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"Gefährdung in Syrien wird mit zweierlei Maß gemessen"

Doppelmoral: Deutsche sollen ausreisen, aber Flüchtlingen droht die Abschiebung dorthin. Ein Gespräch mit Simone Fischer *


Simone Fischer ist Sprecherin des Bayerischen Flüchtlingsrats.


Erst vor wenigen Tagen hat das Auswärtige Amt Deutsche, die sich in Syrien aufhalten, wegen der dortigen gewalttätigen Auseinandersetzungen zur Ausreise aufgefordert. Im Fall von vier syrischen Flüchtlingen, die in München in Abschiebehaft sitzen, schätzt man die Lage hingegen anders ein. Die Ausländerbehörde will sie nach Ungarn ausweisen, von wo aus sie wahrscheinlich nach Syrien abgeschoben werden. Was droht ihnen konkret?

Wir kritisieren, daß die Gefährdung in Syrien mit zweierlei Maß gemessen wird. Den vier Syrern droht im Fall einer Abschiebung nach Ungarn, mehrere Monate im Gefängnis verbringen zu müssen und danach in ihr Herkunftsland abgeschoben zu werden. In Ungarn werden Flüchtlinge routinemäßig inhaftiert, wenn sie nach der Dublin-II-Regelung dorthin zurückverwiesen wurden, weil sie während ihrer Flucht das Land als erstes in Europa betreten haben.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat von gewalttätigen Übergriffen in ungarischen Haftanstalten durch das Wachpersonal berichtet. Die vier würden dort nicht als Asylsuchende betrachtet, sondern als Personen, die sich irregulär im Land aufhalten. Sie können zwar einen Asylantrag stellen, aber ohne aufschiebende Wirkung. Das heißt, daß sie noch während der laufenden Überprüfung jederzeit abgeschoben werden können.

Selbst jetzt schreckt Ungarn nicht davor zurück, Menschen nach Syrien zurückzuschicken, wo ihnen Haft, Folter oder Tod drohen. Das Ministerium für Flüchtlingsangelegenheiten in Budapest hingegen hat festgestellt, »daß die Syrische Arabische Republik als ein sicheres Herkunftsland« betrachtet werden könne, wo »der Abzuschiebende weder aus Gründen der Herkunft, Religion, Nationalität, gesellschaftlicher Zugehörigkeit oder wegen seiner politischen Meinung der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt ist«.

Warum setzen Sie sich für diese vier Flüchtlinge ein?

Diese Syrer, die die Polizei direkt nach ihrer Einreise in Deutschland, am 2. Dezember, aufgegriffen hat, sind in München im Gefängnis. Wir können ihre Namen nicht veröffentlichen, weil sie sonst fürchten müssen, nach einer Abschiebung sofort vom syrischen Geheimdienst verhaftet zu werden. Es handelt sich um zwei Frauen und zwei Männer. Letztere sind desertiert, weil sie nicht auf unschuldige Demonstranten schießen wollten und Angst hatten, im Fall der Weigerung selbst erschossen zu werden. Deshalb haben sie sich durch Flucht ihrer Einberufung ins syrische Militär entzogen. Die Frauen sind aus ihrem unmittelbaren Bekanntenkreis und gleichermaßen gefährdet.

Existiert das deutsch-syrische Rücknahmeabkommen immer noch? Trotz aller Warnungen des Auswärtigen Amtes?

Zwar sind momentan die Abschiebungen nach Syrien ausgesetzt, aber das skandalöse Abkommen existiert noch. Es zu kündigen ist auch nicht beabsichtigt. Das Bundesinnenministerium hat obendrein gegenüber der Presse bekräftigt, keine Veranlassung zu haben, von Abschiebungen gemäß der Dublin-Verordnung nach Ungarn abzusehen. Zumindest, sofern »nicht im Einzelfall außergewöhnliche humanitäre Umstände entgegenstehen und zu einer Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland führen«.

Was fordert der Bayerische Flüchtlingsrat nun konkret?

Es muß endlich eine rechtliche Absicherung geben, damit diese Menschen eine Perspektive in Deutschland erhalten und nicht ständig gefährdet sind, in die Krisenregion abgeschoben zu werden – auch nicht über den Umweg einer Weiterschiebung innerhalb Europas.

CDU und FDP werfen Abgeordneten der Partei Die Linke vor, Sympathie mit dem syrischen Diktator Baschar Al-Assad zu haben. Dabei berufen sie sich auf deren Unterschrift unter einen Appell, Kriegsvorbereitungen zu stoppen und das Wirtschaftsembargo aufzugeben, weil dies nur der Bevölkerung schade. Wie werten Sie diesen Konflikt?

Wir haben seit Jahren die Erfahrung gemacht, daß sich Mitglieder von Die Linke für Flüchtlinge aus Syrien eingesetzt und die Menschenrechts-Situation dort als dramatisch eingeschätzt haben. Das gilt besonders für die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Ulla Jelpke. Die Bundesregierung hingegen hat erstens jahrelang mit Assad und seinem System kooperiert und hält zweitens immer noch das Rücknahmeabkommen aufrecht.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 19. Januar 2012


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