Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Alle vertreten die Mehrheit"

Konflikt in Syrien ist militärisch nicht zu lösen: Die UNO bemüht sich um Vermittlung zwischen Aufständischen und Regierung. Ein Gespräch mit Mokhtar Lamani *


Der aus Marokko stammende Mokhtar Lamani leitet das Büro des UN-Sonderbeauftragten für Syrien in Damaskus. Als Beauftragter der Arabischen Liga war Lamani 2006/2007 in Bagdad, um in dem interkonfessionellen Konflikt zu vermitteln. Im Februar 2007 gab Lamani den Auftrag zurück und kritisierte die Arabische Liga für ihre Unentschlossenheit.


Seit einem Jahr leiten Sie das Büro des UN-Sonderbeauftragten für Syrien in Damaskus. Wie war es, als Sie Ihre Arbeit begonnen haben?

Als ich hier nach meiner Ankunft das erste Mal mit verschiedenen Kommandanten von bewaffneten Gruppen sprechen wollte, hieß es immer: Wenn Sie mit uns reden wollen, müssen sie nach Istanbul gehen. Ich sagte nein, das tue ich aus Prinzip nicht. Ich bin hier, um Syrer in Syrien zu treffen. Ich nehme die Sache ernst und halte mich nicht 25 Tage im Monat auf irgendwelchen Seminaren im Ausland auf.

Die Lage ist ja schwieriger geworden, was sind Ihre Erfahrungen?

Ziemlich deprimierend. Es gibt zwei schwerwiegende Probleme für unsere Mission. Das eine ist die Fragmentierung der Gesellschaft, das andere das große Mißtrauen der Syrer untereinander. Der Konflikt hat sich regionalisiert, und was mich besonders beunruhigt, ist das zunehmende Sektierertum. Damit meine ich nicht, daß die Syrer in irgend­einer Weise sektiererisch sind, überhaupt nicht. Was ich meine bezieht sich nicht auf ihre Vergangenheit, sondern auf ihre Zukunft. Ich rede von diesem Extremismus, dem massenhaften Töten, der Zerstörung des Landes. Eine Brücke oder ein Haus kann wieder aufgebaut werden. Aber wie kann man dieses Volk heilen?

Ich bin fest davon überzeugt, daß es keine militärische Lösung gibt. Wenn man das Land retten will, muß man nach einer politischen Lösung suchen. Aber heute ist das Land offen für alle möglichen Interventionen. Und wie wir wissen, haben ausländische Interventionen nichts mit gutem Willen zu tun, sondern sind das Ergebnis verschiedener Interessen. Diese Interessen sind sehr widersprüchlich, Syrien ist Austragungsort vieler Schlachten geworden.

Waren Sie überrascht, als die USA ihre Strategie wechselten und statt eines militärischen Angriffs den Dialog mit Rußland suchten?

Zunächst einmal war ich natürlich froh, daß dieser Angriff ausblieb. Es war klar, daß dadurch keines der Probleme gelöst werden konnte. Da müssen wir uns nur an den Irak erinnern, wo unschuldige Menschen für den militärischen Angriff einen hohen Preis bezahlt haben und ihre Probleme sich nur vergrößerten. Hinzu kommt das Völkerrecht. Ein solcher Angriff ist – ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates – illegal. Es geht hier nicht nur um den Erhalt des Landes, sondern auch um den Erhalt des Volkes, das eine Geschichte hat, die so alt ist wie die Menschheit ist. Wir brauchen die Garantie, daß niemand als die Syrer selber über ihre Zukunft entscheiden.

Was genau machen Sie und Ihre Mission in Syrien?

Wir sind Teil der Mission von Herrn Brahimi, der als Sonderbeauftragter dieses Problem in Syrien lösen soll. Das erste was wir hier gemacht haben, war eine politische Landkarte des heutigen Syriens anzufertigen. Wer ist wer, wer macht was usw., um die verschiedenen Kräfte wirklich zu verstehen. Mein Auftrag war, Kontakt zu allen Kräften, zu allen Syrern herzustellen, zuzuhören und, entsprechend dem Gehörten, Vorschläge zu machen. Aber wie ich ja schon gesagt habe, ist das Problem nicht nur ein innersyrisches Problem. Diese Krise hat drei Ebenen: die lokale, die regionale und die internationale. Hinzu kommen die Wechselbeziehungen, die zwischen diesen drei Ebenen bestehen.

Sie sprechen mit Regierung, Opposition, mit den bewaffneten Gruppen und anderen syrischen Vertretern, wie würden Sie diese Kontakte beschreiben?

Meine Kontakte sind respektvoll. Dann ist es nicht schwer, ein gewisses Vertrauen aufzubauen. Weder Herr Brahimi noch ich haben ein Programm, außer daß wir das syrische Volk bei der Lösung dieses Konflikts unterstützen wollen. Es ist natürlich nicht einfach, Vertrauen zwischen den Leuten zu schaffen, wenn sie sich hassen.

Welchen Gruppen sind Sie bisher begegnet?

Die Medien sprechen ja immer über die »Freie Syrische Armee« und die Opposition. Wenn man genau ist, muß man von »Armeen« und von »Oppositionsgruppen« sprechen. Eine »Brigade« kann nicht militärisch definiert werden. Es können fünf oder auch 5000 Leute sein. Wir haben mehr als 2000 verschiedene Gruppen ausgemacht. Es gibt Nationalisten, die Demokratie wollen. Es gibt Extremisten, die ein Programm haben, das mit Syrien nichts zu tun hat. Es gibt Kriminelle, die die Situation ausnutzen, um ein Museum zu plündern oder Leute zu entführen und dann Geld erpressen. Und natürlich gibt es auf der Seite der Regierung Hardliner und Leute, die einlenken. Das ist normal. Tatsache ist, daß sie nicht miteinander reden, außer mit Waffen. Sie hören sich nicht zu. Es wäre wichtig, innerhalb des Landes einen Konsens herzustellen und die Syrer gegen den Einfluß von außen zu immunisieren. International muß »Genf II« unterstützt werden, sonst gibt es Chaos. Und zwar nicht wie in Somalia, sondern viel schlimmer. Denn die Auswirkungen werden regional sein

Was hat eine Genfer Konferenz bisher verhindert?

Wenn man wegen der großen Fragmentierung 100 Delegationen hat, geht es nicht. Das Beste wären zwei Delegationen, die ernsthaft verhandeln. Das aber ist ein großes Problem. Einige Staaten unterstützen die »Nationale Koalition«. Von dem, was wir hier im Land hören, vertritt diese Koalition nicht einmal einen kleinen Teil der Oppositionsgruppen. Und wenn man die bewaffneten Gruppen fragt, wer für sie spricht, stellt man eine riesige Fragmentierung fest. Hinzu kommt die regionale Beteiligung an »Genf II«, sie muß sein. Ohne die Einbeziehung der regionalen Staaten wird es keine Lösung geben.

Sehen Sie die Möglichkeit für einen Waffenstillstand?

Ja, aber nicht isoliert, sondern als Teil eines Pakets. Dieses Paket muß einen Plan für die Zukunft Syriens enthalten, auf den alle sich einigen. Nur dann kann ein Waffenstillstand funktionieren. Natürlich werden es nicht alle Gruppen respektieren, und wir müssen feststellen, daß es unter allen Akteuren – lokal, regional, international – solche gibt, die keine politische Lösung wollen.

Eine Staatengruppe, die sich »Freunde Syriens« nennt, unterstützt ausgewählte Oppositionskräfte. Auch Deutschland tut das. Sie finanzieren eine Exilregierung in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten, sogenannten befreiten Gebieten. Mit dem Geld wird humanitäre Hilfe geleistet, werden Leute ausgebildet, Infrastruktur wiederaufgebaut. Diese Operation wird in Gaziantep in der Türkei koordiniert. Richtet sich dieser Prozeß nicht gegen das Ziel Ihrer Mission in Syrien?

Wenn versucht wird, humanitäre Hilfe zu politisieren, ist das ein Problem. Es gibt sogar den Versuch, die Arbeit der UN-Organisationen zu politisieren. Wir lehnen das ab. Ich persönlich finde es zynisch, wenn das Leid der Menschen für politische Zwecke benutzt wird. Viele Gruppen haben mich angesprochen, weil sie Unterstützung für die Einrichtung einer Hilfsorganisation haben wollten. Ich habe sie gefragt, warum sie das als politische Partei wollten? Um Stimmen zu fangen? Wer vertritt die schweigende Mehrheit in diesem Land? Mehr als 157 Parteien und Gruppen sind zu uns gekommen, dazu kommen noch die Kurden mit ihren 35 verschiedenen Gruppen. Jeder hat erklärt, 70 Prozent der Bevölkerung zu vertreten. Wie viele 70 Prozent passen eigentlich in 100 Prozent! Alle geben an, die Mehrheit zu vertreten.

Bundesaußenminister Westerwelle begründete die Hilfe für die Nationale Koalition mit den Worten: »Wenn die Menschen in Syrien der gemäßigten Opposition Vertrauen entgegenbringen, weil sie den Wiederaufbau in den von ihr kontrollierten Gebieten sichtbar und tatkräftig voran treibt, stützt das ihre Rolle für eine politische Lösung und eine friedliche Zukunft Syriens.«

Wo gibt es denn diese »befreiten Gebiete«? Es gibt verschiedene Gruppen und jede spielt eine eigene Rolle. Vielleicht in einer Stadt, einem Dorf oder sonst wo. Es gab einige Kräfte, die wollten das Beispiel Libyens hier wiederholen, aber das funktioniert nicht. Bei meinen Kontakten mit verschiedenen Gruppen habe ich Namen genannt und was haben sie geantwortet? »Wenn die hierher kommen, werden wir sie umbringen«, haben sie gesagt. Das ist hier nicht Vietnam mit der südvietnamesischen Regierung und dem Vietcong. Das ist hier völlig anders und es gibt ganz andere Vorstellungen.

Ihre Mission wird dadurch erschwert?

Sie wird fast unmöglich gemacht.

Interview: Karin Leukefeld, Damaskus

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. September 2013


Zurück zur Syrien-Seite

Zur UNO-Seite

Zurück zur Homepage