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Anschlag auf Syrien

Mindestens 108 Menschen in Hula getötet. UN-Sicherheitsrat verurteilt Massaker. Rußland sieht Mitverantwortung der Aufständischen. Die fordern eine Militärintervention

Von Karin Leukefeld *

Der UN-Sicherheitsrat hat bei einer Dringlichkeitssitzung am Sonntag den Mord an mindestens 108 Menschen der Dorfgemeinschaft Al-Hula in der syrischen Provinz Homs einstimmig verurteilt. Nach Angaben der UN-Beobachtermission in Syrien (UNSMIS) waren unter den Opfern 49 Kinder und 38 Frauen. UNSMIS-Leiter General Robert Mood bestätigte das Massaker in einer Videoschaltung von Damaskus. »Wer auch immer verantwortlich ist«, müsse zur Verantwortung gezogen werden, so Mood. Angaben über die Täter machte er nicht. Wer Gewalt anwende, werde Syrien weiter destabilisieren und das Land in einen Bürgerkrieg führen. Auf Fotos, die sowohl von der syrischen Nachrichtenagentur SANA als auch über das Internet verbreitet wurden, waren Kinder zu sehen, die offensichtlich im Schlaf aus nächster Nähe getötet worden waren. Mindestens 300 weitere Menschen wurden verletzt.

Washington, Berlin, Paris usw: Assad ist verantwortlich

Aus Protest gegen das Massaker von Hula haben mehrere EU-Staaten sowie die USA die syrischen Botschafter ausgewiesen. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien wiesen die bei ihnen akkreditierten syrischen Top-Diplomaten an, in ihre Heimat zurückzureisen.

Der Geschäftsträger der syrischen Botschaft in Washington, Suheir Dschabbur, müsse binnen 72 Stunden das Land verlassen, teilte das US-Außenministerium mit. Grund sei das Massaker von Hula. "Wir nehmen die syrische Regierung für dieses Niedermetzeln von Unschuldigen in Verantwortung", sagte Sprecherin Victoria Nuland.

Wie Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) mitteilte, wurde der syrische Botschafter in Berlin, Radwan Loutfi, in das Auswärtige Amt einbestellt, um ihn zum Verlassen des Landes aufzufordern. Der Botschafter sei zur "Persona non grata" erklärt worden und müsse binnen 72 Stunden Deutschland verlassen.

Unmissverständliche Botschaft

"Wir setzen darauf, dass unsere unmissverständliche Botschaft in Damaskus nicht auf taube Ohren stößt", erklärte Minister Westerwelle am 29. Mai. Das syrische Regime trage für die "schrecklichen Vorkommnisse" in Hula Verantwortung. Deutschland werde auch auf eine neue Befassung des VN-Sicherheitsrats mit der Lage in Syrien drängen. Nicht erst seit Hula sei klar: "Syrien hat unter Assad keine Zukunft. Er muss den Weg für einen friedlichen Wandel in Syrien freimachen.

Gemeinsam mit ihren Partnern verfolgt die Bundesregierung mit Nachdruck eine politische Lösung in Syrien. Die Bundesregierung ist hierfür auch in Kontakt mit syrischer Opposition und dem syrischen Nationalrat. Außenminister Westerwelle stellte klar: "Deutschland unterstützt die Beobachtermission UNSMIS und den Sechs-Punkte-Plan von Kofi Annan. Er muss jetzt in vollem Umfang umgesetzt werden."

Nachrichtenagenturen und Website des Auswärtigen Amts, 29.05.2012



In seiner Erklärung stellte der UN-Sicherheitsrat fest, daß gefundene Geschoßhülsen sowie Zerstörungen an Häusern einen Angriff der syrischen Armee vermuten ließen. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung verstoße gegen das Völkerrecht und gegen die Verpflichtungen, die sich für die syrische Regierung aus den UN-Sicherheitsratsresolutionen 2042 und 2043 ergäben. Der UN-Sicherheitsrat wiederholte seine Forderung, daß »alle Gewalt in allen Formen von allen Seiten eingestellt werden« müsse. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und UNSMIS sollten die Angriffe »untersuchen«. Die Mission des Syrien-Sonderbeauftragten Kofi Annan werde »voll unterstützt«, hieß es weiter.

Annan traf am Montag planmäßig in Damaskus ein, wo er mit dem syrischen Außenminister Walid Mouallem und am heutigen Dienstag mit Staatspräsident Baschar Al-Assad zusammentreffen wird. Vorgesehen ist die offizielle Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen Syrien und den Vereinten Nationen über die UN-Beobachtermission. Damaskus wartet noch immer auf eine Zusage zum Waffenstillstand von den Staaten, die die bewaffneten Kräfte in Syrien unterstützen.

Über das Geschehen in Hula besteht Unklarheit. Von seiten des oppositionellen Syrischen Nationalrates, der »Freien Syrischen Armee« (FSA) und der Syrischen Bobachtungsstelle für Menschenrechte (London) heißt es, die syrische Armee habe einen Protestzug in Hula am Freitag mit Panzern und Scharfschützen angegriffen. Anschließend seien Milizen und Sicherheitskräfte der Geheimdienste durch die Häuser gezogen und hätten das Blutbad angerichtet. Gleichwohl berichtete ein »Augenzeuge« gegenüber Spiegel online, die FSA habe das syrische Militär angegriffen. Es sei ein »großer Fehler« gewesen, sich dann wieder zurückzuziehen.

Der Sprecher des syrischen Außenministeriums, Jihad Makdissi, hatte am Sonntag jede Verantwortung der Streitkräfte für die Bluttat zurückgewiesen und das »terroristische Massaker« verurteilt. »Hunderte Bewaffnete« hätten die Sicherheitskräfte angegriffen, die »ihre Stellung nicht verlassen und sich verteidigt« hätten. Innen- und Verteidigungsministerium hätten von Angriffen auf fünf militärische Kontrollpunkte berichtet, die von 14 Uhr bis etwa 23 Uhr am Freitag gedauert hätten. Die Angreifer hätten dabei »modernste, schwere Waffen«, darunter »Mörser, Maschinengewehre, Antipanzerraketen« eingesetzt. Außer in Hula seien auch Zivilisten in dem Dorf Al-Shoumarieh getötet, Ernte und Wohnhäuser sowie das nationale Krankenhaus seien verbrannt worden. Eine Kommission aus Militärs und Juristen habe eine Untersuchung eingeleitet.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow machte am Montag beide Seiten für das Blutbad verantwortlich. Die Gegend um Hula werde von den Aufständischen kontrolliert, aber es gebe dort auch eine »starke syrische Militärpräsenz«. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem britischen Amtskollegen William Hague sagte Lawrow, das Gerede von einem »Regimewechsel in Syrien« gefährde die Umsetzung des Annan-Plans. Entgegen früheren Äußerungen bezeichnete auch Hague diesen Friedensplan als »derzeit beste Hoffnung für Syrien, um den Kreislauf der Gewalt zu stoppen«.

Die Muslimbruderschaft in Ägypten forderte derweil, daß arabische, islamische und andere Staaten in Syrien intervenieren müßten, weil die bisherigen Bemühungen gescheitert seien. »Dem Assad-Regime muß unmißverständlich klargemacht werden, daß es jeden Kredit verspielt hat und mit solchen Taten das Unheil nur noch verschlimmert«, erklärte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP). Die Führung in Peking zeigte sich »tief schockiert« und forderte eine Untersuchung.

Unbestätigten Berichten zufolge, soll es sich bei vielen der Opfer um Kinder vom Al-Kard-Stamm gehandelt haben. Das sagte der Damaskus-Korrespondent Hossein Morteza der iranischen Nachrichtenagentur FARS. Deren Familien seien bekannt für ihre Unterstützung der Regierung. Ähnlich äußerte sich im russischen Nachrichtensender Russia Today der politische Analyst Ibrahim Alloush. Der Zeitpunkt des Massakers mache es zudem höchst unwahrscheinlich, daß die syrische Armee verantwortlich sei, so Alloush. Sie würden nicht solche Taten begehen, sich zurückziehen und damit zulassen, daß »die Aufständischen alles fotografieren und dokumentieren«. Zumal bekannt war, daß Kofi Annan am Montag nach Damaskus komme, um die Vereinbarung über die UN-Mission zu unterzeichnen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Mai 2012


Cui bono?

Parteiische UN-Erklärung zu Syrien

Von Werner Pirker **


Das Massaker von Hula könnte den Vorwand für ein direktes Eingreifen der NATO in den syrischen Bürgerkrieg geliefert haben. Jedenfalls wird von seiten des Westens alles unternommen, das Publikum auf Krieg einzustimmen. Eine friedliche Lösung des Konflikts in und um Syrien scheint inzwischen so gut wie ausgeschlossen. Die jüngsten Ereignisse werden zum Anlaß genommen werden, die »internationalen Friedensbemühungen« für gescheitert zu erklären, den Bürgerkrieg weiter anzuheizen und bei anhaltender Unterlegenheit der prowestlichen Seite der NATO die Aufgabe eines militärischen Regimewechsels zu übertragen.

Die »Wertegemeinschaft« weiß um den Nutzen von Provokationen bei der Auslösung westlicher Kriegshandlungen. Das erfundene Massaker von Racak – ein Gefecht war zur Massenhinrichtung umgedeutet worden – lieferte 1999 den Vorwand für den NATO-Bombenkrieg gegen Jugoslawien. Daß sich UCK-Banditen nun den syrischen Rebellen als Berater in Sachen Öffentlichkeitsarbeit angedient haben, paßt haargenau in Bild.

In Hula sind tatsächlich Zivilisten massakriert worden. Doch es ist keineswegs geklärt, wer die Verantwortung dafür trägt. Die jüngste Erklärung des UN-Sicherheitsrates läßt indes den Schluß zu, daß man im fernen New York bereits zu wissen meint, daß das Massaker der Regierungsseite anzulasten sei. »Bei einem Angriff auf Wohngebiete«, heißt es in der Erklärung, habe es einen »mehrfachen Artillerie- und Panzerbeschuß durch Regierungstruppen« gegeben. Der russische Außenminikster Sergej Lawrow gibt beiden Seiten die Schuld für das Blutbad. »Wir wissen, daß die Oppositionsarmee, zumindest ihre radikalsten Teile, fortwährend Zeichen erhält, nicht aufzuhören«, sagte er.

Darum genau geht es. Die bewaffnete Opposition, von den Ölscheichs aufgerüstet und von westlichen Militärberatern auf Trab gebracht, hat nie auch nur das geringste Interesse an einer nichtmilitärischen Lösung des Konflikts bekundet. Alle Angebote von Regimeseite, eine politische Reform, einschließlich der Bildung eines Mehrparteiensystems, durchzuführen, wurden vom prowestlichen Syrischen Nationalrat stets zurückgewiesen. Auch der Annan-Plan stieß auf seiten der Opposition auf kaum verhüllte Ablehnung. Damit dürfte auch einigermaßen klar sein, in wessen strategischem Kalkül das Massaker von Hula liegt. Nicht in dem des syrischen Regimes, das freie Wahlen und damit auch die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsel offeriert, sondern in dem der bewaffneten Opposition, die ausschließlich auf ein militärisches »Regime Change« setzt und eine Nacht der langen Messer in Aussicht stellt.

Damit ist noch nicht gesagt, daß die Regierungstruppen vor Ort keine Verbrechen gegen Zivilisten begangen haben. Daß es sich aber um ein vom Regime bewußt geplantes oder auch nur in Kauf genommenes Massaker gehandelt hat, ist mehr als unwahrscheinlich.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Mai 2012 (Kommentar)


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