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Verhandlungserfolg in Genf

Russland und USA einigen sich auf Abrüstung syrischer Chemiewaffen

Von Roland Etzel *

Die US-amerikanisch-russische Vereinbarung über eine Abrüstung der Chemiewaffen in Syrien findet in der Welt überwiegend positives Echo. Allerdings wollen einige ihre Enttäuschung nicht verhehlen, besonders in den USA selbst und bei den syrischen Rebellen.

Nach ihren dreitägigen Verhandlungen in Genf hatten US-Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow am Sonnabend ihre Vereinbarung der Öffentlichkeit präsentiert. Darin ist festgelegt, dass Syriens Führung binnen einer Woche ihre Chemiewaffenbestände offenlegen muss. Bis Mitte 2014 sollen alle Giftgasbestände vernichtet werden. Andererseits werden gemäß des Kapitels VII der UN-Charta Sanktionen bis hin zu Militäreinsätzen angedroht.

Kerry betonte, dass sich die USA einen Militärschlag auch ohne UNO-Autorisierung vorbehielten. Den Falken in seinem Land genügt dies keineswegs. Die Senatoren Lindsey Graham und John McCain bezeichneten die Tatsache, dass die USA zunächst keinen Luftkrieg gegen Syrien führen, als »Zeichen der Schwäche«. Donald Rumsfeld, der zuletzt Verteidigungsminister bei George Bush jun. war, bestritt die Ernsthaftigkeit der russischen Abrüstungsbemühungen und spottete, Kerry habe mit Moskau »den Fuchs zum Aufpasser im Hühnerstall« gemacht.

Lawrow sprach von einem »exzellenten« Abkommen. Die Verhandlungen in Genf hätten sowohl die Ziele des Kremls als auch des Weißen Hauses erfüllt. Die syrische Seite ermahnte er, dass der UN-Sicherheitsrat »reagieren« werde, falls sie den Vorgaben nicht nachkomme oder »von wem auch immer« Giftgas eingesetzt werden sollte.

Die Regierung in Damaskus hatte den Abrüstungsplan für die syrischen Chemiewaffen am Sonntag begrüßt. Mit der Einigung zwischen Kerry und Lawrow sei ein »Krieg gegen Syrien« verhindert worden. Die syrischen Rebellen dagegen zeigten sich enttäuscht bis wütend.

»Die USA haben der Welt gesagt, dass sie Syrien bombardieren würden. Dann, als die Zeit gekommen war, haben sie den Schwanz eingezogen«, sagte laut AFP Abdelkaderi Asascheh, Anführer der von der Türkei unterstützten Guerilla-Gruppe Liwa al-Tawhid, die von sich behauptet, in Syrien 13 000 Mann unter Waffen zu haben. Verhandlungen mit der Regierung kämen für sie auch jetzt unter keinen Umständen in Betracht, hieß es aus Aleppo von Asascheh.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Vereinbarung Russland – USA begrüßt. Sie sei sehr froh, »dass wir ein Stück Hoffnung sehen«. Außenminister Guido Westerwelle hat technische und finanzielle Hilfe bei der Vernichtung von Syriens C-Waffen-Arsenal in Aussicht gestellt. »Deutschland unterstützt die amerikanisch-russische Einigung zur Kontrolle und Vernichtung der syrischen Chemiewaffen. Wichtig ist, das jetzt nachprüfbare Schritte gegangen werden, diese Vereinbarung umzusetzen«, heißt es in einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin.

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. September 2013


Sieg oder reines Theater?

In Syrien diskutiert man das Abkommen

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Mit Zustimmung hat die syrische Führung auf die Einigung zwischen Russland und den USA über den Umgang mit dem Chemiewaffenarsenal des Landes reagiert. Man begrüße die Vereinbarung, wurde Versöhnungsminister Haidar am Sonntag zitiert.

»Einerseits hilft das amerikanisch-russische Papier Syrien, einen Weg aus der Krise zu finden, andererseits trägt es dazu bei, einen Krieg gegen Syrien zu vermeiden«, sagte der syrische Minister für Nationale Versöhnung, Ali Haidar. Denjenigen, die einen Angriff gegen Syrien starten wollten, seien »die Argumente dafür entzogen« worden. Haidar bezeichnete die Vereinbarung als einen »Sieg, den Syrien dank unserer russischen Freunde erzielen konnte«. Der Minister vertritt seit Sommer 2012 die Syrische Nationale Sozialistische Partei in der Regierung. Das Versöhnungsministerium wurde neu geschaffen. Begrüßt wurde die russisch-amerikanische Einigung auch von Teilen der gewaltfreien syrischen Opposition. Der Auslandsvertreter des Nationalen Koordinationsbüros für Demokratischen Wandel, Haitham Manna, machte den Vorschlag, dass Russland vorübergehend die Kontrolle der syrischen Chemiewaffen übernehmen solle.

Ablehnend reagierte indes die bewaffnete syrische Opposition. Die Freie Syrische Armee (FSA) werde die Initiative »nicht akzeptieren«, sagte der oberste Befehlshaber der FSA, Selim Idriss. Man sei von der Entscheidung nicht betroffen, weil »wir keine Chemiewaffen haben«, sagte Idriss. »Ich und meine Brüder werden bis zum Sturz des Regimes weiterkämpfen.«

Am Samstag hatte die Nationale Koalition in Istanbul Ahmed Toameh (48) zum neuen Chef einer Übergangsregierung gewählt. Diese soll mit westlicher Hilfe im Norden Syriens einen Regierungssitz schaffen. Ein Teil der Region gilt gemäß der Sprachregelung von FSA und Nationaler Koalition als »befreites Gebiet«. Mehr als eine Million Menschen sind allerdings aus den dortigen Provinzen Idlib, Aleppo und Hassakeh vor den Kämpfen geflohen. Toameh, der als gemäßigter Islamist gilt, stammt aus der ostsyrischen Stadt Deir Ezzor.

Obwohl die Chemiewaffen der syrischen Streitkräfte in offiziellen Verlautbarungen nie Thema waren, scheint deren Existenz in Kreisen der aufgeklärten Syrer bekannt und aus strategischen Gründen auch unumstritten gewesen zu sein. Syrische Medien berichten nüchtern über die Fakten der amerikanisch-russischen Vereinbarung. »Vorgestern hat niemand offiziell über die Chemiewaffen gesprochen, gestern ist Syrien der Chemiewaffenkonvention beigetreten, und heute sagt der syrische UN-Botschafter, das Kapitel liege nun hinter Syrien«, merkt ein ausländischer Diplomat im Gespräch mit der Autorin in Damaskus an. Er hoffe, die Vereinbarung werde alle Bemühungen für eine politische Lösung voranbringen.

Für eine Gruppe junger politisch interessierter Syrer, mit denen ich am Wochenende in Damaskus sprach, sind die russisch-amerikanischen Verhandlungen »reines Theater«. Obwohl sie zu den Ereignissen in ihrem Land unterschiedlicher Meinung sind, stimmen sie darin überein, dass es offenbar darum gehe, Syrien seiner »strategischen Abschreckungswaffen« gegen die Atommacht Israel zu berauben.

Eine Frau meinte, strategische Abschreckungswaffen hätten nur Sinn, wenn sie dem nationalen Interesse dienten. »Das Regime hat aber kein nationales Interesse, sondern ist nur am eigenen Machterhalt interessiert.« Eine andere Frau merkte an, sie habe nichts gegen Waffen der Abschreckung. Chemiewaffen allerdings dürfe niemand haben, »weder die Regierung, noch die Kämpfer, noch sonst irgendein Staat«. Ein anderer junger Mann fügte hinzu, es sei ein Unterschied, ob man Abschreckungswaffen habe oder sie auch einsetze.

In und um Damaskus setzte die syrische Armee ihre Offensive gegen die Aufständischen fort. Die Vereinten Nationen kritisierten erneut, dass die syrischen Streitkräfte keine Hilfsgüter in umkämpfte Gebiete von Damaskus durchließen. Es fehle an Wasser, Nahrung und Medikamenten.

** Aus: neues deutschland, Montag, 16. September 2013


Der Plan von Genf

Aus der Vereinbarung Russland – USA

US-Außenminister John Kerry und sein russischer Kollege Sergej Lawrow haben einen Plan zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen entworfen. Dieser sieht vor, dass Syriens Führung eine Woche Zeit hat, um eine Liste ihrer Bestände vorzulegen. Eine UN-Resolution soll notfalls die Möglichkeit beinhalten, Zwangsmaßnahmen zu verhängen. Wörtlich heißt es u.a.:

»Unter Berücksichtigung der Entscheidung der Syrischen Arabischen Republik, der Chemiewaffenkonvention beizutreten (...), bringen die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation ihre gemeinsame Entschlossenheit zum Ausdruck, das syrische Chemiewaffenarsenal so schnell und so sicher wie möglich zu vernichten. Zu diesem Zweck haben sich die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation verpflichtet, eine Entwurfsvorlage zu den speziellen Verfahren für die rasche Zerstörung (...) vorzulegen.

Die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation sind der Ansicht, dass diese (...) Maßnahmen erforderlich sind, weil diese Waffen zuvor in Syrien eingesetzt wurden und weil der syrische Bürgerkrieg unberechenbar ist. Die Vereinigten Staaten und die Russische Föderation verpflichten sich, auf die zeitnahe Verabschiedung einer Resolution im UN-Sicherheitsrat hinzuwirken, die Entscheidungen des Exekutivrats der Organisation für das Verbot chemischer Waffen stärkt....«.




Wenn die Waffen ruhen, ist der Rest Routine

Deutschland könnte wichtige Beiträge bei der Vernichtung der chemischen Kampfstoffe aus Syrien leisten

Von René Heilig ***


Aber ..., wer weiß ..., geht nicht ... Mehr oder weniger fachlich versierte Bedenkenträger erklären auch nach der Einigung zwischen Russland und den USA über die Vernichtung der syrischen Chemiewaffen, warum das Projekt nicht funktionieren könne. Dabei kann sogar Deutschland einiges zum Gelingen beitragen.

In der Tat sind die politischen und militärischen Umfeldbedingungen des seit Jahren erbittert geführten und territorial fließenden Bürgerkrieges nicht gerade dazu angetan, eine sichere Erfassung und Vernichtung der syrischen Chemiewaffen zu garantieren. Doch eine Alternative gibt es nicht.

Hilfreich für die fragile Operation wäre ein Waffenstillstand. Dazu gehört auch, dass der militärische Nachschub für beide mordenden Seiten gestoppt werden muss. Nicht nur Russland hat das in der Hand, auch die USA sind gefordert, denn Washington hat vor gut zwei Wochen begonnen, die Rebellen der Freien Syrischen Armee auch mit Waffen, Fahrzeugen und Kommunikationsmitteln auszustatten. Man versucht damit, die genehmen bewaffneten Oppositionellen auch gegen die zunehmende Macht der islamistischen Kämpfer hochzurüsten.

Doch beide Oppositionslager sehen ihre Felle davon schwimmen. Sie lehnen – so der Befehlshaber der Freien Syrischen Armee, Selim Idriss – »die russische Initiative kategorisch ab«. Möglicherweise kann Deutschland auch in dieser Frage flankierend gute diplomatische Dienste leisten. Denn Selim Idriss ist hierzulande kein Unbekannter. Nicht, weil er der deutschen Sprache mächtig ist, weil er vor Urzeiten mal in Dresden studierte. Die Kontakte reichen bis in die Ist-Zeit. US-Außenminister Kerry hat ausgeplaudert, dass der abtrünnige General jüngst hierzulande Gespräche geführt hat.

Deutschland war bei der Vernichtung von C-Waffen bereits mehrfach hilfreich. Zuletzt 2011 in Libyen, als es darum ging, undeklarierte Bestände zu verifizieren.

So die Inspektoren halbwegs sichere Arbeitsbedingungen vorfinden, ist die fachliche Entsorgungsarbeit Routinearbeit. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag wird Experten ausschicken, die eine komplette Inventur der von Syrien gemeldeten Lager vornehmen. Sie werden die Waffen zählen, Fässer wiegen, alle Fundstücke kennzeichnen, damit jederzeit die Kontrolle erhalten bleibt.

Innerhalb der kommenden Woche sollen die OPCW-Experten mehr wissen über Art und Anzahl der syrischen C-Waffenbestände: Sarin, Soman, Tabun, VX – was noch? Noch herrscht Rätselraten. Wichtig wäre zu wissen, wie viel Kampfstoff bereits in Munition gefüllt ist. Vorprodukte sind leichter zu entsorgen. Aber auch in normalen chemischen Fabriken unauffällig herzustellen – als Produkte für den zivilen Bedarf.

Oft sind C-Waffen binärer Natur. Das heißt, in den Sprengkörpern befinden sich zwei Stoffe samt einem Reaktionsbeschleuniger. Die C-Bombe oder Granate wird so erst bei Abschuss »scharf«. Je nach Zustand und Befüllung muss man beim Transport und beim Entschärfen verschiedene Methoden anwenden.

Die syrischen Waffen sollen möglichst rasch abtransportiert werden. Es dümpeln genügend Landungsschiffe vor der syrischen Küste herum: russische, US-amerikanische, chinesische. In die USA wird man das Teufelszeug kaum bringen, denn da gibt es eine Reihe von rechtlichen Problemen, die den »Import« ausländischer C-Waffen verhindern. Bleibt Russland. Dort gibt es entsprechende, noch immer aktive Vernichtungsanlagen. Dann käme – zumindest indirekt – abermals Deutschland ins »Spiel«: anlagentechnisch. Beispielsweise hat sich die Firma Eisenmann aus Böblingen auf die Vernichtung von chemischen Kampfstoffen spezialisiert und in Russland mehrere Vernichtungsstandorte in Betrieb. Das Unternehmen ist Weltmarktführer bei der Chemiewaffenvernichtung.

Turaktor heißt ein von Eisenmann entwickelter Spezialofen, in dessen Brennkammer derzeit russisches Sarin, Senfgas oder Lewisite verbrannt werden. Zuvor werden die Munitionskörper in einem anderen Bereich geöffnet und ausgesaugt. Man mischt die Kampfstoffe mit Entgiftungsstoffen, es kommt zu einer chemischen Umsetzung. Die so entstehende Reaktionsmasse ist nicht mehr waffenfähig – aber weiter extrem giftig. Sie wird abgepumpt und gelangt durch Verbindungsrohre in die Spezialöfen.

Damit die dabei entstehenden Rauchgase die Umwelt nicht belasten, sind verschiedene Wasch-, Filter- und Katalysatorstufen nachgeschaltet in denen die Gase abgekühlt und gereinigt werden. Durch die jahrelange Arbeit vor allem in Russland verfügt man über reiche Erfahrungen.

Auf dem G8-Gipfel 2002 wurde die Entsorgung der russischen Chemiewaffen vereinbart. Die Anlagen werden im Rahmen des bilateralen Abrüstungsabkommens zwischen Deutschland und Russland von der deutschen Bundesregierung finanziert. Nun könnten sie ein wenig dazu beitragen, dass auch die Lage in Syrien entschärft wird.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 16. September 2013


Todesspirale gestoppt

Von Roland Etzel ****

Allem hier und da zu hörenden Lamento zum Trotz – die Genfer US-amerikanisch-russische Vereinbarung zu Syrien kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Nach all den schwarzmalerischen Bewertungen des Petersburger G20-Gipfels schien ein erneuter Bombenkrieg im Nahen Osten kaum noch abwendbar. Die Todesspirale ist nun nicht nur erst einmal gestoppt – die schnelle Einigung über die Verfahrensweise mit Assads Chemiewaffen lässt weitere gemeinsame Schritte zur Eindämmung des Syrien-Krieges möglich erscheinen.

Das Ergebnis zeigt zudem, dass Behauptungen, Lawrow habe seinen übermüdeten Außenministerkollegen Kerry mit einem Überraschungs-Coup überrumpelt, mindestens verantwortungsloses Geschwätz waren. Bei einigen ist es ganz sicher mehr, lassen sie doch ihrer Verärgerung ziemlich freien Lauf darüber, dass die Dinge dieses Mal nicht unabwendbar in einen Krieg nach irakischem oder libyschem Muster mündeten. In den USA ist das für Rüstungslobbyisten und Weltherrschaftsträumer schlicht inakzeptabel. Leute wie Bushs Kriegsarchitekt Rumsfeld oder der verhinderte Präsident McCain werden deshalb auch weiter jeden Versuch weiterer diplomatischer Verständigung torpedieren.

Diese aber muss es geben, schon weil das Sterben ja nicht aufgehört hat in Syrien. Moskau wie Washington können das Abkommen zudem nur umsetzen, wenn sie »ihre« Partei in diesem Krieg zu Verhandlungen zwingen. Das können sie. Es muss sich zeigen, ob sie es auch wollen.

**** Aus: neues deutschland, Montag, 16. September 2013 (Kommentar)


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