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"Wir haben die Lage ganz alleine im Griff"

Kurden im Norden Syriens haben Armee mit 45000 Kämpfern. Ein Gespräch mit Redur Khalil *


Redur Khalil ist seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien ranghohes Mitglied der bewaffneten kurdischen Organisation »Yekineyen Parastina Gel« (YPG - Volksschutzeinheiten).


Wie ist die Sicherheitslage in den kurdisch kontrollierten Gebieten Syriens?

Seit dem 16. Juli liefern sich unsere Truppen auf unserem Territorium ständig Gefechte mit Gruppen, die mit der Al-Qaida verbunden sind. Sie töten und entführen Kurden, vertreiben die Menschen aus ihren Dörfern und plündern. Nach heftigen Zusammenstößen in Gebieten wie Afrin, 340 Kilometer nördlich von Damaskus, und Serekaniye, 506 Kilometer nördlich der Hauptstadt, haben unsere Volksverteidigungseinheiten sie bis nach Til Kocer, 840 Kilometer nordöstlich von Damaskus an der syrisch-irakischen Grenze, abgedrängt.

Viele behaupten, daß die Türkei Dschihadisten über ihre Grenze geschleust hat. Was denken Sie darüber?

Daran besteht kein Zweifel. Vor ein paar Tagen haben wir sie wieder gesehen, wie sie von der türkischen Grenze kamen. Wir sind sogar von türkischer Artillerie angegriffen worden. Zwei unserer Leute starben durch Gewehrfeuer türkischer Soldaten. Wir verfügen inzwischen auch über eine riesige Sammlung von Personalausweisen, die Kämpfern aus Ägypten, Tunesien oder Bahrain gehörten. Viele kamen aus dem Irak und bis jetzt drei aus der Türkei.

Wie erklärt sich die Anwesenheit so vieler fremder Kämpfer?

Zwei Dinge kommen bedauerlicherweise zusammen: zum einen der türkische Chauvinismus, der jeden Schritt hin zu einer Anerkennung des kurdischen Volks in Syrien oder anderswo boykottieren will, und andererseits der Traum der arabischen Islamisten von einem islamistischen Staat. Wir Kurden sind zwischen diesen beiden Plänen gefangen. Die Dschihadisten bekämpfen uns jedenfalls, in den vergangenen 20 Monaten wurden mehr als 20 Selbstmordanschläge auf uns verübt.

Haben Sie Kontakte zu Dschihadisten oder zu Assads Soldaten?

Vor ein paar Tagen haben wir einige Gefangene im Austausch gegen die Leichen unserer Märtyrer freigelassen. Das ist alles. Zum Assad-Regime haben wir keinen Kontakt.

Gerüchte kursieren, daß Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK in die syrischen Kurdengebiete strömen, um sich Ihnen Reihen anzuschließen.

Das stimmt nicht. Wir warten auch nicht auf sie, weil wir die Lage ganz allein im Griff haben. Wir haben eine Armee mit 45000 Kämpfern, die alle 45 Tage lang ausgebildet worden sind.

Dennoch hat die PJAK – das Pendant der PKK im iranischen Kurdistan – öffentlich erklärt, daß sie mit Ihnen kämpfen will.

Sie sind darauf vorbereitet, ihre Kämpfer zu schicken. Aber wie ich schon sagte, kommen wir gut allein klar. PKK und PJAK sind grundsätzlich willkommen, doch momentan brauchen wir sie nicht.

Sind auch Nichtkurden in Ihren Reihen vertreten?

Araber, Assyrer und Turkmenen haben sich uns angeschlossen. Sie kommen aus allen Schichten. 35 Prozent von ihnen sind Frauen. Wir leben seit Jahrhunderten mit ihnen zusammen, sie sind genau wie wir integraler Bestandteil von Kurdistan. Unseren Volksverteidigungseinheiten geht es darum, das westliche Kurdistan mit all seinen ethnischen, nationalen und religiösen Unterschieden zu schützen.

Es wird erzählt, daß ihre Truppe auch Kinder rekrutiert.

Das Rekrutieren von Kämpfern unterhalb des gesetzlichen Mindestalters lehnen wir vollständig ab. Nach den Regelungen, die in diesem Gebiet gelten, ist das verboten. Leider hat dies nicht verhindert, daß einige wenige von ihnen sich uns als Freiwillige unter dem Druck der derzeitigen Verhältnisse und aufgrund der Unachtsamkeit mancher angeschlossen haben. In diesen wenigen Fällen war es ihnen nicht gestattet, an Militäroperationen teilzunehmen.

Woher bekommen Sie Geld und Nachschub?

Wir werden von dem Obersten Kurdischen Komitee unterstützt und erheben außerdem Steuern an den Grenzen der von uns kontrollierten Gebiete.

Wie sehen Sie den Friedensprozeß zwischen der Regierung in Ankara und den türkischen Kurden?

Wie üblich hat sich die kurdische Seite nach vorn bewegt, während die Türken bisher keinen Finger krumm gemacht haben. Trotz aller Hindernisse bin ich fest davon überzeugt, daß es endlich Frieden geben wird und die Streitfragen beigelegt werden. Dies fordert nicht nur eine Seite, sondern die gesamte türkische Gesellschaft. Bis dahin mag es länger dauern als erwartet, aber ich bin sicher, daß es am Ende so sein wird.

Interview: Karlos Zurutuza, IPS

* Aus: junge welt, Donnerstag, 7. November 2013


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