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"Es geht um sozioökonomische Gerechtigkeit"

In Syrien gibt es Konflikte innerhalb des Regimes wie innerhalb der Opposition. Ein Gespräch mit Kadri Jamil *


Der Ökonom und Marxist Kadri Jamil gehört zum Nationalkomitee für die Einheit der Syrischen Kommunisten, das sich im Juli mit der Syrischen Nationalen und Sozialistischen Partei zur Volksfront für Veränderung und Befreiung zusammengeschlossen hat.


Wer ist Ihre »Volksfront für Veränderung und Befreiung«?

Die Volksfront wurde erst vor kurzem gegründet und ist eine Allianz aus dem Nationalkomitee für die Einheit der Syrischen Kommunisten und der Syrischen Nationalen und Sozialistischen Partei. Wir haben unsere Gründungserklärung am 9. Juli an den Mauern der Zitadelle von Damaskus abgegeben, am Denkmal für Salahaddin. Als Nationalkomitee für die Einheit der Syrischen Kommunisten haben wir in den letzten zehn Jahren unsere eigene Vision entwickelt – und als nun die Proteste begannen, fanden wir uns ungefragt plötzlich in den vordersten Reihen wieder.

Mit welchen Forderungen und Zielen wollen Sie dieses breite Protestspektrum zusammenführen?

Die finden sich in dem Namen der Volksfront: Veränderung und Befreiung, beides steht in dialektischer Verbindung. Das Leben hat gezeigt, daß die Befreiung besetzten Bodens im Kampf gegen die amerikanischen und zionistischen Interessen in der Region nicht erreicht werden kann, ohne eine starke, politische Struktur in Syrien zu haben. Diese muß verändert werden, was wiederum ohne die Umsetzung der allgemeinen, nationalen Ziele nicht erreicht werden kann. Obwohl es die Volksfront erst seit kurzem gibt, ist sie heute einer der Protagonisten der syrischen nationalen Opposition.

Worum geht es bei den Protesten?

Es geht um sozioökonomische Fragen, um Verteilung, Umverteilung, um Investitionen und Gewinne. Früher kamen Investitionen aus der Sowjetunion und vom Golf. In den letzten Jahren suchte das Regime nach neuen Quellen. Ermuntert vom Westen schaffte es die staatliche Planwirtschaft ab und liberalisierte die Ökonomie. Damit lud Damaskus ausländisches Kapital ein, in Syrien zu investieren, während die eigene Wirtschaft immer schwächer wurde. Das Wesen der syrischen Wirtschaft muß sich ändern, sie muß produktiv werden. Die Korruption muß verschwinden. Das ist der Kern des Krieges, der sich hier abspielt.

Die Demonstranten verlangen aber »Freiheit und Demokratie«.

Die Forderung nach politischen Reformen ist oberflächlich. Sie ist nur ein Werkzeug, um ein Ziel zu erreichen. Manche wollen Reformen, um den Reichtum unter den Reichen zu verteilen. Wenn man das versteht, versteht man die Gründe hinter den Konflikten, die jetzt zwischen verschiedenen Volks- und Religionsgruppen geschürt werden. Die Diebe aus der Religionsgruppe, die in Syrien in der Minderheit ist (Aleviten, jW) haben kein Interesse an Reformen. Die Diebe aus der Religionsgruppe, die die Mehrheit stellt (Sunniten, jW) wollen nur deswegen Reformen, weil sie ihren Anteil haben wollen. Beide Seiten benutzen ihre armen Bevölkerungsgruppen, um diesen Krieg anzufeuern. Beiden würde eine internationale Intervention helfen zu überleben. Sie könnten behalten, was sie gestohlen haben, sie müßten niemandem Rechenschaft ablegen.

Was fordern Sie?

Wir fordern den Reichtum der Reichen an die Armen zu verteilen. Man darf den Konflikt in Syrien nicht oberflächlich betrachten. Es geht nicht um »die Straße« und »das Regime« oder um »die Opposition« und »das Regime«, nein. Es gibt einen Konflikt im Regime, es gibt einen Konflikt in der Opposition, und es gibt Widersprüche in der Volksbewegung. Jede Gewaltanwendung, sei es vom Regime oder von der Straße, verschärft diese Konflikte. Gewalt soll nur verdecken, worum es eigentlich geht: um sozioökonomische Gerechtigkeit.

Interview: Karin Leukefeld, Damaskus

* Aus: junge Welt, 5. November 2011


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