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"Friedliche Revolution"

Hintergrund: Das Bild willkürlicher Regierungsgewalt gegen eine friedliche Opposition in Syrien ist fern der Realität. Die Eskalation der Gewalt in Syrien wurde von Beginn an durch Angriffe bewaffneter Regierungsgegner geschürt

Von Joachim Guilliard *

Am 26. Mai wurden in Al-Hula, nahe Homs, bei den bisher schwersten Gewalttaten seit Beginn der von dem UN-Sondergesandten Kofi Annan vermittelten Waffenruhe über 100 Menschen getötet und 300 verwundet. Über ein Drittel der Opfer sind Kinder. Obwohl die Beobachter der Vereinten Nationen, die den Ort später untersuchten, keine Aussagen über die Täter machen konnten, erklärten westliche Politiker und Medien sofort die syrische Regierung für verantwortlich. Regierungstruppen hätten Wohngebiete, in denen Anti-Assad-Demonstrationen stattfanden, mit Panzern, Mörsern und schweren Maschinengewehren beschossen. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte zwar in einer Dringlichkeitssitzung die Gewalttat aufs schärfste, vermied aber eine Schuldzuweisung. Insbesondere Rußland wies darauf hin, daß zunächst eine genauere Untersuchung erfolgen müsse.

In der Tat spricht vieles gegen eine Verantwortung der Armee für das Gros der Opfer. Warum sollte die Regierung ein derartig sinnloses Verbrechen begehen und sich damit der einzigen echten Gefahr für ihren Machterhalt – einer militärischen Intervention – einen großen Schritt näher bringen? Während die äußeren Umstände Erinnerungen an das arrangierte »Massaker von Racak« wecken, mit dem der Weg in den Jugoslawien-Krieg geebnet wurde, sehen viele in der Art der meisten Morde – Kopfschüsse und durchschnittene Kehlen – Parallelen zu den fürchterlichen, ethnisch-religiös aufgeladenen Mordwellen im benachbarten Irak.

Was in Al-Hula geschah, kann nur eine unabhängige Untersuchung klären. Mit Sicherheit falsch ist jedoch die Darstellung, die Armee sei mit Panzern und Artillerie gegen friedliche Demonstranten vorgegangen. Tatsächlich war Al-Hula an diesem Freitag Schauplatz stundenlanger Gefechte zwischen bewaffneten Aufständischen und der Armee gewesen. Rebellengruppen, die sich zur »Freien Syrischen Armee« zählen und das Gebiet seit Monaten kontrollierten, hatten am Nachmittag Stellungen der Armee außerhalb der Ortschaft angegriffen. Wie Spiegel online (27.5.2012) in Übereinstimmung mit der syrischen Regierung berichtete, erlitten sie bei den von 14 bis 23 Uhr andauernden Gefechten schwere Verluste und mußten sich zurückziehen.

PR für »Regime Change«

Von Anfang an war die wichtigste Komponente in der Kampagne gegen die Assad-Regierung die Schaffung eines weithin akzeptierten Bildes des Konflikts; suggeriert wird, es handle sich um einen brutalen Kampf der Regierung gegen eine friedliche Opposition, bei dem Armee und Polizei mit Waffengewalt gegen unbewaffnete Demonstranten vorgehen und willkürlich ganze Stadtviertel mit schweren Geschützen angreifen. Dies geschieht mittels einer Berichterstattung, die – gestützt auf die Meldungen von PR-Gruppen der Opposition – die Gewalt der Sicherheitskräfte systematisch aufbauscht und die der Gegenseite weitgehend ausblendet. Berichte vieler Beobachter – von unabhängigen Journalisten über die Beobachtermission der Arabischen Liga bis hin zur International Crisis Group (ICG) – belegen, daß die Nachrichten nicht nur stark einseitig und übertrieben, sondern häufig sogar regelrecht gefälscht sind.[1] Die Flut von Berichten, die das Narrativ »Regierungsgewalt gegen friedliche Opposition« täglich aufs Neue zu bestätigen versuchten, untergruben und untergraben die Bemühungen für einen politischen Dialog und trugen – indem sie ins Land zurückwirkten – direkt zur Eskalation bei.

Vor allem die Unterstützer der »syrischen Revolution« aus linken Kreisen und der Friedensbewegung betonen nach wie vor den gewaltfreien Charakter der Protestbewegung. Dieses Bild sei jedoch schwer mit den Berichten unabhängiger Zeugen und der erbarmungslosen Ermordung zahlreicher Sicherheitskräfte in Einklang zu bringen, stellte selbst die der Opposition an sich wohlgesonnene International Crisis Group fest. Plausibler sei es, daß »kriminelle Netzwerke, bewaffnete Islamistengruppen, von außen unterstützte Elemente und einige in Selbstverteidigung handelnde Demonstranten zu den Waffen gegriffen haben«, so die transatlantische Denkfabrik bereits Anfang Juli 2011. Die beträchtlichen Verluste unter den Sicherheitskräften neben der großen Zahl von toten Zivilisten zeige weiter, daß »die Dynamik des Blutvergießens weitgehend im Dunkel bleibe, verhüllt durch ein Übermaß von unglaubwürdigen Behauptungen und Gegenbehauptungen.«

Obwohl die ICG eng verbunden mit den führenden politischen Kreisen der NATO-Staaten ist, kommt ihr Nahostteam in seiner Studie zu einer wesentlich differenzierteren Betrachtung. So zitiert sie einen gut informierten Beobachter, der die undurchsichtige Lage in den ersten Wochen der Unruhen sehr anschaulich zusammenfaßte: »Es ist sehr chaotisch auf beiden Seiten. Auf den Straßen sind die Jugend und andere genuine Demonstranten, aber in einigen Fällen hat man auch ausländische Agenten, Fundamentalisten, Kriminelle und ähnliches. Auf Regierungsseite koordinieren sich die verschiedenen Sicherheitsdienste nicht unbedingt untereinander, und einige scheinen Zivilisten bewaffnet zu haben. Die Sache wird noch dadurch verschlimmert, daß beide Seiten über das, was vor Ort passiert, lügen. Jeder stellt nur den anderen als allein Verantwortlichen hin.«[2]

Bewaffnete ausgeblendet

In den westlichen Medien tauchten bewaffnete Regimegegner erst Anfang des Jahres als relevante Akteure auf. Der Widerstand habe nun, nachdem das Regime fast ein Jahr getötet und gefoltert habe, begonnen, sich zu bewaffnen und Selbstverteidigung zu üben, so der Tenor. Bei Amnesty International werden bewaffnete Oppositionsgruppen erst ab April des Jahres als Problem erwähnt und das auch nur am Rande. Noch im Februar führte die Organisation eine erneute Kampagne gegen die Weigerung der russischen Regierung durch, einen Resolutionsentwurf den UN-Sicherheitsrat passieren zu lassen, der allein die syrische Regierung zum Gewaltverzicht aufforderte. Es blieb Human Rights Watch vorbehalten, als erste westliche Menschenrechtsorganisation auch die Verbrechen oppositioneller Gruppen zu thematisieren, wenn auch erst ein volles Jahr nach Beginn der Unruhen. Die New Yorker NGO meint allerdings, die Protestbewegung sei bis September 2011 überwiegend friedlich gewesen. Erst ab da hätte eine wachsende Zahl von Deserteuren und Ortsansässigen beschlossen, zu den Waffen zu greifen und sich gegen die Sicherheitskräfte zu wehren.

Auch kritische Beobachter, die die wachsende Militarisierung der Protestbewegung thematisieren, gehen meist davon aus, daß diese sich erst langsam im Zuge der Auseinandersetzungen entwickelte und sehen sie ebenfalls überwiegend als eine Reaktion auf das brutale Vorgehen von Polizei, Armee und Geheimdiensten an. Natürlich sind in den Brennpunkten auch aus diesem Grund lokale bewaffnete Gruppen entstanden. Der bewaffnete Aufstand wird im wesentlichen aber von anderen Kräften getragen. Wie in Li­byen waren diese von Beginn an aktiv und trugen maßgeblich zur Eskalation bei.

Ähnlich wie in Libyen begann die Protestbewegung nicht in der Hauptstadt, sondern im März, also relativ spät, an der Peripherie, in der kleinen Stadt Daraa an der Grenze zu Jordanien, in einer religiös-konservativen, stammesbezogenen Region. Anfang März 2011 war hier eine Gruppe Jugendlicher, die regierungsfeindliche Parolen geschrieben hatten, festgenommen und mißhandelt worden. Nach einigen kleineren Demonstrationen protestierten am Freitag (18. März) schließlich mehrere tausend und forderten die Freilassung der Jugendlichen, sowie die Rückritte von Gouverneur und Polizeichef. Es kam zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei, die mehrere Tage anhielten.

Den Berichten westlicher Medien zufolge setzten die Sicherheitskräfte ihre Schußwaffen gegen friedliche Demonstranten ein. Die staatliche Nachrichtenagentur SANA machte hingegen Provokateure für die Eskalation verantwortlich, die die große Ansammlung von Demonstranten vor der Al-Omari-Moschee ausgenützt hätten, um öffentliche und private Einrichtungen anzugreifen. Autos und Läden seien in Brand gesetzt worden, und als die Sicherheitskräfte eingegriffen hätten, seien auch sie attackiert worden.

Westliche Medien taten dies zwar als Propaganda ab. Eine Reihe von Berichten ausländischer Journalisten belegen jedoch, daß es in der Tat bewaffnete Angriffe auf Regierungskräfte und öffentliche Einrichtungen gab. Nach einem Bericht des jeglicher Sympathie für die Assad-Regierung unverdächtigen israelischen Mediennetzwerkes Arutz Sheva (»Kanal 7«) »eröffnete die Polizei am Freitag (18.3.) das Feuer auf bewaffnete Demonstranten, tötete vier und verwundete bis zu 100 weitere«.[3] Am darauffolgenden Sonntag brannten Demonstranten die örtliche Zentrale der Baath-Partei und das Gerichtsgebäude nieder und griffen auch das Krankenhaus der Stadt sowie Büro und Wohnhaus des Gouverneurs an. Neben zwei weiteren Demonstranten wurden dabei, wie Arutz Sheva und die chinesische Agentur Xinhua übereinstimmend berichteten, auch sieben Polizisten getötet.

Die Zahl der getöteten Polizisten überstieg somit in den prägenden ersten drei Tagen der Protestbewegung vermutlich die der Opfer unter den Demonstranten. Mit dem Bild friedlicher Proteste, die von Sicherheitskräften willkürlich mit brutaler Gewalt unterdrückt wurden, ist dies kaum zu vereinbaren. Angesichts der Toten in ihren Reihen war ein rücksichtsloseres Vorgehen der Sicherheitskräfte nun schon vorgezeichnet.

Am darauffolgenden Mittwoch kam es erneut zu tödlichen Zusammenstößen in der Stadt. Westlichen Medien zufolge hatte die Polizei morgens erneut friedliche Demonstranten angegriffen und sogar die Moschee gestürmt, in denen diese sich gesammelt hatten. Das staatliche Fernsehen meldete hingegen, daß die Sicherheitskräfte gegen eine »bewaffnete Bande« vorgegangen seien, die in der Innenstadt eine Ambulanz angegriffen und dabei einen Arzt, einen Sanitäter und den Fahrer getötet hätten. Laut AP stieg die Zahl der Toten bis zum Abend auf 15. Reuters meldete jedoch 37 tote Demonstranten und AFP sogar über 100.[4] Zu diesem Zeitpunkt waren die Anfang März festgenommenen Jugendlichen bereits freigelassen und der Provinzgouverneur gefeuert worden. Bald darauf wurde auch der Polizeichef Atif Najib, ein Verwandter von Präsident Assad, entlassen, sie mußten sich allerdings bisher noch vor keinem Gericht für die Vorfälle verantworten.

In den folgenden Tagen kam es auch in anderen Städten zu größeren Demonstrationen, die von Angriffen bewaffneter Gruppen begleitet waren. Am 25. März wurden, wie u.a. Al Dschasira berichtete, das Haus des Gouverneurs von Homs in Brand gesetzt und SANA zufolge ein Hauptquartier der Armee sowie ein Offiziersklub angegriffen. Unter den Opfern dieser Attacken seien auch Zivilisten gewesen. Am 26. März wurden ebenfalls in Latakia und Tafas Gebäude der Baath-Partei und Polizeireviere in Brand gesetzt. Laut SANA hatten in Latakia »bewaffnete Gruppen« Hausdächer besetzt und das Feuer auf Sicherheitskräfte und »Bürger« eröffnet. Über 150 Personen seien in die Krankenhäuser der Stadt eingeliefert worden, die meisten davon Sicherheitskräfte. Von den 90 Verwundeten, die im Universitätskrankenhaus behandelt werden mußten, waren nach Angaben von dessen Direktor, Dr. Munir Osman, Sicherheitskräfte, die Verletzungen durch Schüsse, Messerstiche und Eisenstangen aufwiesen. Offiziellen syrischen Stellen zufolge wurden an diesem Tag insgesamt zehn Angehörige der Sicherheitskräfte und Zivilisten sowie zwei der Angreifer getötet. Der Großmufti von Syrien, Ahmad Bader Hassoun, wies Vorwürfe, die Armee habe das Feuer eröffnet, zurück und erklärte, daß diese nur in Selbstverteidigung reagiert hätte.

Berichten des staatlichen Fernsehens zufolge erschossen unbekannte Täter am 5. April in Damaskus zwei Polizisten. Drei Tage später wurden bei erneuten Zusammenstößen in Daraa 19 Polizisten getötet. Die Kämpfe begannen laut SANA, als »nicht identifizierbare Bewaffnete« auf Polizisten wie auch Zivilisten feuerten, die nach dem Freitagsgebet eine friedliche Protestkundgebung gegen die Regierung durchführten.

Am 10. April 2011 geriet eine Armeeeinheit auf der Straße von Latakia nach Tartus in der Nähe der Küstenstadt Baniyas in den ersten regelrechten Hinterhalt. Neun Soldaten wurden dabei von einer größeren Gruppe bewaffneter Kämpfer getötet und viele weitere verwundet.

Mehrheit der Toten Kombattanten

Amnesty International schätzte in ihrem Statusbericht zum 1. Quartal 2011, daß bis zum 19. April, d.h. im ersten Monat der Proteste, ungefähr 220 Menschen getötet wurden. In derselben Zeit waren jedoch auch über 50 Sicherheitskräfte und eine größere Zahl Zivilisten von bewaffneten Regimegegnern getötet worden. Dennoch wischte AI die Verweise syrischer Behörden auf »bewaffnete Banden« einfach als Propaganda zur Seite.

Anfang Juli bezifferte die ICG die Zahl der getöteten Zivilisten auf Basis der Angaben oppositioneller Kreise auf 1500. Da diese, wie u.a. die Nahostexpertin Sharmine Narwani nachwies, häufig übertrieben sind [5], erscheinen 1000 bis 1200 Tote zu diesem Zeitpunkt realistischer. Auf Seite der syrischen Sicherheitskräfte lag die Zahl der Toten Ende Juni nach Angaben eines Militärsprechers bei über 400. Da deren Namen in den Medien veröffentlicht werden und auch über ihre Beerdigungen ausführlich berichtet wird, gelten diese Zahlen als zuverlässig. Wenn man davon ausgeht, daß die Zahl bewaffneter Kämpfer unter den toten Zivilisten mindestens so groß ist wie die der umgekommenen Sicherheitskräfte, so war die Mehrheit der Toten Kombattanten. Die übrigen zivilen Toten waren zudem keineswegs nur Oppositionelle und viele gingen auch auf das Konto von Regimegegnern, deren Anschläge und Attentate sich zunehmend auch gegen politische Gegner und mißliebige religiöse Gruppen richteten.[6]

Dennoch wird die Gewalt bewaffneter Gruppen von Amnesty International ein ganzes Jahr lang an keiner Stelle erwähnt. Bis heute behauptet die Organisation, die syrischen Streitkräfte würden allein aufgrund von Massenprotesten Panzer und Artillerie gegen Wohngebiete einsetzten. Und dies, obwohl, wie eine umfangreiche Korrespondenz zeigt, die Sharmine Narwani zuging, syrische Aktivisten AI regelmäßig und detailliert über Morde, Folter und Gewalt oppositioneller Gruppen informiert hatten.[7]

Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen zivilen Opfern und getöteten Sicherheitskräften blieb in den folgenden Monaten ungefähr gleich. Im Oktober schätzte die UNO die Zahl der im Rahmen der Proteste getöteten Personen auf 3000. In derselben Zeit wurden nach Angaben der syrischen Regierung 1100 Soldaten und Sicherheitskräfte umgebracht.

In ihrer bislang letzten Schätzung, Ende März dieses Jahres, beziffert die UNO die Gesamtzahl aller Toten auf 9000. Damaskus zufolge sind darunter 2600 Angehörige von Polizei, Armee und sonstige Regierungskräfte.

Unabhängig von der Genauigkeit der Schätzungen zeigen diese Zahlen recht deutlich, daß es sich bei den Auseinandersetzungen nicht um ein einseitiges Vorgehen von Polizei und Armee gegen unbewaffneten Oppositionelle handeln kann, sondern vorwiegend um militärische Kämpfe zwischen zwei bewaffneten Parteien – und dies von Beginn an.

Die Medienabteilungen der Opposition bemühten sich, die tödlichen Angriffe auf Polizei- und Militärangehörige den Sicherheitskräften selbst in die Schuhe zu schieben, und die Mainstreammedien spielten dabei mit. Immer wieder konnte man lesen, die Betroffenen seien erschossen worden, weil sie sich geweigert hätten, sich an der Repression zu beteiligen.

So ließen oppositionelle Kreise z.B. nach dem bereits erwähnten Hinterhalt bei Baniyas am 10. April 2011 verlauten, die Soldaten wären von Regierungskräften erschossen worden, weil sie Anzeichen von Illoyalität gezeigt hätten. Zahlreiche internationale Medien nahmen diesen Ball gern auf. Unabhängige Quellen bestätigten jedoch die Darstellung der Regierung.[8] Bei einem ähnlichen Hinterhalt in Homs, der ebenfalls als Ermordung ungehorsamer Soldaten hingestellt wurde, waren die Leichen alawitischer Offiziere anschließend verstümmelt worden. Es ist jedoch kaum anzunehmen, so auch die International Crisis Group, daß das Regime den extremen Schritt tun würde, die Leichen der eigenen Leute zu schänden, allein schon wegen der verheerenden Auswirkungen auf die Truppenmoral. Generell hält auch die ICG die Behauptungen der Opposition, die meisten Toten unter den Sicherheitskräften seien Opfer standrechtlicher Erschießungen, für völlig unplausibel. Der gesamte Sicherheitsapparat ist bis heute intakt geblieben, die Zahl der Deserteure blieb relativ gering. Und mit Gewalt, gar Erschießungen, läßt sich die Loyalität inmitten eines Bürgerkrieges nicht erzwingen.

Eine wichtige Rolle in den Berichten spielten bald auch nicht identifizierbare Heckenschützen, die sowohl auf Demonstranten als auch auf Regierungskräfte feuerten.[9] Die westlichen Medien übernahmen die Darstellung der Opposition, wonach es sich bei ihnen um Sicherheitskräfte in Zivil handle. Eine Erklärung, welchen Nutzen willkürliche Schüsse auf eine große Menschenmenge aus Sicht der Regierung haben sollten, die Mühe hatte, wütende Demonstranten vom Sturm öffentlicher Einrichtungen abzuhalten, blieben sie jedoch schuldig. Da auch zahlreiche Polizisten unter den Opfern waren, erscheint es plausibler, daß es sich hierbei um Kräfte handelte, die gezielt eine Gewalteskalation herbeiführen wollten. Tödliche Schüsse mit Opfern auf beiden Seiten in einer ohnehin aufgeheizten Situation, in der eine allseits akzeptierte Aufklärung ausgeschlossen ist, sind dafür ein sicheres Mittel.

Es ist kein Geheimnis, daß insbesondere die USA und Saudi-Arabien schon seit Jahren syrische Regimegegner unterstützen. Schon im April 2011 sahen Al-Dschasira-Korrespondent Ali Hashem und seine Crew, wie bewaffnete Kämpfer vom Libanon kommend heimlich nach Syrien eindrangen. Dies waren sicherlich nicht die ersten. Im Mai konnten Hashem und seine Leute auch filmen, wie Dutzende Männer mit Kalaschnikows und Raketenwerfern den Grenzfluß zwischen Libanon und Syrien überquerten und mit syrischen Armeeinheiten zusammenstießen.

Bereits am 11. März 2011, d.h. eine Woche vor den ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen, berichtete Reuters über Waffenlieferungen aus dem Irak, die von der syrischen Polizei entdeckt worden waren. Ende März wurden aus dem Libanon kommende Boote voller Waffen vor der syrischen Küste abgefangen. Im April stellte die syrische Polizei weitere umfangreiche Waffenmengen sicher. Auch libanesische Behörden berichteten Anfang April, sie hätten mehrere Lieferungen an der Grenze zu Syrien gestoppt und bestätigten damit die Existenz eines frühen regen Waffenschmuggels.

Vom Ausland unterstützt

Offensichtlich entspricht das weitverbreitete Bild von einem Konflikt, der allein aufgrund des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte eskalierte und schließlich als Reaktion darauf auch Teile der Opposition zu den Waffen greifen ließ, nicht der Realität. Vielmehr deutet alles darauf hin, daß es organisierte, vom Ausland unterstützte Kräfte gab, die – ähnlich wie einen Monat zuvor in Libyen – bereits die ersten Proteste Mitte März nutzten, um mit bewaffneten Angriffen gewaltsame Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und schließlich einen Aufstand zu provozieren. Polizei und Armee waren daher von Anfang an mit bewaffneten Gruppen konfrontiert. Der hohe Anteil von Toten auf ihrer Seite legt zudem nahe, daß sich ihre Kampfhandlungen auf diese konzentrierten und nicht auf friedliche Demonstranten.

All dies sagt selbstverständlich nichts über das Ausmaß an allgemeiner Repression und mögliche gravierende Menschenrechtsverletzungen durch diverse Organe des Staates, wie die berüchtigten Einheiten des Geheimdiensts, aus. ­Ohne Zweifel waren es vielerorts auch die Sicherheitskräfte, die mit unverhältnismäßiger Gewalt, massenhaften Festnahmen, Mißhandlungen etc. zur Eskalation beitrugen. Dies bestätigte indirekt auch die syrische Regierung, indem sie nach dem Gouverneur von Daraa Ende März auch dessen Kollegen von Homs seines Amtes enthob.

Für die Frage einer politischen Lösung des Konflikts ist jedoch entscheidend, daß sich diese repressive Gewalt im Kontext bewaffneter Auseinandersetzungen entwickelte, die in den Brennpunkten rasch Bürgerkriegscharakter annahmen. Dort wurden Anwohner in einen militärischen Aufstand verwickelt, den die meisten nicht wollten, und viele wurden auch direkt Opfer der Gewalt bewaffneter Rebellen. Für einen großen Teil der örtlichen Bevölkerung bedeutete daher die Rückeroberung von Stadtvierteln und Ortschaften durch die Armee, wie glaubwürdige Berichte belegen, die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung.

Auch wenn es willkürliche Gewalt keinesfalls rechtfertigt: Angesichts der vielen Toten in den eigenen Reihen ist die brutale Reaktion diverser Sicherheitskräfte auch keine syrische Besonderheit. Man stelle sich einmal vor, so Pepe Escobar von der Asia Times, Daraa und Homs lägen in Texas.

Anmerkungen
  1. Aisling Byrne, (Conflicts Forum, Beirut), A mistaken case for Syrian regime change, Asia Times, 5.1.2011
  2. Popular Protest in North Africa and the Middle East VII – The Syrian Regimes Slow-motion Suicide, International Crisis Group (ICG), 13.7.2011
  3. Syria: Seven Police Killed, Buildings Torched in Protests, Israel National News/Arutz Sheva, 21.3.2011, Syria Protests Continue As Thousands Take To Streets, The Huffington Post, 20.3.2011, Syrian protesters set fire to ruling party’s headquarters, Palace of Justice , Globe and Mail, 20.3.2011
  4. Thousands chant »freedom« despite Assad reform offer, Reuters, 24.3.2011, More than 100 killed in Syria protest city, AFP, 24.3.2011
  5. Sharmine Narwani, Questioning the Syrian «Casualty List«, Al-Akhbar, 28.2.2012
  6. siehe neben syrischen Medien z.B. Christians Under Attack From Anti-Government Protesters in Syria, Christian Post, 5.5.2011, Syrian Christians Threatened by Salafi Protestors, International Christian Concern, 4.5.2011
  7. Sharmine Narwani, Surprise Video Changes Syria »Timeline«, Al-Akhbar, 4.4.2012
  8. siehe u.a. Joshua Landis, The Revolution Strikes Home: Yasir Qash`ur, my wife’s cousin, killed in Banyas, Syria Comment, 11.4.2011 und Western Press Misled – Who Shot the Nine Soldiers in Banyas? Not Syrian Security Forces, Syria Comment, 13.4.2011
  9. Friday protests erupt in Arab world, Reuters, 8.4.2011, Unknown Gunmen Filmed at Syria Demo, Youtube
* Eine ausführliche Version des Artikels mit Quellenangaben ist in Kürze auf dem Blog des Autors nachlesbar: jghd.twoday.net/

Aus: junge Welt, Freitag, 1. Juni 2012



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