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Westlicher Journalismus und die Unruhen in Syrien

MEDIENgedanken von Karin Leukefeld *

»Wir folgten syrischen Zivilisten, die uns Opfer des Terrors (...) zeigen wollten. Plötzlich traf eine Granate ein Gebäude, wir sahen Rauch aufsteigen. Die meisten von uns und auch die Syrer rannten in ein Wohnhaus. (…) Ich rannte dann wieder hinunter und da lag die Leiche von Gilles.« Der namentlich nicht genannte Augenzeuge, der in der britischen BBC berichtet, ist einer von zwölf arabischen und ausländischen Journalisten, die am vergangenen Mittwoch aus Homs berichten wollten. Die Fahrt war vom Informationsministerium in Damaskus genehmigt, ausgerüstet mit Fotoapparaten und Kameras war die Gruppe deutlich als Presse zu erkennen. Neun Menschen wurden bei dem Angriff getötet, der 43-jährige Gilles Jacquier war erfahrener Reporter des französischen Fernsehsenders »France 2«.

Gilles Jacquier ist nicht der erste getötete Journalist in Syrien. Am 30. Dezember hatte Shoukri Ahmed Ratib Abu Bourghoul gerade seine wöchentliche Rundfunksendung bei Radio Damaskus beendet, als ihm Unbekannte vor seiner Wohnung in Darya, einem Vorort der syrischen Hauptstadt, ins Gesicht schossen. Der 55-jährige Journalist hatte seit 1980 für die staatliche Tageszeitung »Al-Thawra« gearbeitet, er starb drei Tage nach dem Anschlag. »Reporter ohne Grenzen« berichten von dem Fotografen und Kameramann Ferzat Jarbin, der in Homs am 20. November erschossen wurde und von dem »Bürgerjournalisten« Basil Al-Sayed, der, ebenfalls in Homs, am 29. Dezember starb.

Die Vertretung der Europäischen Union in Damaskus verbreitete am Mittwochmorgen - Gilles Jacquier und die anderen Journalisten befanden sich gerade auf dem Weg nach Homs - eine scharfe Erklärung gegen die syrischen Behörden. Diese würde die Meinungsfreiheit behindern, der freie Zugang zum Internet und zu sozialen Medien müsse gewährleistet sein. »Töten, Verhaften und die Einschüchterung von Journalisten, Bloggern, Online-Aktivsten und anderen Menschenrechtsverteidigern« wurde »scharf verurteilt«. Gelobt wurden die »vielen mutigen Bürgerjournalisten, Blogger und Online-Aktivisten in Syrien«, weil sie »täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, um der Welt draußen wahrhaftig über die Lage in Syrien zu berichten.« Gilles Jacquier war kein Blogger oder Online-Aktivist, doch als professioneller Journalist war er genau mit dieser Absicht nach Homs gefahren.

Einschüchterung und Gewalt in Syrien trifft keineswegs nur Regierungsgegner. Und sie geht nicht nur von den syrischen Behörden aus. Ein Geschäftsinhaber wird getötet, weil er sich den Aufständen nicht anschließt, Studenten werden in einer Prüfung von einem Mitprüfling erschossen, weil sie einem anderen Glauben angehören, ein Mann wird auf offener Straße gelyncht, weil er verdächtigt wird, für den syrischen Geheimdienst zu arbeiten. Wassertanks, Fahrzeuge und Stromleitungen werden zerstört, weil deren Besitzer oder Nutznießer sich in ihrer Wohnung einschließen, anstatt gegen das Regime zu protestieren. Warum schaffen diese Angriffe es nie in die Schlagzeilen der großen westlichen Leitmedien?

Informationen syrischer Medien oder dort arbeitender Journalisten gelten als »nicht unabhängig« und werden wie eine Gefahr behandelt. Neben anderen syrischen Medien (»Dunia TV«, »Cham Press«) wurde Anfang Dezember »Al Watan« von der EU auf die Sanktionsliste gesetzt. Diese erste und bisher einzige private syrische Tageszeitung wurde 2006 gegründet und von diplomatischen Vertretungen empfohlen. Mit 52 Journalisten ist »Al Watan« eine der Großen unter den syrischen Zeitungen. Sie spiele eine Rolle in der Niederschlagung der Protestbewegung, begründet die EU ihren Angriff auf die Pressefreiheit. In Syrien meint so mancher, Europa wolle sich »das Monopol auf die Berichterstattung über Syrien« sichern.

In westlichen Redaktionsstuben greift man lieber zu wackeligen Handyaufnahmen, Twitter, Facebook und Blogs, ohne prüfen zu können, ob die Absender sind, wer sie vorgeben zu sein. Man spart das Geld für Vorortrecherche und schmückt sich mit »Bürgerjournalisten«, die sich für eine »Top-Story« oft in Gefahr begeben. Oder - auch das gab es schon - in einer sicheren Wohnstube weit von Syrien entfernt ein Blog produzieren. Wie der amerikanische Student Tom MacMaster, der die amerikanisch-syrische Bloggerin »Amina Arraf« erfand. Im Blog »Ein lesbisches Mädchen in Damaskus« berichtete er/sie über die »syrische Revolution« und wurde angeblich Anfang Juni 2011 von syrischen Sicherheitskräften entführt. Sogar der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, forderte ihre Freilassung, der Schwindel flog auf.

Vor so einem vagen Hintergrund werden die Ereignisse in Syrien von Journalisten »eingeordnet« und von »Experten« erklärt. Ein kürzlich veröffentlichter Aufruf, »Kriegsvorbereitungen stoppen« wird zum »antiamerikanischen Aufruf« für die »Solidarität mit Schlächtern« (»Süddeutsche Zeitung«). Aus der Rede des syrischen Präsidenten wird ein »Aufruf zur Gewalt« (»Berliner Morgenpost«). Wer des Englischen mächtig ist, Geduld, Zeit und Interesse hat, kann den Wortlaut der Assad-Rede zwar nicht auf Twitter, wohl aber auf der Internetseite der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA nachlesen. Für professionelle Medien müsste so viel Zeit immer sein.

* Die Autorin ist freie Journalistin und berichtet für »nd« aus Syrien.

Aus: neues deutschland, 14. Januar 2012



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