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"Eine perverse Form des Islam"

Aufständische in Syrien bekämpfen sich gegenseitig. Radikaler Al-Qaida-Arm gewinnt an Einfluß

Von Gerrit Hoekman *

Es sieht schlecht aus für Syriens Aufständische. Mit einer Großoffensive drängen Regierungstruppen ihre Verbände derzeit langsam aber stetig zurück. Und nun bekämpfen sich die Rebellen auch noch untereinander. Am vergangenen Freitag ist Kamal Hamami, Mitglied des Obersten Militärrats der vom Westen unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA), in der Nähe der Hafenstadt Lattakia erschossen worden. Er hatte sich mit der Terrororganisation »Islamischer Staat Irak und Großsyrien« (ISIS) getroffen, um eine Militäroperation gegen die syrische Armee zu planen. Bei dem Treffen, an dem auch andere Führer der FSA teilnahmen, kam es zum Streit. Ein Kommandant des Al-Qaida-Ablegers in Syrien ermordete Hamami schließlich vor den Augen seiner Kampfgefährten.

»Sie betrachten uns als Ungläubige und haben ausrichten lassen: Wir werden euch alle töten«, berichtet Louay Al-Mokdad, der militärische Koordinator der FSA, im TV-Sender Al-Arabiya. »Wir werden mit ihnen den Boden wischen«, droht ein hohes FSA-Mitglied, das nicht genannt werden will, im britischen Guardian. »Sie brauchen eine Lektion.« Am Wochenende soll es in Aleppo und in der Provinz Idlib bereits zu Gefechten gekommen sein. Es riecht nach einem Krieg im Krieg. Bislang ging es bei bewaffneten Auseinandersetzungen unter den bis zu 300 Rebellengruppen meistens um die Verteilung von Waffen, Geld und Kriegsbeute, doch aus den Scharmützeln ist ein ausgewachsener Machtkampf geworden. Unlängst gab es Dutzende Tote und Verletzte, als in der nordsyrischen Stadt Al-Dana konkurrierende Einheiten aufeinander schossen. Erneut mittendrin: der »Islamische Staat Irak und Großsyrien«. Am Tag darauf wurden die enthaupteten Leichen des Führers einer lokalen Rebellengruppe und seines Bruders gefunden. Ihre Köpfe lagen neben einer Mülltonne in der Innenstadt von Al-Dana. Der Mord trägt die Handschrift der Al-Qaida.

Schon länger sickern Kämpfer des »Islamischen Staats«, die vor allem aus dem Irak, Tschetschenien und Afghanistan stammen, nach Syrien ein und beanspruchen unverhohlen die Führung im Aufstand gegen Präsident Baschar Al-Assad. Sie gelten als extrem fanatisch, skrupellos und blutrünstig. »Eine perverse Form des Islam, die weder mit unserer Sicht noch mit unseren Zielen übereinstimmt«, macht ein FSA-Kämpfer gegenüber dem Guardian darin aus. Bislang hatte die FSA trotzdem kein Problem mit den Gotteskriegern Seite an Seite zu kämpfen. Tatenlos sah sie zu, wenn die Islamisten in den eroberten Gebieten ihre Terrorherrschaft aufbauten und reihenweise vermeintliche Assad-Anhänger und »Ungläubige« ermordeten. Erst jetzt, da sie selbst ins Visier der Fundamentalisten gerät, wird die FSA nervös. Der Richtungsstreit hat inzwischen sogar Al-Qaida selbst erreicht. Der Führer des »Islamischen Staat Irak«, Abu Bakr Al-Baghdadi alias Abu Dua, verkündete im April in einer Videobotschaft den Zusammenschluß mit der Nusra-Front, dem syrischen Arm der Al-Qaida, zum »Islamischen Staat Irak und Großsyrien“. Gefragt hatte der Terrorist, auf den die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt haben, die Syrer dazu allerdings offenbar nicht. Die Führung der Nusra-Front reagierte sichtlich überrascht und dementierte den Zusammenschluß. Schließlich schaltete sich Bin-Laden-Nachfolger Ayman Al-Zawahiri in den Streit ein und sprach in einem Brief an den Fernsehsender Al-Dschasira ein Machtwort: »Die Nusra-Front bleibt ein unabhängiger Arm«, befahl der Al-Qaida-Chef. Doch Baghdadi hält an seinem Plan fest. »Ich wähle Gottes Kommando«, antwortet er in einem zweiten Video und stellt die Echtheit des Zawahiri-Briefs in Frage.

Der irakische Geheimdienst vermutete, daß sich bereits rund 70 Prozent der Nusra-Front Baghdadi angeschlossen haben. »Es gibt nun zwei Nusra«, zitiert die Jerusalem Post ein syrisches Mitglied. Die Baghdadi-Fraktion will nicht nur Assad stürzen, sondern auf Basis einer sehr strengen Auslegung der Scharia ein Kalifat im Irak und in Großsyrien errichten. Das würde auch Jordanien, den Libanon und Palästina einschließen. Für Baghdadi ist ein Sieg in Damaskus nur eine Etappe auf dem Weg nach Jerusalem. Zunächst einmal müssen sich die Gotteskrieger aber mit der Provinzhauptstadt Raqqa begnügen, wo sie Angst und Schrecken verbreiten. Im Internet kursierende Videos zeigen, wie Gegner auf offener Straße hingerichtet werden – ein Vorgeschmack auf das, was ganz Syrien nach einem Sieg der Fundamentalisten blühen würde.

* Aus: junge Welt, Freitag, 19. Juli 2013

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