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Hoffnung auf Frieden für Syrien? Die Selbstblockade der internationalen Gemeinschaft

Ein Beitrag von Reinhard Mutz in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien"


Andreas Flocken (Moderation)
Bei den Auseinandersetzungen in Syrien sind bisher schätzungsweise 9.000 Menschen getötet worden. Und es sieht so aus, als würde der Konflikt weiter eskalieren. Denn die Aufständischen bekommen nun immer mehr finanzielle und materielle Unterstützung, beispielsweise durch die wohlhabenden Golf-Staaten.

Trotzdem gibt es Hoffnung. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan versucht, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. In der vergangenen Woche hat Damaskus einem Waffenstillstand zugestimmt. Inkrafttreten soll er am kommenden Dienstag. Dann sollen sich die syrischen Truppen aus den umkämpften Gebieten zurückziehen. Doch Versprechungen hat es in dem Konflikt bisher schon viele gegeben. Kein Wunder, dass selbst der UN-Sonderbeauftragte Kofi Annan skeptisch ist.

In der Syrienkrise hat die internationale Diplomatie bisher versagt. Dass die Staatengemeinschaft hier nicht handlungsfähig ist, das hat auch etwas mit dem Libyenkrieg zu tun. Zu den Hintergründen – Reinhard Mutz:


Manuskript Dr. Reinhard Mutz

Noch lässt sich nicht absehen, welche Richtung das syrische Drama nimmt. In den umkämpften Städten wird weiter getötet und gestorben, die Zahl der Opfer steigt von Tag zu Tag. Weder die Machthaber in Damaskus noch die verschiedenen oppositionellen Bewegungen geben ihre Sache schon verloren. Nicht mehr und nicht weniger steht auf dem Spiel als die Herrschaft im Land. Die Warnung vor einem Bürgerkrieg zielt ins Leere – der ist längst entbrannt.

Dass auch im zweiten Jahr der Auseinandersetzungen der Gewaltpegel nicht abgenommen hat, liegt nur zum Teil an den gegensätzlichen Bestrebungen der politischen Kontrahenten vor Ort. Mitverantwortlich ist der fahrlässige Umgang der internationalen Gemeinschaft mit dem Syrienkonflikt. Ein innerlich zerrissener Irak, das historische Ringen zwischen Palästinensern und Israelis, die Dauerlunte am iranischen Atomstreit – der zusätzliche Brandherd Syrien erhöht die Labilität der gesamten Nahost-Region. Die gemeinsame Anstrengung aller Staaten von Einfluss und Gewicht, den Konflikt zu entschärfen oder besser noch beizulegen, wäre die angemessene Reaktion gewesen. Aber davon kann keine Rede sein. Viermal schon ist der Versuch fehlgeschlagen, eine Syrien-Resolution durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bringen.

Die erste Initiative hatte im Herbst 2011 Portugal ergriffen. Wochenlange Verhandlungen waren vorausgegangen. Die Vorlage im UN-Sicherheitsrat verurteilt die „anhaltenden gravierenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen seitens der syrischen Behörden“ und fordert „ein sofortiges Ende der Gewalt“. Auf russisches Drängen und gegen amerikanischen Widerstand war die Androhung von Sanktionen gestrichen worden. An deren Stelle trat die Ankündigung „gezielter Maßnahmen“, sollte dem Verlangen nach Gewaltverzicht nicht binnen dreißig Tagen nachgekommen werden. Russland und China nahmen die weit auslegbare Formulierung zum Anlass, bei der Abstimmung im Oktober von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen.

Anfang des Jahres dann ein weiterer Anlauf. Die westlichen Mitglieder des Sicherheitsrats einigten sich mit den Meinungsführern der Arabischen Liga auf einen gemeinsamen Vorstoß. Der am 4. Februar von Marokko zur Abstimmung gestellte Entwurf enthält wesentliche Zugeständnisse an die Vertreter Russlands und Chinas. So verurteilt der Text nicht mehr nur die Rechtsverstöße der syrischen Regierung. Wörtlich heißt es in dem Entwurf:

Zitat
„Verurteilt wird alle Gewalt, unabhängig von wem sie ausgeht. Alle Parteien in Syrien, einschließlich der bewaffneten Gruppen, werden aufgefordert, die Gewalt und Vergeltungsmaßnahmen zu stoppen, einschließlich Angriffe gegen staatliche Einrichtungen.“

Auch wird betont, die Resolution biete keine Handhabe für Maßnahmen nach Artikel 42 der UN-Charta, d.h. für ein militärisches Eingreifen. Was Moskau und Peking erneut zur Ablehnung bewog, war die Erklärung uneingeschränkter Unterstützung für einen kurz zuvor von der Arabischen Liga verabschiedeten Friedensplan. Darin heißt es lapidar:

Zitat
„Der Präsident Syriens überträgt die Amtsvollmachten auf seinen Vizepräsidenten.“

„Und was soll geschehen“, fragte Russlands Außenminister Lawrow, „wenn Assad nicht zurücktritt“?

Der bislang jüngste Entschließungsantrag, Anfang März von den USA vorgelegt, rückt die sich rapide verschlechternde humanitäre Lage in den Mittelpunkt. Er appelliert an die syrischen Behörden, die benötigten Versorgungslieferungen zu gewährleisten. Bei der Forderung nach Gewalteinstellung wird wiederum mit zweierlei Maß gemessen. An die syrische Regierung richten sich weitere Auflagen. Sie reichen vom Rückzug der Sicherheitskräfte in die Kasernen bis zur Freilassung aller inhaftierten „Aktivisten“. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sollen auch die Aufständischen von Gewalthandlungen absehen.

Nahezu unbeachtet von der öffentlichen Berichterstattung zirkulierte in New York bereits während der zweiten Dezemberhälfte 2011 auch ein russischer Entwurf für eine Syrien-Resolution. Der westlichen Sichtweise entgegenkommend rügt er den unverhältnismäßigen Gewalteinsatz der syrischen Sicherheitsorgane und fordert sie auf, die Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung zu beenden. Im Übrigen beschränkt er sich auf grundsätzliche Vorschläge wie die Einleitung eines Reformprozesses, der die legitimen Bestrebungen des syrischen Volkes verwirklicht. Mit Zwangsmaßnahmen wird nicht gedroht. Mangels ausreichender Unterstützung im Sicherheitsrat verzichtete die russische Vertretung auf die förmliche Einbringung.

Vier Anläufe, kein Ergebnis. Die gescheiterten UN-Resolutionen veranschaulichen die Frontlinien der internationalen Syrienpolitik. Für den Westen und das Gros der arabischen Welt besteht kein Zweifel, dass Präsident Assad und sein Herrschaftsapparat die alleinige Verantwortung für die Ereignisse in Syrien tragen. Die Formel vom „Krieg gegen das eigene Volk“ pointiert diesen Standpunkt. Dem halten russische und chinesische Politiker das veränderte Konfliktbild entgegen. Brachiale Übergriffe auf wehrlose Demonstranten waren die typische Gewaltform in der Anfangsphase der Unruhen. Inzwischen hat auch die Opposition aufgerüstet und macht von ihren Waffen Gebrauch. Die „Freie Syrische Armee“ existiert seit Juli 2011. Ihre aktuelle Stärke wird auf 40.000 Kämpfer geschätzt. Und sie ist nicht die einzige Organisation, der es gelingt, ganze Stadtviertel unter ihre Kontrolle zu bringen.

Obgleich selten beim Namen genannt, durchzieht die internationale Syrien-Debatte das Menetekel der Libyen-Intervention vom vergangenen Jahr. Der Schutz der Zivilbevölkerung war das ursprüngliche Ziel gewesen. Die NATO-Staaten erweiterten eigenmächtig das Mandat. Kaum begonnen, erhielten die Luftangriffe einen Zusatzauftrag: die Entmachtung Gaddafis. Mit ihrer Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat hatten Russland und China das gewaltsame Vorgehen legalisiert. Um keinen Preis wollen sie ein zweites Mal in dieselbe Falle tappen.

Die Vermittlungsmission des UN-Sondergesandten Kofi Annan folgt einem stimmigen Konzept. Es beginnt mit einer international überwachten Waffenruhe und mündet in einen demokratischen Reformprozess. Die Herkulesarbeit wird darin bestehen, die disparaten Konfliktparteien einzubinden. Aus dem türkischen Exil pocht der oppositionelle Nationalrat auf seine Anerkennung als einzig legitime Vertretung des syrischen Volkes. In ihm dominieren die Muslimbrüder. Viele Gruppen fühlen sich nicht repräsentiert – Kurden, Kopten, orthodoxe und katholische Christen, säkulare Kräfte, städtisches Bürgertum.

Wie die politische Umgestaltung des Landes auf mittlere Sicht aussehen könnte, haben die arabischen Staaten in ihrem Friedensplan mustergültig umschrieben. Der Vorschlag lautet:

Zitat
„Ein demokratisches Mehrparteiensystem, in dem alle Bürger gleich sind, ungeachtet ihrer Herkunft sowie ihrer religiösen und konfessionellen Identität, und in dem Macht auf friedlichem Weg übertragen wird.“

Ironischerweise geben in der Arabischen Liga die Mitglieder des Golf-Kooperationsrats den Ton an, ein Club lupenreiner Autokraten. Die Modelldemokratie verordnen sie den Syrern, nicht aber, versteht sich, den eigenen Bürgern.

Für eine Konfliktlösung, die statt auf Waffenmacht auf Diplomatie und Dialog setzt, bietet die Annan-Mission die vielleicht letzte Chance. Dazu müssten alle Beteiligten Abstriche an ihren Maximalzielen hinnehmen – die Potentaten in Damaskus an ihrem Anspruch, allein zu entscheiden, welche Reformen das Land braucht, die Aufständischen an der Weigerung, mit Regierungsvertretern zu verhandeln, und die westlichen Hauptstädte am Beharren auf einem von außen aufgenötigten Regimewechsel. Sind sie dazu bereit? Wer öffentlich Wetten anbietet, wie unlängst US-Außenministerin Hillary Clinton auf den Sturz Assads, wird alles daran setzen, nicht widerlegt zu werden. Um ein baldiges Ende des Blutvergießens wäre es dann schlecht bestellt.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 7. April 2012


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