Attacken auf die Selbstverwaltung
Kurdische Komitees im Norden Syriens sind Türkei ein Dorn im Auge
Von Martin Dolzer *
In weiten Teilen der kurdischen Provinzen
Syriens wurden – nach der
meist friedlich verlaufenen Vertreibung
staatlicher Kräfte – basisdemokratische
Volksräte aufgebaut.
Mit Hilfe spezieller Komitees wollen
die Volksräte in den selbstverwalteten
kurdischen Regionen
Nordsyriens das Leben schrittweise
demokratisieren. »Es handelt
sich unter anderem um Komitees
für Soziales, Gesundheit,
Bildung, die Gleichstellung der
Frau, Kultur und Sprache. Eine
Grundvoraussetzung für den Erfolg
dieses Modells ist die Einbindung
sämtlicher Ethnien und Religionsgruppen
« erklärt Salih
Müslüm, der Vorsitzende der Demokratischen
Einheitspartei (PYD)
gegenüber dem Autor. Die PYD
spricht für etwa 60 Prozent der syrischen
Kurden, die im Norden des
Landes sowie in Aleppo und Damaskus
leben.
16 weitere Parteien verschiedener
politischer Ausrichtung haben
sich mit der PYD zum »Hohen
Kurdischen Rat« zusammengeschlossen,
der die Dachorganisation
der Selbstverwaltung ist.
Zur Sicherung der relativ stabilen
Region wurden die kurdischen
Volksverteidigungskräfte (YPG)
gebildet. Der Regierung der Türkei
ist dies alles ein Dorn im Auge.
Um in die kurdischen Regionen
eindringen zu können, rüstete
sie in den letzten Monaten meist
islamistisch-salafistische Gruppierungen
mit schweren Waffen
und Panzern aus und ließ diese
über die Grenze an neuralgischen
Punkten angreifen. Die Attacken
konzentrierten sich dabei auf die
Stadt Sere Kaniye, wo neben Kurden
auch viele Araber leben.
Die Kämpfer wurden in der Türkei
medizinisch versorgt und
nutzten wiederholt Ambulanzen
zum Waffentransport. Berichten
zufolge starben bei den Gefechten
auch Mitglieder des türkischen
Geheimdienstes Jitem. »Die Angriffe
auf Sere Kaniye hat die YPG
abgewehrt. Gestern hat der Hohe
Kurdische Rat nach monatelangen
Gefechten, bei denen auch
viele Zivilisten starben, ein Abkommen
mit der Freien Syrischen
Armee (FSA) unterzeichnet«, skizziert
Müslüm. »Die FSA setzt sich
aus einer Vielzahl von Gruppierungen
mit unterschiedlichen Interessen
und Zielen zusammen
und ist keine zentral gesteuerte
Einheit, wie oft angenommen
wird.«
Das Friedensabkommen sieht
den Abzug sämtlicher nicht aus der
Region stammenden Kämpfer vor.
Darauf folgend soll ein gemeinsamer
Verwaltungsrat für Stadt und
Region gewählt werden, der konsensuell
handelt. Auch gemeinsame
Kontrollpunkte von FSA und
YPG sowie die gemeinsame Kontrolle
der Grenze zur Türkei sind
geplant. Die Abkommensparteien
einigten sich darauf, dort zusammenzuarbeiten,
wo die Vorherrschaft
der Baathregierung noch
nicht überwunden ist.
In Aleppo kam es in den letzten
Wochen ebenfalls zu schweren
Gefechten. Bei einem Luftangriff
wurden 20 kurdische Zivilisten
getötet. Sowohl Einheiten der FSA
als auch Regierungstruppen hatten
kurdische Stadtteile und die
YPG angegriffen. Jetzt hat sich die
Lage entspannt. In Ashrafiya, einem
strategisch wichtigen Ort in
den nahe gelegenen Bergen,
kommt es jedoch seit Tagen zu Gefechten
zwischen Regierungstruppen
und der YPG.
»Wir wissen auch aufgrund
jahrzehntelang in Syrien erfahrener
Gewalt, Folter und Unterdrückung,
wie wichtig es ist, eine Revolution
für Demokratie, Freiheit
und Würde auf friedlichem Weg
umzusetzen. Deshalb haben wir
uns dem Koordinationskomitee für
demokratischen Wandel angeschlossen
und begrüßen jede Initiative
für einen Dialog. Es darf
nicht vergessen werden, dass ohne
die Lösung der kurdischen Frage
keine Demokratisierung Syriens
möglich sein wird«, mahnt Salih
Müslüm. Zum Frieden sei es
noch ein weiter Weg, da viele regionale
und internationale Akteure
lediglich versuchen, ihre eigenen
Interessen auf Kosten der
syrischen Bevölkerung durchzusetzen.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. Februar 2013
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