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Gefangene ermordet

Syrien: Aufständische prahlen auf Video mit Mißhandlung und Erschießung von Soldaten. Anschläge sollen neutrale Bevölkerung provozieren

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Bewaffnete Aufständische sollen in der nordsyrischen Provinz Idlib mindestens 28 Soldaten ermordet haben. Den bislang unbestätigten Berichten zufolge überfielen Kämpfer einen Kontrollpunkt des Militärs nahe dem Ort Sarakeb und töteten die Soldaten, nachdem diese sich ergeben hatten. Auf einem vermutlich mit einem Handy aufgenommenen und im Internet veröffentlichten Video ist zu sehen, wie die Angehörigen der Regierungstruppen sich ergaben und geschlagen wurden. Als die tödlichen Schüsse fielen, wendete die Kamera sich ab. Rupert Colville, Sprecher der UN-Kommissarin für Menschenrechte Navi Pillay, sagte der Nachrichtenagentur AFP, der Film zeige ein »Kriegsverbrechen« und könne als Beweis vor einem Tribunal dienen.

Die bewaffneten Aufständischen in Syrien und ihre internationalen Netzwerke werden von Saudi-Arabien, Katar, der Türkei, den USA und westeuropäischen Staaten finanziell, logistisch und mit Waffen unterstützt. Die bewaffneten Gruppen selber geben an, sich und das syrische Volk zu verteidigen und für den »Sturz des Regimes« zu kämpfen. Seit dem islamischen Opferfest in der vergangenen Woche haben die Aufständischen landesweit ihre Angriffe verstärkt. Armee und Luftwaffe reagierten darauf ihrerseits mit massiver Gewalt. Im Umland von Damaskus greifen bewaffnete Gruppen, die allgemein als »Freie Syrische Armee« bezeichnet werden, täglich Militärposten an. In der vergangenen Woche kamen zudem bei der Explosion von Autobomben in verschiedenen Stadtvierteln von Damaskus viele Menschen ums Leben. Die syrische Luftwaffe fliegt täglich Angriffe auf die Stellungen der Aufständischen, die sich vor allem in Wohnvierteln der Satellitenstädte Harasta und Douma sowie in den Außenbezirken von Jobar und Zamalka verschanzt halten. Die umkämpften Gebiete sind kaum zugänglich, das Ausmaß der Zerstörungen ist groß. Auch in Aleppo und Maaret Al-Numan halten die Kämpfe an.

Offenbar wollen islamistische Gruppen und Aufständische Bevölkerungsgruppen, die versuchen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, durch solche Angriffe provozieren. In der nordsyrischen Stadt Afrin wurden am Donnerstag 14 Einwohner von Aufständischen entführt, die aus dem nahe der türkischen Grenze gelegenen Ort Azaz operieren. Afrin und die umliegenden Dörfer sind von Kurden bewohnt, die für eine friedliche Veränderung in Syrien eintreten. Die von Ankara unterstützten Islamisten versuchen deshalb gezielt, die Milizen der kurdischen Partei der demokratischen Einheit (PYD) in Kämpfe zu verwickeln.

Aufständische nutzten in den letzten Tagen auch die entmilitarisierte Pufferzone auf dem Golan, um in den drei Dörfern Beerajam, Bariqa und Qahtaniye Stellungen zu errichten. Das berichteten Einwohner der Orte am Freitag. Die drei Dörfer liegen in einem Gebiet, das von der UNO 1974 als Waffenstillstandslinie »Bravo« zwischen Israel und Syrien festgelegt worden war. Es wird von UNDOF, der UN-Friedenstruppe für den Golan, kontrolliert. Syrien hat lediglich Polizeikräfte vor Ort. Die Dörfer waren in den 70er Jahren für Vertriebene vom Golan neu aufgebaut worden. Heute leben dort vorwiegend ältere Menschen und Inlandsvertriebene.

* Aus: junge Welt, Samstag, 03. November 2012


Haltet den Dieb

Massaker in Syrien

Von Karin Leukefeld **


Vieles ist möglich in Syrien. Niemand weiß, was wirklich geschieht. Die Tatorte sind für Beobachter nicht zugänglich, doch die Härte der Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Gruppen und der syrischen Streitkräfte nimmt täglich zu.

Am Freitag tauchten die wackeligen Bilder von der Festnahme und Demütigung syrischer Soldaten auf Youtube auf. Als Gewehrsalven losbrechen, wendet die Kamera sich ab, anschließend sind Leichen und sich windende Menschen auf dem Boden zu sehen. In Syrien lösten die Aufnahmen Betroffenheit und Zorn aus. Aber auch Fragen. Wer sind die Täter, wer die Opfer? Wo genau geschah das Massaker, wann und warum? Wer ist der Mann, der die Täter begleitete, filmte und die Bilder ins Internet stellte? Wie kann es sein, daß die »Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte« in London sofort die Täter benennt? Es sei die Al-Nusra-Front gewesen, eine islamistische Terrorbrigade, berichtet die Beobachtungsstelle, die dem Syrischen Nationalrat (SNR) nahesteht. Die Nusra-Front äußerte sich nicht, auch von offizieller syrischer Stelle gab es zunächst keine Stellungnahme zu dem Geschehen. Ungewöhnlich rasch reagierte dagegen der Vertreter der UN-Kommissarin für Menschenrechte in Genf und sprach von einem »Kriegsverbrechen«.

Das Massaker und Meldungen über die mutmaßlichen Täter bestätigen, was schon seit Sommer 2011 geschieht. Islamistische Kämpfer griffen damals in Dschisr Al-Schughur eine Kaserne an, belagerten und stürmten das Gebäude und ermordeten die jungen Soldaten, die meisten waren Rekruten. Nach dem gleichen Muster hat es unzählige Überfälle gegeben, warum also wird plötzlich so ein Massaker bekannt?

Vielleicht sollte man die Meldungen sehen, die wegen des Massakers nicht in die westliche Öffentlichkeit durchdringen: Aufständische verhindern Hilfstransporte in die Altstadt von Homs, zünden Sprengsätze in einem Park in Damaskus, setzen eine Schule in Daraa in Brand.

Womöglich hat es aber auch damit zu tun, daß die USA und ihre Verbündeten im Kampf gegen das syrische Regime – inklusive ihrer Medienfront – erkannt haben, daß die wachsenden und stärker werdenden Islamistengruppen in Syrien westliche Interessen gefährden? Daß die zersplitterten bewaffneten Gruppen in Syrien nicht nur den syrischen Streitkräften, sondern auch den skrupellosen, in Kämpfen von Afghanistan über Irak bis Libyen gestählten Söldnern hoffnungslos unterlegen sind? Die Nachrichtenagenturen stellen einen Zusammenhang zu einer Konferenz des Syrischen Nationalrates (SNR) her, die am Sonntag in Doha (Katar) beginnt und dem Rat neue Strukturen und einen neuen Vorsitzenden bescheren soll.

»Haltet den Dieb«, ruft Hillary Clinton und fordert von den syrischen Aufständischen, sich von islamistischen Söldnern zu distanzieren. Die allerdings haben mit der Einwilligung Washingtons, von Saudi-Arabien und Katar finanziert, aus Libyen, der Türkei, Libanon und Jordanien den schmutzigen Krieg nach Syrien gebracht.

** Aus: junge Welt, Samstag, 03. November 2012 (Kommentar)

Karin Leukefeld

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Was habt ihr dem arabischen Frühling in Libyen und Syrien angetan!?
Hier geht es zum Programm des Kongresses




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