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Flucht in den Nordirak

Syrien: Über 800 Dschihadisten bei Kämpfen mit Kurden getötet. Ölfelder verteidigt

Von Nick Brauns *

Nach der monatelang erwarteten Öffnung eines Grenzübergangs hat eine Massenflucht aus den kurdischen Landesteilen Syriens in den Nordirak eingesetzt. Seit Ende der vergangenen Woche strömten 30000 Menschen über eine Behelfsbrücke über den Tigris bei Semalka, meldete das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge. Viele kurdische und arabische Flüchtlinge waren zuvor aus Aleppo, Raqqa und anderen von bewaffneten Banden der Freien Syrischen Armee und des dschihadistischen Al-Qaida-Netzwerkes terrorisierten Städten in die vergleichsweise sicheren kurdischen Landesteile Syriens geflohen. Dort hatten sie in Zelten oder Schulgebäuden gelebt. In der kurdischen Autonomieregion im Nordirak werden sie nun in Flüchtlingslagern in Dohuk, Erbil und Sulaymania untergebracht.

In den als Rojava bezeichneten kurdischen Siedlungsgebieten Sy­riens bahnt sich unterdessen eine humanitäre Katastrophe an. Ursache ist die doppelte Blockade durch die für Hilfsgüter geschlossenen Grenzen zur Türkei und zum Nordirak sowie die Kontrolle wichtiger Straßen ins Landesinnere durch die bewaffnete Banden. Die Sprecherin der Gesundheitskommission der Stadt Derik, Rojin Ahmed, warnte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat vor einer bereits bestehenden medizinischen Notlage. Medikamente seien aufgebraucht, viele Ärzte geflohen. In den letzten Tagen gingen die heftigen Gefechte zwischen kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den aus der Türkei eingedrungenen Al-Qaida-Kämpfern vielerorts weiter. YPG-Kämpfer verteidigten dabei erfolgreich die von Kurden, Arabern und christlichen Minderheiten bewohnte Stadt Rimelan, in deren Nähe sich 60 Prozent der syrischen Ölvorräte befinden, gegen die Gotteskrieger der Al-Nusra-Front.

Seit dem Wochenende konzentrieren die Dschihadisten ihre Angriffe erneut auf die Mitte Juli von der YPG eroberte Stadt Serekaniye an der Grenze zur Türkei. Feuerschutz bekamen sie dabei von der am Grenzstreifen aufgefahrenen türkischen Armee, die nach Angaben der Nachrichtenagentur Hawar Raketen auf die Stadt abschoß. Am Montag hatten zudem Hubschrauber der syrischen Armee die Städte Derik und Girke Lege beschossen. Unklar ist, gegen wen sich diese Angriffe, bei denen ein Zivilist getötet und mehrere verletzt wurden, richteten. Allein im Juli seien rund 800 dschihadistische Kämpfer bei Gefechten mit den kurdischen Milizen getötet worden, heißt es in einer zu Wochenbeginn veröffentlichten Bilanz der in Rojava führenden kurdischen »Partei der demokratischen Einheit« (PYD). Die eigenen Verluste bezifferte YPG-Sprecher Redur Xelil mit rund 80 Kämpfern. Über das Schicksal von 700 in den vergangenen Wochen durch Al-Qaida-Banden verschleppten Zivilisten gibt es laut YPG keine gesicherten Informationen.

Im Dreieck Aleppo–Bab–Azzaz seien nach einem Angriffsbeschluß von Kommandanten der Freien Syrischen Armee vom Juli derzeit 117 kurdische Dörfer Angriffen und Belagerungen ausgesetzt, meldete der Kommandant der Al-Akrad-Front, Haji Ahmad. Die zum Schutze von Kurden außerhalb Rojavas gebildete Kampfgruppe gehörte ursprünglich zur Freien Syrischen Armee, ist aber nun mit den YPG verbündet. Bei Gefechten in der Region Sad Shahab seien auch zwei Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT getötet worden, deren Ausweise die Al-Akrad-Front in den kommenden Tagen veröffentlichen will.

Unterdessen hat die PYD rund ein Jahr, nachdem die von ihr geführten Volksräte die Kontrolle über die von den Regierungstruppen geräumte Region übernommen hatten, mit den Vorbereitungen zur Bildung einer Übergangsregierung für Rojava begonnen. Dazu leitete sie eine Reihe von Treffen mit anderen Parteien sowie den Repräsentanten verschiedener religiöser und ethnischer Gruppierungen ein. »Unser Projekt ist nicht separatistisch, wie von manchen Seiten behauptet, und es bedroht auch nicht die Einheit Syriens«, erklärten PYD-Sprecher. »Es zielt vielmehr darauf, ein neues, vereinigtes, demokratisches und pluralistisches Syrien aufzubauen.«

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. August 2013


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