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"Weil das Land in Gefahr ist"

Reportage. Über die Ursachen des Konflikts in Syrien, die Interessen ausländischer Mächte und die Schwierigkeit, eine politische Lösung zu finden – Ein Gespräch in Damaskus

Von Karin Leukefeld *

Es ist ein ruhiger Freitag nachmittag irgendwo in Damaskus. Einige Freunde treffen sich, um über die Lage in Syrien zu diskutieren. Nach und nach füllt sich das kleine Zimmer, bald sind Stühle, Sofa und Bett besetzt. Das Rauchen wird bis auf weiteres eingestellt, Kaffeetassen stehen auf dem niedrigen Tisch in der Mitte. Das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, Fotos sind nicht erwünscht. Dann stellen die »Freunde Syriens« sich vor: Jihad, Student der Medien- und Informationstechnologie; Safwan, Soziologe, Historiker und Sozialberater; Julia, Umweltingenieurin; Somer, Mitarbeiter in einer Versicherung und Schauspieler; Selim, Architekt. Auch wenn sie in verschiedenen Teilen des Landes geboren wurden, leben heute alle in Damaskus. Sie sind zwischen 22 und 28 Jahre alt.

Die Diskussion dreht sich um die Ereignisse in Syrien, die Protestbewegung, ausländischen Einfluß und Interessen. Es geht um die neue Verfassung, die per Referendum Ende Februar angenommen wurde und auf deren Grundlage für Anfang Mai Parlamentswahlen vorgesehen sind. Neun neue Parteien haben sich gegründet, rund 15 Millionen Syrer werden zu den Wahlurnen gerufen. Gleichzeitig gehen die Kämpfe im Land weiter. Ein für den 12. April vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeordneter Waffenstillstand scheint zu scheitern. Die syrische Führung und die bewaffneten Aufständischen machen einander gegenseitig verantwortlich. Größtes Hindernis ist, daß letztere, unterstützt von den Golfstaaten, den USA, der EU und der Türkei, zu Verhandlungen mit der syrischen Regierung nicht bereit sind, wie der von Kofi Annan vermittelte Plan es vorsieht. Nur bei einer Garantie der Aufständischen, die Gewalt einzustellen, will das Militär sich zurückziehen. Darunter leidet wie immer die Bevölkerung. Tausende haben das Land verlassen, Hunderttausende sind innerhalb Syriens vertrieben. Kämpfe und internationale Sanktionen haben die Wirtschaftslage in dem ohnehin armen Entwicklungsland verschärft. Die friedliche Protestbewegung und die innersyrische Opposition sind in den Hintergrund gedrängt.

Unter enormem Druck

Ja, es herrsche Krieg im Land, sagt Jihad, aber es gebe auch einen Medienkrieg. Jede Konfliktpartei beeinflusse die Medien in ihrem Interesse. Der Westen und besonders die USA hätten großes Interesse an der Region, ergänzt Somer. Nach ihrem Scheitern in Afghanistan und Irak wollten sie nun mehr Einfluß in Syrien gewinnen, um die anderen Niederlagen auszugleichen. Vieles sei falsch gemacht worden in Syrien, doch die USA hätten davon profitiert. Er bezweifle, daß die Vereinigten Staaten wirklich den Syrern zu mehr Menschen- und Bürgerrechten verhelfen wollten: »Washington geht es nur um die eigenen Interessen«.

Jeder verfolge seine eigenen Interessen, wirft Safwan ein. Und jeder habe seinen eigenen Blickwinkel, von dem er diese bestimme, auch die Opposition. Die Medien konzentrierten sich lediglich auf die »Brennpunkte« und die Orte, wo gekämpft werde, sie berichteten aber nicht über Lösungsvorschläge. Syrien liege an einem wichtigen geopolitischen Punkt, und damit meine er nicht das Land, das seit dem Sykes-Picot-Abkommen (16. Mai 1916, Frankreich und Großbritan­nien teilen die osmanischen Provinzen Syrien und Irak/Mesopotamien unter sich auf) bestehe. Er spreche von der historischen Nation Syrien. Diese sei ökonomisch, wirtschaftlich und kulturell eine Drehscheibe mit seiner Lage zwischen dem Mittelmeer und Asien, zwischen Nord und Süd. Doch Syrien sei nicht nur wirtschaftlich für viele interessant, es sei zudem das »Zentrum eines moderaten Islam«, der Ort, wo Extreme miteinander rängen. Die russischen Interessen in Syrien wiederum brauchten eine Führung wie das »Assad-System«. Rußland wolle verhindern, daß vom Golf Ölpipelines direkt nach Europa durch Syrien gebaut werden. In der Region werde also ein Interessenskonflikt der Supermächte ausgetragen. Israel spiele dabei ein doppeltes Spiel, ergänzt Jihad, der Safwan zustimmt. Einerseits unterstütze Israel Assad, andererseits koordiniere es die Aktivitäten der Opposition.

Julia wendet ein, daß sich das Ganze doch sehr nach einer Verschwörung anhöre. Für die Proteste in Syrien gebe es ganz klare Gründe. Doch, ein Teil des Konflikts sei tatsächlich eine Verschwörung gegen die syrische Führung, meint Safwan. Natürlich habe das syrische Volk ganz klare Interessen. Tel Aviv habe immer einen Weg gesucht, Syrien zu übernehmen, fährt Jihad fort. Über Teile der Opposition und über die Medien habe Israel nun einen Weg gefunden und verfolge natürlich seine Ziele.

Julia ist nicht zufrieden mit der Einschätzung und kritisiert, daß Israel immer angeführt werde, wenn es um innersyrische Schwierigkeiten gehe. Ihrer Ansicht nach seien die Syrer einem großen ökonomischen Druck ausgesetzt gewesen, »ihr Lebensstandard war sehr niedrig«, fährt sie fort. Darum hätten die Proteste begonnen. Selim stimmt nachdenklich zu. Die Syrer hätten die letzten zehn Jahre unter enormem Druck gestanden. In der Tat gebe es seit Jahren eine ausländische Verschwörung gegen Syrien, doch »kann das auf keinen Fall legitimieren, was hier bei uns geschieht«. Julia nickt heftig und meint, als alles in Deraa anfing, habe das mit einer Verschwörung nichts zu tun gehabt. Alle stimmen zu, das sei unstrittig. »Natürlich haben wir hier in der Geschichte immer wieder Verschwörungen gehabt«, sagt Selim in seiner ruhigen Art. »Aber was hier bei uns geschieht, egal ob wir es Protest oder Revolution oder wie auch immer nennen, es begann aus guten und richtigen Gründen«. Andere Leute hätten das ausgenutzt und den Protesten ihre eigenen Interessen übergestülpt und sie damit schließlich verdrängt.

Leider sei das Volk durch die Ereignisse nun völlig gespalten, ebenso wie die Medien, fährt Selim fort. Als Beispiel nennt er den syrischen Fernsehsender Dunia TV und Al Dschasira, die jeweils das Gegenteil verbreiteten. »Keiner ist ganz ehrlich, oder besser gesagt, keiner berichtet wirklich neutral.«

Die Leute, die für Dunia TV oder für Al Dschasira arbeiten, vertreten die Interessen der jeweiligen Sender, fügt Somer hinzu. Genauso sei es mit dem Internet und Facebook. Alles, was dort verbreitet werde, gebe immer nur die Sicht einer Seite, vielleicht auch nur einer Person wieder, es seien keine neutralen Informationen. Dunia TV habe sich zwei Monate lang fast ausschließlich darauf konzentriert, jeden Bericht, der von Al Dschasira verbreitet worden ist, zu widerlegen. Wenn Al Dschasira zum Beispiel eine bestimmte Zahl von Toten in Homs meldete, brachte Dunia TV sofort »neueste Nachrichten« und wies die Behauptungen zurück. Das habe vor allem innenpolitische Gründe gehabt, sagt Jihad. Sehr viele Menschen sähen Al Dschasira und glaubten alles, was dort gezeigt wird.

Verfassungsbruch Marktöffnung

Julia wechselt das Thema und spricht über die Gründe, die ihrer Ansicht nach zu der »Revolution« geführt hätten, mit der sie offenkundig sympathisiert. Es seien vor allem innenpolitische Ursachen gewesen, die das Faß zum Überlaufen gebracht hätten. Die Beziehungen zwischen Syrien und der Türkei zum Beispiel, mit all den privilegierten politischen und wirtschaftlichen Abkommen. Einige der Vorstädte von Damaskus, wo es heute besonders scharfe Auseinandersetzungen gebe wie Sakba und Hamuriya, seien bekannt gewesen für ihre Möbelproduktion. Mit den neuen ökonomischen Beziehungen zur Türkei aber seien die syrischen Erzeugnisse durch türkische Möbelfirmen vom Markt verdrängt worden. Fabriken mußten schließen, Leute verloren ihre Arbeit. Das gleiche sei in der Textil- und in der Lebensmittelindustrie passiert. Außerdem habe Ankara die Unternehmen gefördert, die in Syrien produzierten, fügt Julia hinzu. Es habe eine staatlich subventionierte türkische Markt­eroberung in Syrien stattgefunden.

»Dank Abdullah Dardari«, meinen einige und nicken einander zu. Der frühere Wirtschaftsminister im Rang eines stellvertretenden Ministerpräsidenten genießt offensichtlich keine große Sympathie in dem Freundeskreis. »Dardari – das ›trojanische Pferd‹«, sagt Jihad. Leider werde der gleiche Fehler, den dieser damals mit der Marktöffnung begangen habe, in der neuen Verfassung wiederholt. Darin werde nicht festgelegt, welche Wirtschaftsform Syrien in Zukunft haben solle. In der alten Verfassung sei die Wirtschaftsform als »sozialistische Planwirtschaft« festgelegt gewesen, meint Selim. Dennoch seien Wirtschaft und Handel seit 2005 liberalisiert worden, »das nennt man doch Verfassungsbruch«.

Der Historiker Safwan möchte die Debatte um die syrische Wirtschaft vertiefen, die er für das Grundproblem hält. Dardari stamme aus Damaskus und gelte als moderater Muslim. Als Wirtschaftsexperte bei den Vereinten Nationen habe er auch gute Beziehungen zur Türkei gehabt. Er sei im Jahr 2000 nach Damaskus zurückgekehrt, ein Vertrauter des Präsidenten habe ihn eingeführt. Dardari habe Themen wie Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Frauenrechte in die politische Debatte eingeführt, was umgehend zu einem Konflikt mit den Sicherheitskräften geführt habe. Die neuen Themen wurden während des Damaszener Frühlings (2000/2001) diskutiert, was von den Geheimdiensten schließlich unterbunden wurde. Dardari habe auch die Idee der »Sozialen Marktwirtschaft« eingebracht, ähnlich wie Gorbatschow sie 1985 für Rußland formulierte. Die »soziale Marktwirtschaft« sei erstmals in (West-)Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eingeführt worden, erinnert Safwan. Deutschland sei ein kapitalistischer Staat, und das Modell habe innerhalb von nur drei Jahren zu einer wirtschaftlichen Wiederauferstehung geführt. Doch »Syrien ist ein sozialistischer Staat, und wenn man die soziale Marktwirtschaft in einem sozialistischen Land einführen will, führt das zu innenpolitischen Problemen«, argumentiert Safwan. Die nationale Führung der Baath-Partei habe das Wirtschaftsprojekt von Dardari übernommen, »weil sie ihm nichts entgegensetzen konnte. Die Folge war, daß die Kluft zwischen reich und arm größer wurde«. Als die Unruhen in Syrien begannen, sei Dardari mit der alten Regierung entlassen worden und habe sofort das Land verlassen, um seinen alten Posten bei den Vereinten Nationen wieder zu übernehmen. »Unter dem Strich fasse ich zusammen: Dieser Mann kam nach Syrien, zerstörte unsere Wirtschaft und verschwand dann wieder. Darum nennen wir ihn ›Das trojanische Pferd‹.«

Jihad wirft Dardari vor allem vor, daß er mit seinem Kurs den Staat dazu drängte, seine sozia­len Verpflichtungen gegenüber dem Volk aufzukündigen. Der Staat, besser das »Assad-System« sei zu einem Unternehmen geworden, habe seine Profite vergrößert und seine Verluste verringert. »Alles zu Lasten der Menschen«, ereifert sich Jihad. »Wichtige Subventionen wurden gestrichen, alles wurde teurer. Und ein sogenannter ›Sozialer Wohlfahrtsfonds‹ blieb völlig wirkungslos, nicht zuletzt, weil er schlecht geführt wurde.«

»Eine Lüge«

Dardari könne nicht allein für die Entwicklung verantwortlich gemacht werden, wirft Selim ein. Viele Faktoren hätten zur Zerstörung der syrischen Wirtschaft geführt. Schließlich seien die entsprechenden Entscheidungen von hochrangigen Politikern getroffen worden, die damit die Interessen einer bestimmten Schicht bedient hätten. Julia und andere stimmen zu. Einige Namen der früheren Regierung schwirren durch den Raum; verschiedene Gouverneure, auch der frühere Ministerpräsident trügen Verantwortung.

Fadil von nebenan steckt den Kopf durch die Tür und fragt vorsichtig, wer hungrig auf ein spätes traditionelles syrisches Frühstück sei, das wolle er jetzt besorgen. »Bohnen, Humus, frisches Brot, Oliven, Käse, Eier, Joghurt, Tomaten, Gurken und Süßigkeiten«, zählt er unter Gelächter wie ein Restaurantbesitzer auf, alle Arme fliegen in die Höhe. Schnell zählt er durch und verschwindet wieder. Die Diskussion geht weiter.

Jihad erinnert noch einmal daran, daß Syrien in den letzten 40 Jahren ein sozialistisches System gewesen sei. Viele Leute hätten finanziell und politisch davon profitiert, doch die Gesetzeslage habe verhindert, daß sie ihr Geld im Land investieren. Mit dem neuen Wirtschaftssystem konnten sie genau das auf einmal tun. »Das Geld, das sie dem Land gestohlen haben, wollten sie investieren«, fragt Ahmed ungläubig, der neu dazu gekommen ist. Ja, meint Jihad. Das habe diese Machtelite getan und die Wirtschaft damit noch mehr unter ihre Kontrolle gebracht.

Er sei kein Wirtschaftsexperte, wirft Somer vorsichtig ein. Er wolle aber »als Syrer« dennoch seine Meinung sagen. Richtig sei, daß die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander gegangen sei, dennoch habe sich auch eine Mittelschicht entwickelt. Der soziale Wohlfahrtsfonds, der eingeführt worden sei, um den Subventionsabbau abzufedern, sei so »entwürdigend« für die Menschen gewesen, die ihn beanspruchen mußten, daß Ali Ferzat, der bekannte syrische Karikaturist, ihn verspottet habe. Er sei gerade 22, sagt Somer und kenne zwar die Redewendung »Ein Mensch ist, was er aus eigener Kraft geschaffen hat«. Doch gebe es solche Menschen heute nicht mehr. Grundstückspreise seien aus politischen und wirtschaftlichen Gründen in den Himmel geschossen. In Aleppo, der wirtschaftlichen Hauptstadt Syriens, hätten die meisten Textilunternehmen schließen müssen. Und warum? Darüber habe kürzlich der UN-Botschafter Syriens, Baschar Al-Ja’afari, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesprochen. Syrien habe einige Wirtschaftszweige in der Umgebung von Damaskus und in Aleppo geopfert, um die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, das habe Ja’afari gesagt. »Es sieht also so aus, daß wir Kapitalisten und Großunternehmer in unserem sozialistischen System geduldet haben, und diese Leute tragen die Verantwortung für die Armut in Syrien.« Alle hätten es gesehen, doch die Leute hätten nicht die Freiheit gehabt, ihre Kritik zu äußern. Die ökonomische Schieflage sei Ursache für den Protest, ist Somer überzeugt. Er wisse nicht mehr, wer es gesagt habe, aber der syrische Sozialismus sei »eine Lüge« gewesen.

Julia bemängelt erneut, man solle sich mehr darauf konzentrieren, wie die Sicherheitsdienste das Land unter ihre Kontrolle gebracht hätten. »Die Korruption, Schmiergeldzahlungen und die Rechtsprechung sind der eigentliche Kern unseres Problems.« Irgendwie seien die Ereignisse auch Folge einer Art Infektion gewesen. »Alle haben im Fernsehen gesehen, was in Tunesien geschah und in Ägypten, und so dachten auch hier die Menschen, sie müßten etwas tun.«

Konsumenten und Schuldner

Später dreht sich die Diskussion um das Verhältnis zwischen Europa und Syrien. Europäische Länder hatten seit 2005 viel Geld und Personal in die Zusammenarbeit mit Damaskus gesteckt. Deutsche Experten waren aktiv im Finanzsektor, im Umweltbereich, bei der Stadtentwicklung und im Wassersektor. Waren diese Projekte sinnvoll oder unterstützten sie nur eine bestimmte Macht­elite im Land?

Safwan, der Soziologe und Historiker, meint, Syrien hätte eine stärkere Wirtschaft gebraucht, bevor es sich dem Einfluß von Globalisierung und ausländischen Investitionen öffnete. Die europäischen Projekte hätten vor allem den Dienstleistungssektor und die Institutionalisierung gefördert, also den staatlichen Sektor, sagt Selim. Für die Bevölkerung sei nicht viel Gutes dabei herausgekommen. Es habe sich nicht um Entwicklungsprojekte gehandelt, die die Europäer gebracht hätten, kritisiert Julia. Natürlich seien einige Arbeitsplätze entstanden, zum Beispiel im Tourismussektor, aber diese seien nicht von Dauer gewesen. Jihad weist darauf hin, daß durch die Öffnung des Landes und die wirtschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahren sich auch Mentalität und Denken der Bevölkerung verändert hätten. Früher hätten die Syrer das Geld, das sie nicht zum Leben brauchten, gespart. Nun seien sie zu Konsumenten geworden. Mit der Einführung privater Banken, die Kredite vergeben, hätten sich viele Leute für den Kauf eines Hauses, einer Wohnung, eines Autos oder anderer Dinge auf viele Jahre verschuldet. »Was geschieht mit ihnen, wenn sie nun ihre Arbeit verlieren und ihre Schulden nicht mehr abzahlen können?«

Um eine Lösung für die Krise zu finden, müsse man verstehen, was in Syrien geschieht, meint Safwan auf die Frage, wie eine Lösung gefunden werden könne. Jede Region im Land habe ihre eigene Besonderheit, dies spiegle sich auch in der Protestbewegung wider. In Deraa, wo alles begann, hätten die Leute einen bestimmten Grund gehabt, sich zu erheben. Das sei aber anders als das, was in Homs geschehe, in Lattakia oder in anderen Teilen des Landes. Nein, widerspricht Somer. Die Politik ist überall die gleiche und darum geht es, dagegen wird protestiert. Safwan meint, die Proteste seien dadurch vereint worden, daß der Staat überall die gleiche Reaktion gezeigt habe. Man habe von einer »ausländischen Verschwörung« gesprochen und überall die sogenannte Sicherheitslösung und Repres­sion angewandt, das habe die Leute miteinander verbunden. Deraa sei eine Gegend, wo Stämme, Sippen, Großfamilien lebten. Die Kurden im Norden protestierten aus anderen Gründen als die Leute von Deraa.

Politischer Dialog

Für sie alle habe sich das Leben in den letzten Monaten verändert, sagen die Freunde. Zwar hätten sie selber wie die meisten jungen Leute schon vor den Unruhen eine »Kultur des politischen Dialogs« gehabt, sagt Selim. Doch seit Beginn der Protestbewegung würden sich selbst diejenigen in politische Diskussionen einschalten, die sich früher herausgehalten hätten. Niemand könne sich dem heute mehr entziehen. Früher habe man sehr allgemein über die politischen Angelegenheiten des Landes reden können, meint Jihad. Doch alles, was den Präsidenten betraf, sei tabu gewesen oder habe nur unter sehr guten Freunden offen besprochen werden können. Für Julia ist wichtig, daß die Menschen die Mauer der Angst durchbrochen hätten. Sie habe es nie für möglich gehalten, eine Diskussion wie die heutige so offen führen zu können. Ja, fügt Jihad hinzu. »Seit einem Jahr reden die Menschen so offen wie nie, doch leider haben sich die Dinge nicht so entwickelt, wie ich gehofft hatte.« Die Kämpfe, die vielen Toten, die unnachgiebige Einmischung aus dem Ausland mache es den Syrern fast unmöglich, einen Dialog zu beginnen und eine politische Lösung zu finden.

Er habe sich früher nie getraut, über Politik zu diskutieren, gibt Somer zu. Wie alle Syrer habe auch er in »einer Kultur der Angst« gelebt. 2009 habe er sich aber einer Partei angeschlossen, und alle Leute in seinem Umfeld seien sehr überrascht darüber gewesen. Selim meint, er habe lange vor den Unruhen schon einer Partei beitreten wollen, habe aber erst jetzt eine gefunden, die seiner Meinung entspreche.

Er sei früher immer gegen die Armee gewesen, sagt Fadil, der endlich mit den Zutaten zu dem traditionellen syrischen Frühstück zurückgekommen ist und sie im Hof auf einem großen Tisch ausgebreitet hat. Offiziere seien korrupt gewesen, der Umgang mit den Soldaten nicht in Ordnung. Doch seit die Unruhen begonnen hätten, unterstütze er »voll und ganz die Armee«, und wenn er aufgefordert würde, sich einzureihen, würde er es sofort tun, »weil das Land in Gefahr ist«. Doch wenn die Gefahr für das Land beseitigt und die bewaffneten Gruppen vertrieben seien, würde er sich sofort wieder den Oppositionellen anschließen, um die vielen Probleme in Syrien Schritt für Schritt zu lösen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 12. April 2012


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