich. »Niemand interessiert sich wirklich für ein freies Syrien«, ist Khaled überzeugt. »Sie sprechen von einer humanitären Katastrophe und schicken noch mehr Waffen ins Land?!« 70 Prozent der Syrer würden nach seiner Einschätzung den Einsatz von Waffen ablehnen, das gelte für die Regierung ebenso wie für die Gruppen aus dem Ausland.

Steigende Preise

Westlich der sogenannten Geraden Straße, nur wenige Meter vom Al-Jabiyeh-Tor der Altstadt entfernt, liegt der Bab-Srijeh-Markt von Damaskus. Entlang der gleichnamigen Straße ziehen sich Läden mit Datteln und Kaffee, Fisch und Fleisch, Obst und Torjih, eingelegten Gurken, Möhren, roter Beete, Rettich, Paprika, Weinblättern, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Kunstvoll und mit Hingabe sind die Waren sortiert und dekoriert, um Kunden anzuziehen. In einem anderen Laden warten Kuchen, Torten und Süßspeisen, gekrönt mit bunten Papierschirmen und roten Kirschen, auf Käufer. Starr blicken die – vor allem bei der männlichen Bevölkerung – beliebten Schafsköpfe aus dem Fenster einer Kühltruhe auf den Markt, das Maul dekoriert mit Tomaten- und Zitronenscheiben.

Der Bab-Srijeh-Markt steht bei den Damaszenern hoch im Kurs. Selbst aus den Vorstädten kommen die Menschen, um sich mit allem Notwendigen zu versorgen. Von Batterien über Zahnbürsten, duftende Seifen, Küchenutensilien, kleinen und großen Leckereien, Obst und Gemüse bis hin zu frischer Milch hat Bab-Srijeh alles zu bieten. Hier kann man Taschen und Schuhe, Schlösser und Elektrogeräte reparieren lassen, man trifft Bekannte und verweilt für einen Plausch über die Kinder, die Preise, die politischen Unruhen im Land.

Wie überall in Syrien sind auch hier die Preise gestiegen. Mit ernsten Minen vergleichen die Kunden und wägen ab, wofür das Haushaltsgeld reichen könnte. Milchprodukte, Nudeln, Zwiebeln, Tomaten, Kartoffeln, Kaffee – alles ist teurer geworden. Das einst so preiswerte Hühnerfleisch kostet mit 250 Syrischen Pfund – etwa drei Euro – pro Kilo heute doppelt soviel wie vor einem Jahr. Viele weichen auf Fisch aus Vietnam oder Malaysia aus, der billiger ist. Doch selbst das können sich manche Menschen nicht leisten. Ungewöhnlich viele Frauen und Kinder sitzen oder laufen bettelnd über den Markt. In der Altstadt sieht man Müllsammler, die in den Containern nach Brauch- oder Eßbarem suchen, bevor sie den Müll abtransportieren.

Für Dinge des täglichen Bedarfs muß eine Familie heute bis zu 50 Prozent mehr zahlen, sagt der Wirtschaftsexperte Nabil Sukkar. Der frühere Weltbank-Mitarbeiter hat vor 20 Jahren ein unabhängiges Beratungsbüro für Entwicklung und Investitionen aufgebaut. Nun mußte er die Hälfte der Mitarbeiter entlassen und in kleinere Räume umziehen. Die meisten seiner Kunden – darunter internationale Banken und Unternehmen, Universitäten, UN- und europäische Organisationen – haben Syrien verlassen.

Sanktionen und Wirtschaftskrise würden zwar der Regierung schaden, sagt Sukkar. Am meisten treffe es aber den Mittelstand und die »einfachen Leute«. Der Ölsektor sei durch die EU-Sanktionen weitgehend zum Erliegen gekommen, Benzin, Gas und Heizöl seien teurer geworden. Hinzu kämen die finanziellen Schäden, die dem Land durch Sabotage an Stromnetzen und Pipelines sowie durch Überfälle auf Transportwege entstanden seien; die Regierung beziffert die Schäden auf Milliarden US-Dollar. Energie sei für jeden Wirtschaftszweig erforderlich, sagt Sukkar, also würden die Produkte teurer.

Der Tourismussektor, der noch 2010 fast zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet hat, ist völlig zusammengebrochen. Hotels, Restaurants, Reisebüros, Taxi- und Busunternehmen mußten Mitarbeiter entlassen. Diese Leute haben kaum Rücklagen. Um wenigstens Essen für die Familie kaufen zu können, verdingen sich manche als Straßenhändler oder Tagelöhner. Andere verkaufen ihre Möbel, ihre Autos, ihre Wohnungen, die sie vielleicht erst kurz vor Beginn der Unruhen angeschafft hatten, nicht selten auf Kreditzahlung. Familien ziehen zusammen, um Geld zu sparen. Die Leute entwickeln Überlebensstrategien.

Immerhin kaufen andere Staaten (Iran, Irak, Ukraine, Venezuela) Syriens Exportprodukte wie Textilien, Pharmaka, Obst und Gemüse, sagt der Ökonom Nabil Sukkar. Stabilisierend wirke sich die geringe Auslandsverschuldung Syriens aus. Durch die wirtschaftliche Liberalisierung in den letzten zehn Jahren habe sich ein starker Privatsektor entwickelt, der mit 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die Wirtschaftskrise abfedere. Tatsächlich sorgen viele Firmen für ihre Angestellten, selbst wenn es kaum noch Arbeit gibt.

Hamza Dadouche ist einer von ihnen. Er habe keine Mitarbeiter entlassen, auch wenn deren Gehälter gesunken seien, erzählt der junge Unternehmer, der in Großbritannien studiert hat. Nahezu alle ausländischen Investitionen im Landwirtschaftssektor seien gestoppt, daher habe er von seinem traditionellen Angebot – Wasserpumpen und Motoren – kaum etwas an den Mann bringen können. Gut verkauft habe er dagegen Generatoren, die er aus China und Südkorea importieren konnte. Während des kalten Winters fehlte es in Syrien an Heizöl, alternativ stiegen viele auf Gas um, das aber um fast 60 Prozent teurer geworden ist. Also schalteten die Menschen zum Heizen Elektroöfen oder die teuren Klimaanlagen ein. Das wiederum belastete das Stromnetz; Stromabschaltungen bis zu acht Stunden und mehr sind die Folge. Um diese langen Ausfallzeiten zu überbrücken, kaufen die Menschen Generatoren, sagt Hamza Dadouche. Je nach Leistung müssen für ein Gerät umgerechnet bis zu 400 Euro bezahlt werden, nicht viele Syrer können sich das leisten. Das monatliche Mindestgehalt liegt in Syrien offiziell bei umgerechnet 135 US-Dollar (etwa 100 Euro). Wie Hamza Dadouche zukünftig seine Waren bezahlen soll, weiß er nicht. Europa, USA und die Arabische Liga haben die Zentralbank Syriens, die für Auslandsgeschäfte zuständig ist, auf die Sanktionsliste gesetzt.

Das einzige, was in Syrien nicht teurer geworden ist, ist das Brot. Durch zwei regen- und schneereiche Winter wurde die Agrarwirtschaft gestärkt, Syriens wichtigster Wirtschaftssektor. Die Selbstversorgung sei gesichert, und in den ländlichen Gebieten, wo die meisten Unruhen vorkämen, könnten die Menschen Arbeit und Einkommen finden, sagt der Ökonom Nabil Sukkar. Der syrische Staat ist stolz auf die großen Weizenvorräte, die für zwei Jahre die Versorgung von 23 Millionen Menschen sichern. Brot wird von der Regierung subventioniert und kostet pro Kilo neun Syrische Pfund, umgerechnet etwa zehn Euro-Cent. Die staatliche Bäckerei auf dem Bab-Srijeh-Markt wird von Menschen umlagert. Weil andere Nahrungsmittel teurer geworden sind, essen die Menschen mehr Brot. In der kleinen Backstube ist eine alte Maschine deutscher Bauart montiert. Nachdem der Teig gerührt und zu Fladen geformt wird, ziehen die frischen Brote aus dem Ofen wie aufgeblasene Ballons über das Fließband direkt zum kleinen Verkaufsfenster, vor dem die Menschen warten. Um das frische Brot abzukühlen, hängen die Kunden es kurz auf Gestelle vor der Bäckerei.

Seit September 2011 hat die Europäische Union zwölfmal ihre Sanktionen gegen Syrien verschärft. Das solle das Regime von Präsident Assad treffen, dem man vorwirft, »sein Volk abzuschlachten«, wie es der britische Premierminister David Cameron formulierte. Nabil Sukkar wiederholt, daß die Sanktionen nicht dazu betragen würden, das Regime zu stürzen. Sie schadeten der Mittelschicht und der Bevölkerung, die keine Rücklagen habe. Der Konflikt in Syrien lasse sich nur durch Dialog lösen. Dafür müßten alle Seiten bereit sein.

Stimmen für den Frieden

Vor wenigen Tagen wurde der SNR von 27 europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel als legitimer Repräsentant des syrischen Volkes anerkannt. Kurz zuvor hatte der Rat die Eröffnung eines militärischen Verbindungsbüros in der Türkei bekanntgegeben. Dort sollen Geld und Waffen, die von den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien versprochen wurden, an Kämpfer verteilt werden, um das Assad-Regime zu stürzen.

In Syrien fühlen die Menschen sich ausgeschlossen aus der zugespitzten internationalen Debatte über ihre Zukunft. Dennoch erhebt der italienische Jesuitenpater Paolo Dall’Oglio seine Stimme für Gerechtigkeit und Frieden, weswegen man ihn schon ausweisen wollte. Das Interesse der »Partner für Krieg in Syrien (ist) so hoch, daß alle bereit sind, dem Volk Waffen zu liefern, um zu kämpfen«. Er befürchte eine schreckliche und lange Auseinandersetzung, in der die Rufe nach Demokratie, Kultur und Zivilisation ignoriert würden, sagt er. Die Lager polarisierten sich zu einem konfessionellen Kampf. Er könne nicht glauben, daß »die USA, Rußland, China, Iran, die Türkei und die anderen Staaten« nicht in der Lage seien, sich auf ein Vorgehen in Syrien zu einigen, anstatt »Syrien und die Syrer zu benutzen, sich gegenseitig zu bekämpfen«. Und die Frauenrechtlerin Mona Ghanem besteht darauf, daß die Lösung des Konflikts die »Sache der Syrer (ist), die hier im Land leben«. Der politische Kampf finde in Syrien statt, sagt sie mit Nachdruck. »Nicht in den Medien oder irgendwo außerhalb Syriens. Die Aufgabe der Auslandsopposition ist es bis heute, die Opposition im Land zu unterstützen. Wenn der Syrische Nationalrat es ernst meint, muß er dem Willen der Syrer folgen, nicht umgekehrt.«

[1] Name geändert

* Karin Leukefeld ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig für junge Welt aus dem Nahen und Mittleren Osten

Aus: junge Welt, 16. März 2012



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