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Dauerkrise Syrien – Selbstblockade der internationalen Gemeinschaft?

Interview mit dem Friedens- und Konfliktforscher Dr. Jochen Hippler in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Rund anderthalb Jahre dauern nun schon die Proteste in Syrien gegen das Assad-Regime. Tausende sind in dem Bürgerkrieg getötet worden. Und die internationale Gemeinschaft schaut dem grauenhaften Geschehen weitgehend tatenlos zu. Denn der UN-Sicherheitsrat hat sich selbst blockiert. Kofi Annan ist als UN-Sonderbeauftragter gescheitert, hat aufgegeben.
In diesem Monat hat nun Lakhdar Brahimi dieses Amt übernommen. Über die Syrien-Krise habe ich mit Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen gesprochen. Ich habe Jochen Hippler zunächst gefragt, ob der UN-Sondergensandte Brahimi bei seinen Bemühungen bessere Chancen als sein Vorgänger hat:


Interview Andreas Flocken / Dr. Jochen Hippler

Hippler: Die Chancen von Brahimi hängen nicht so sehr von ihm selbst und von seinem Geschick ab, sondern von der Lage in Syrien selbst. Solange die Konfliktparteien nicht bereit sind, sich zu verständigen, wird es keine friedliche Lösung geben. Und zweitens hängt die Chance von Brahimi von der Einigkeit des UN-Sicherheitsrates ab. Und das liegt außerhalb seiner Kontrolle. Insofern wird er nicht sehr viel tun können, wenn die Bedingungen vor Ort es nicht gestatten, erfolgreich zu sein.

Flocken: Der Aufstand gegen das Assad-Regime kam ja in erster Linie von innen, auch im Zuge des Arabischen Frühlings. Er dauert nun schon mehr als ein Jahr. Inzwischen ist der Konflikt aber praktisch internationalisiert worden. Mancher sagt, es geht gar nicht mehr um die Aufständischen, sondern es geht jetzt vor allem um die Interessen der Großmächte. Die Rede ist inzwischen von einem Stellvertreterkonflikt, also der Westen gegen Moskau und China. Geht es inzwischen vor allem um Geopolitik in Syrien, um die Einflusssphäre der Großmächte?

Hippler: Ich glaube, dass die Großmächte eine gewisse Rolle spielen, aber sie sind selber natürlich nicht in der Lage, beide Konfliktparteien zu kontrollieren. Also die westlichen Mächte oder Saudi-Arabien sind nicht vollkommen in der Lage, die Aufständischen in Syrien zu kontrollieren. Es gibt inzwischen ja auch Tendenzen, die in dieser Hinsicht sehr unerfreulich sind. Also zunehmende Brutalität und Menschenrechtsverletzungen oder das Einsickern von gewaltsamen Jihadisten aus dem Irak nach Syrien. Das kann der Westen nicht stoppen, das kann Saudi-Arabien nicht stoppen. Und umgekehrt wird es auch aus China oder aus Russland sehr schwierig sein, Baschar Assad zu Dingen zu zwingen, die er nun wirklich nicht will. Wichtig scheint mir aber in dieser Konfliktdimension noch zu sein, dass es eben auch eine starke Tendenz gibt, den Konflikt zu einem regionalen Stellvertreterkrieg zu machen. Also dass der Iran einerseits und Saudi-Arabien und Katar andererseits versuchen, in der Region, in Syrien, im Libanon und drum herum, ihre Positionen gegeneinander zu stärken.

Flocken: Sie sprechen von einem regionalen Stellvertreterkrieg. Dadurch wird eine Regelung oder eine Lösung des Konfliktes aber erheblich schwieriger.

Hippler: Sie ist noch schwieriger geworden. Eine Lösung ist ohnehin extrem schwierig, aber dadurch wird sie nochmal komplizierter, weil der Iran Baschar Assad unterstützt, soweit wir wissen, durchaus auch mit Waffen und durchaus auch mit personeller Beratung und personellen Beratern, weil Teheran sonst relativ isoliert in der Region ist, und weil der Iran insbesondere Syrien braucht, um die Verbindung und die Unterstützung für die Hisbollah im Libanon aufrecht zu erhalten. Wenn da das Kettenglied Syrien rausfallen würde, dann hätte der Iran große Schwierigkeiten, weiter im Libanon eine Rolle zu spielen. Das ist für den Iran ein großes Problem. Und umgekehrt ist es eben für Saudi-Arabien eine große Versuchung, dem Iran dadurch eins auszuwischen, dass man eben sunnitische Aufständische in Syrien unterstützt, und damit auch gleichzeitig versucht, die Lage im Libanon zu verändern. Da geht’s tatsächlich um einen Faktor, der die Versöhnungsbereitschaft im Land selbst, in Syrien selbst natürlich noch zurückdrängt, weil sich jetzt beide Seiten auf äußere Hilfe verlassen können.

Flocken: Sie haben das Stichwort Iran genannt. Syrien gilt als Verbündeter des Iran. Zu hören ist manchmal, dem Westen ginge es letztlich auch darum, mit dem Sturz von Assad auch den Iran zu schwächen, weil Damaskus eben als Verbündeter Teherans gilt. Wie sehen Sie das? Geht es in Syrien auch um eine Schwächung des Iran?

Hippler: Also es geht auch darum. Ich glaube, dass die meisten westlichen Länder zwei Dinge beabsichtigen oder zwei politische Ziele verfolgen. Das eine ist, dass man im letzten Jahr im Zuge des Arabischen Frühlings in eine ziemlich peinliche Situation gekommen ist, nämlich dass man zuerst, ganz zu Beginn des Arabischen Frühlings, vor allen Dingen in Tunesien und mit Einschränkungen in Ägypten relativ lange auf die alten Diktaturen gesetzt hat, und dadurch in der internationalen Öffentlichkeit unglaubwürdig wurde, zum Teil im eigenen Land, aber erst recht in der arabischen Welt. Die französische Regierung hat der tunesischen Diktatur noch Waffen angeboten, um die Aufstände niederzuschlagen, als diese schon begonnen hatten. Und das ist natürlich nicht gut angekommen. Da versucht man jetzt zum Teil nachzuweisen, da man diese Veränderung inzwischen für unvermeidlich hält, nachzuweisen, dass man jetzt doch auf der Seite des Wandels und auf der Seite der Demokratie steht. Das ist ein politisches Ziel, das auch in Syrien eine Rolle spielt. Das Zweite ist: Syrien ist natürlich im Westen nicht richtig populär. Man braucht das Land zwar wegen des Nahost-Konfliktes, wegen der Lage im Libanon. Aber letztlich hat man sich wahrscheinlich Assad nicht so richtig nahe gefühlt und man kann so auch dem Regime in Teheran noch weitere Schwierigkeiten bereiten. Denken Sie an die Atomfrage, die ja sehr umstritten ist, denken Sie an die Sanktionen. Da geht es natürlich darum, den Iran zu schwächen, indem man Syrien von ihm abspenstig macht. Das ist ein sehr großes politisches Ziel, das man vertreten will.

Flocken: Der Westen lehnt ja eine Beteiligung Teherans an den Bemühungen für eine politische Lösung in Syrien ab. Ist das ein Fehler, dass man von vornherein versucht, eine Lösung für Syrien ohne Teheran zu finden?

Hippler: Ich glaube, das ist häufig ein Fehler gewesen. Ähnliches gab es ja auch in Afghanistan, das heißt, eigentlich gab es in Afghanistan immer eine Interessensüberschneidung des Westens einerseits, und Irans andererseits, weil niemand, weder der Iran, noch der Westen, Interesse hat, sunnitische Extremisten zu stärken, also die Taliban zu stärken. Die haben ja nun auch eine sehr starke anti-iranische, anti-schiitische Ausrichtung. Die Taliban haben relativ viele Schiiten massakriert. Und da hat man eben - statt diese Gemeinsamkeit auszunutzen, um Afghanistan zu stabilisieren – da hat man eben versucht, den Iran draußen zu halten, mit dem Ergebnis, dass der Iran angefangen hat, politisch, und manchmal auch mehr als nur politisch, Kräfte in Afghanistan zu unterstützen, die eigentlich seine Gegner waren. Wenn man das jetzt in Syrien wiederholt, ist das sicher auch nicht besonders klug. Allerdings verbirgt sich dahinter eben das große Problem, dass man im Westen nicht so richtig weiß, wie man jetzt mit Teheran insgesamt umgehen soll.

Flocken: Aber würde Teheran dann nicht erst recht an seinem Atomprogramm festhalten, wenn seine Bündnispartner rechts und links wegbrechen?

Hippler: Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Also man hat natürlich an dem Sturz von Saddam Hussein im Irak gemerkt, dass der Verzicht auf Massenvernichtungswaffen einem nicht das Regime rettet, sondern dass man sich dann einfach schlechter verteidigen kann. Denn Saddam hatte faktisch auf ein solches Programm verzichtet, wenn er das auch nie bekanntgegeben hatte. Doch diese Erwägung besteht schon jetzt für Teheran, und sie bestünde dann vielleicht in etwas größerem Maß auch weiterhin. Aber ich glaube nicht, dass das eine neue Situation wäre. Es wäre eine Bestätigung der Logik, der Teheran jetzt ohnehin schon folgt.

Flocken: Offiziell lehnen die westlichen Staaten eine Militärintervention in Syrien ab. Man sagt, es wird keine Intervention geben wie in Libyen. Es heißt, die Lage sei nicht vergleichbar mit Libyen, weil die Konfliktstruktur in Syrien ungleich komplizierter sei. Aber es gibt doch auch immer mehr Parallelen. Beispielsweise werden Rebellengruppen von den arabischen Staaten unterstützt, zum Teil auch mit Waffen. Außerdem hören wir immer häufiger den Ruf nach einer Schutzzone, auch einer Flugverbotszone. Ist eine Militärintervention letztlich doch nur eine Frage der Zeit, notfalls auch ohne UN-Mandat?

Hippler: Also das ist schwer zu sagen, und in den letzten ein, zwei Wochen gibt es, zumindest aus Paris, durchaus auch Andeutungen in so eine Richtung, dass man eben auch ohne UN-Mandat bestimmte militärische Dinge tun könnte, wie beispielsweise eine Schutzzone einzurichten. Und es wird ja auch hinter vorgehaltener Hand über eine Flugverbotszone gesprochen, die nötig wäre, um die Schutzzone überhaupt durchzusetzen. Das Problem ist aber meiner Einschätzung nach, dass eine Militärintervention nur Sinn machen würde, wenn man für die Zeit nach der Militärintervention ein halbwegs funktionierendes tragfähiges politisches Konzept hat. Und das hat man eben in Syrien nicht. Das hatte man übrigens auch für Libyen nicht. In Syrien hat man im Moment überhaupt keine Vorstellung, was denn auf den Sturz von Baschar Assad folgen könnte. Die Opposition ist in keiner Verfassung, dass sie einfach eine neue Regierung bilden könnte und das Land dann stabilisieren würde. Die Opposition ist zersplittert, sie ist untereinander verfeindet, teilweise ist es auf Sitzungen der Opposition im Ausland zu Prügeleien gekommen. Das heißt, wir haben eine Situation, die eben wirklich nicht bedeutet, dass der Sturz der Diktatur in Syrien automatisch zu stabilen Bedingungen führt. Die Gefahr ist sehr groß, dass es zu irakischen Verhältnissen kommen könnte, wie nach dem Sturz von Saddam Hussein. Und das hätte dann Auswirkungen auf den Libanon und sogar auf den Irak. Und deswegen ist man da mit gutem Grund sehr vorsichtig. Das Problem ist jetzt: Das Nichtstun ist natürlich innenpolitisch in Frankreich und in einigen westlichen Ländern schwierig durchzuhalten, und deswegen gibt es jetzt die Diskussion, doch etwas Militärisches zu unternehmen, selbst wenn man weiß, dass danach eigentlich die Probleme erst richtig anfangen würden.

Flocken: Aber letztlich wird doch durch die westlichen Staaten bereits in dem Konflikt interveniert, wenn auch nicht offen mit militärischen Mitteln. Denn die Oppositionsparteien werden unterstützt. Letztlich ist das doch eine nicht-offene Intervention?

Hippler: Ja, das ist richtig. Aber da kann man die Verantwortung, wenn etwas schief geht, natürlich jetzt immer noch relativ leicht von sich weisen. Also bisher kann man immer sagen, wir unterstützen die Opposition politisch, wir leisten auch infrastrukturelle Kommunikationshilfe, zum Teil Aufklärungshilfe, zum Teil finanzielle Hilfe. Aber wir sind ja nicht selbst Interventionspartei. Das Argument mag zwar falsch sein, aber es ist eben immer noch glaubwürdig genug, wenn jetzt etwas schief geht, und die Lage in Syrien noch weiter eskaliert, dann kann man sich zumindest öffentlich auf eine Position zurückziehen, dass es nicht an uns gelegen hat. Das konnte man zum Beispiel in Libyen oder im Irak nach dem Sturz von Saddam sicher nicht sagen.

Flocken: Offiziell wird ja eine Militärintervention von den westlichen Staaten in Syrien weiterhin abgelehnt. Unter welchen Rahmenbedingungen bzw. unter welchen Voraussetzungen könnte aus Ihrer Sicht eine Militärintervention in Syrien durchaus sinnvoll sein?

Hippler: Da sind mehrere Dinge, die man berücksichtigen muss. Erst einmal geht es um die Frage des Völkerrechts. Das heißt, solange der UN-Sicherheitsrat nicht zustimmt, wird jede Militärintervention, die nicht zur Selbstverteidigung dient - und Syrien wird die USA sicher nicht angreifen - völkerrechtswidrig sein. ...

Flocken: ... Aber man hat ja schon mal ohne UN-Mandat interveniert, zum Beispiel im Kosovo.

Hippler: Ja richtig, das ist ein wichtiger Punkt, ein wichtiges Gegenbeispiel. Allerdings war die Lage nach dem Ende des Kalten Krieges noch ein bisschen anders. Man hat damals eben Russland dazu kriegen können, relativ still zu halten. Aber inzwischen hat sich das Verhältnis sehr stark geändert, und ich glaube nicht, dass es möglich wäre, das Ganze nun zu wiederholen, gerade nach dieser sensiblen Erfahrung in Libyen, wo man eben eine Resolution zum Schutz der Bevölkerung im Sicherheitsrat verabschiedete, um nachher mit der Resolution den Regierungssturz zu betreiben. Das werden weder China, noch Russland, nochmal mit sich machen lassen. Also, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Ein zweiter ist die Innenpolitik. Im Moment ist es tatsächlich so, dass diese demonstrative Hilflosigkeit dem Syrienkonflikt gegenüber durchaus auch dazu führt, dass in manchen Ländern, denken Sie an Frankreich, die Kritik an der Regierung wächst, weil diese Hilflosigkeit nicht besonders prestigeträchtig ist. Das schafft einen Anreiz zu intervenieren, unabhängig davon, ob es sinnvoll ist. Und der dritte Gesichtspunkt ist, dass die Intervention selbst relativ problemlos ist. Ich denke, dass man in sechs bis acht Wochen das Regime stürzen könnte. Eine solche Intervention wäre aber kein Selbstzweck, sondern sie soll hinterher zu Stabilität führen. Und im Moment sieht es eben eher so aus, dass es nachher eine noch größere Instabilität als jetzt geben würde. Und das ist natürlich nicht der Sinn der Übung. Das heißt, man muss halbwegs sicher sein, dass die Intervention zu Stabilität führt, und nicht zu einer Vergrößerung der Instabilität.

Flocken: Wenn aber weder das Regime in Damaskus, noch die Rebellen den Konflikt militärisch entscheiden können, was bleibt denn dann? Nur noch die politische Lösung? Ein politischer Dialog, also gegebenenfalls auch mit Assad?

Hippler: Also ich glaube, dass der Zug abgefahren ist, dass es dafür zu spät ist. Wenn Assad klug genug gewesen wäre, im letzten Frühjahr, meinetwegen im letzten Sommer, vielleicht bis zum August, vielleicht noch bis zum September, und ernsthafte Reformbewegungen nicht nur in den Mund genommen hätte, sondern richtige reale Angebote gemacht hätte, dann hätte es tatsächlich eine Chance gegeben. Aber inzwischen, nach 25.000 - 30.000 Toten und einer großen Zunahme der Brutalität auf beiden Seiten dieses Krieges, kann ich so eine politische Lösung nicht mehr erkennen. Es wird sicher keine Verständigung mehr zwischen beiden Seiten geben. Es wird höchstens Kompromisse geben, die dann dazu führen werden, dass sich eine Seite dann mittelfristig doch durchsetzen wird. Also diese Verständigungslösung ist ausgeschlossen. Es wird jetzt eine militärische Abnutzung und tatsächlich eine gewaltsame Entscheidung geben. Oder aber möglicherweise eine andere positivere Lösung, so eine Entwicklung wie in Tunesien und in Ägypten, nämlich dass das Regime zerbricht, dass Teile der Sicherheitskräfte sich von dem Regime distanzieren, und dann das Regime merken wird, dass es keine Überlebenschance mehr hat. Im Unterschied zu Ägypten und Tunesien gibt es aber im Moment praktisch keine Hinweise, dass so etwas passieren könnte.

Flocken: Eine Zeitlang hat es ja geheißen, der Westen strebe eine sogenannte jemenitische Lösung an. Das heißt, der Machthaber Assad solle das Land verlassen und ins Exil gehen, so wie es damals im Jemen passiert ist. Sind solche Überlegungen für Syrien überhaupt noch realistisch oder ist das auch vom Tisch?

Hippler: Also ich habe nie so richtig verstanden, was eine jemenitische Lösung genau bedeuten sollte. Denn im Jemen gibt es immer noch nicht eine wirkliche Lösung. ...

Flocken: ... Aber der Machthaber hat ja das Land verlassen.

Hippler: Ja, das ist genau der Punkt. Der Machthaber ist herausgegangen, aber damals war seine Verwandtschaft noch sehr stark im Sattel, und eigentlich lag immer noch die Macht bei seinem ganzen Verwandtschafts- und Freundesklüngel. Das beginnt sich inzwischen zwar zu verschieben. Aber um mit dem Jemen rational umzugehen, geht es eben wirklich nicht nur um einzelne Personen, nicht nur um eine Diktatur, sondern um ein Land, das auch am Rande des Scheiterns der Staatlichkeit steht. Wenn Sie einen Staatsapparat haben, der nicht mehr wirklich funktioniert, oder vielleicht noch nie so richtig funktioniert hat, und das Land eben von allen möglichen Konflikten unterhalb der staatlichen Ebene zerrissen ist, dann ist das Austauschen einer Spitzenperson zwar ein wichtiges Symbol, aber noch nicht wirklich eine Lösung. Insofern hatte ich das Gefühl, das wäre höchstens ein Zwischenschritt, um dann mit dem Zerfall des Jemens etwas konstruktiver umzugehen. Aber in Syrien ist die Lösung im gegenwärtigen Fall ohnehin nicht auf der Tagesordnung, weil Baschar Assad ja gerade diesen brutalen Krieg führt, um eben an der Macht zu bleiben und sich nicht zurückzuziehen. Und solange sein Regime nicht zerbricht oder nicht zerfällt, solange das der Fall ist und die Militärs, die Sicherheitsdienste, die Geheimdienste, der Luftwaffengeheimdienst usw. hinter ihm stehen, solange das der Fall ist, kann ich das nicht erkennen, [dass er sich zurückziehen wird]. Zum Schluss, wenn der Krieg entschieden ist, dann könnte das irgendwann eine Option sein, dass der Diktator versucht, sich abzusetzen. Aber in der gegenwärtigen Lage ist das keine Option zur Lösung des Konfliktes. Nur, wenn er machtpolitisch entschieden ist. Aber gegenwärtig sehe ich da keine Chance.

Flocken: Der Konflikt dauert ja schon mehr als ein Jahr. Werden da die eigendynamischen Kräfte nicht immer stärker? Ist der Konflikt nicht schon längst außer Kontrolle geraten?

Hippler: Das ist eines der wichtigsten Probleme, denen wir jetzt gegenüberstehen. Wir hatten am Anfang wirklich monatelang einen politischen Aufstand, einen im Wesentlichen waffenlosen, unbewaffneten Aufstand. Bei dem Aufstand stand der große Teil der Gesellschaft einer säkularen Diktatur gegenüber, mit politischen Zielen wie: mehr Liberalität durchsetzen, Menschenrechten und Freiheitsrechten Geltung zu verschaffen. Diese unbewaffneten friedlichen Proteste wollte das Regime dann mit großer Brutalität und Härte niederschlagen. Aber dieser Konflikt zwischen einer unbewaffneten Bevölkerung und einem hochgerüsteten Regime, hat sich inzwischen aufgrund dieser Eigendynamik verändert, und es gibt jetzt zunehmend Konflikte, die jetzt auch zwischen Bevölkerungsgruppen stattfinden. Also vor allem zwischen alevitischen und sunnitischen Gruppen, wo sich jetzt frühere Nachbarn gegenseitig massakrieren, wo konfessionelle und religiöse Streitigkeiten eine immer wichtigere Rolle spielen. Und das Regime benutzt diese Konflikte, schürt diese Konflikte, um sich selber an der Macht zu halten. Aber da hat sich der Konflikt von einem, sagen wir mal, säkularen politischen gewaltlosen Aufstand inzwischen zu einem Mischaufstand entwickelt, in dem eben religiöse, konfessionelle Gründe zwischen Bevölkerungsgruppen eine große Rolle spielen.

Flocken: Droht dieser Konflikt mit Fortdauer nicht immer mehr zu einem Flächenbrand zu werden, der auch auf andere Regionen übergreift, so dass die Stabilität in der ganzen Region gefährdet ist?

Hippler: Das Ausweiten passiert in gewissem Sinne, aber da könnte man manchmal noch argumentieren, dass diese Ausweitung eigentlich erstaunlich langsam passiert. Wir haben inzwischen vielleicht ein paar Dutzend Tote im Libanon gehabt. Das ist sicher eine beträchtliche Gefahr, weil der Libanon ja weiterhin nicht stabil ist. Auch der Irak ist noch nicht so stabil, dass nach einem Sturz von Baschar Assad möglicherweise bestimmte extremistische Gruppen, die dadurch stärker werden könnten, nicht auch wieder auf den Irak zurück wirken könnten. Die Kurdenfrage ist eine ganz wichtige für den Irak, aber vor allem auch für die Türkei. Das heißt, wenn da tatsächlich im Zuge des Aufstandes die syrischen Kurden einen halben eigenen Staat entwickeln, wie das im Norden des Irak der Fall ist, dann wird das sicher auch in der Türkei mit großer Sorge gesehen.

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien"; 8. September 2012; www.ndrinfo.de


Die Langfassung des Interviews mit Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden an der Universität Duisburg-Essen finden Sie auf der Internetseite von NDR Info.




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