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In großer Sorge

Rupert Neudeck über seine Erfahrungen in Syrien und die Gefahr eines Krieges nach dem Krieg *


Wochenlang haderte Rupert Neudeck mit sich, der Verzweiflung nahe. Drei Mitarbeiter des von ihm 2003 ins Leben gerufenen Friedenskorps Grünhelme wurden in Syrien entführt. In seinem neuen Buch »Es gibt ein Leben nach Assad. Syrisches Tagebuch« (C.H. Beck, 192 S., br, 14,95 €) berichtet er über seine Seelenpein, aber auch über Dankbarkeit des syrischen Volkes für empfangene Hilfe. Mit dem Journalisten, der während des Vietnamkrieges mit Heinrich Böll das Hilfskomitee Cap Anamur gegründet hatte, sprach Karlen Vesper.


Herr Neudeck, jetzt ist auch der dritte, in Syrien entführte Grünhelm-Mitarbeiter frei?

Ja, Ziad Nouri ist seit dem 3. September in Freiheit. Er konnte, wie zuvor die beiden anderen, fliehen. Bernd Blechschmidt und Simon Sauer gelang die Flucht am 3. Juli. Nach 50 Tagen Geiselhaft. Ziad Nouri befand sich gar 111 Tage in der Hand der Entführer.

Sie vermuten, dass die Entführung in Deutschland geplant und auch von deutschen Dschihadisten ausgeführt worden ist. Welche Indizien deuten darauf hin?

Einen Tag vor der Entführung wurde Bernd Blechschmidt in der Apotheke des Krankenhauses in Azaz, um das wir uns kümmerten, von einem Deutsch sprechenden Dschihadisten bedrängt und gezwungen, seinen Pass zu zeigen. Diese Szene ist auf einem Video festgehalten, das von einem in Deutschland – beim Amtsgericht in Neuss – eingetragenen, angeblich gemeinnützigen Verein »Helfen-in-Not« veröffentlicht wurde. Der Kommentar im Video hetzt gegen »Ungläubige« und »ungläubige Organisationen«, die in Syrien aktiv seien. Vieles deutet daraufhin, dass dieser Verein in der Region um Azaz operiert und mit den Entführern in Verbindung steht. Es ist ein Skandal, wenn einer solchen Organisation, die kriminelle Taten begeht und uns zwang, die humanitäre Hilfe vor Ort abzubrechen, von deutschen Behörden nicht das Handwerk gelegt wird.

Sie sind voller Enthusiasmus im September 2012 nach Syrien aufgebrochen, haben in einem von der Freien Syrischen Armee kontrollierten Gebiet gearbeitet. Nach knapp einem halben Jahr jedoch mehrten sich unangenehme Erfahrungen mit dort ebenfalls stark präsenten Dschihadisten, die Sie in Ihrem »Syrischen Tagebuch« als »Verbrecher und Kriminelle« bezeichnen. Müssen Sie Ihr Urteil über den »syrischen Revolutionstraum«, den Sie humanitär begleiten wollten, revidieren?

Nein. Als wir in Syrien eintrafen, wurden wir von freundlichen, fröhlichen Menschen begrüßt. Es herrschte Befreiungseuphorie. Seit Beginn dieses Jahres hat die Rebellion jedoch unter dem Einfluss von ausländischen Fanatikern, die von Saudi-Arabien bezahlt werden und aus Tunesien, Pakistan, Tschetschenien, Bosnien und vermehrt auch aus Deutschland kamen, großen Schaden genommen. Die Rebellen müssen nun einen Zwei-Fronten-Krieg führen – gegen das Assad-Regime und gegen die ausländischen Fanatiker.

Sie schreiben von einem Bürgerkrieg im Bürgerkrieg. Also ein unklarer Kampf aller gegen alle?

Nein, man kann die konträren Kräfte schon genau bestimmen. Während unserer wochenlangen Bemühungen, unsere Entführten freizubekommen, hatten wir verschiedene Kontakte. Angehörige der Freien Syrischen Armee sagten uns, dass sie natürlich die drei rauskämpfen könnten, sich aber die militärische Konfrontation mit den Fanatikern nicht leisten könnten. Die Situation in Syrien ist sehr ernst, sehr kompliziert. Deutschland trägt daran eine Mitschuld – durch die Waffenexporte nach Saudi-Arabien.

Und offenbar auch durch die Lieferung von Stoffen zur Herstellung chemischer Waffen an Syrien. – Sie haben den Rückzug der Grünhelme aus dem Land kurz vor der Entführung erwogen. Ist es nicht generell zu gefährlich, als Hilfsorganisation in ein Kriegsgebiet zu gehen?

Ich bin – viele andere und selbst unsere drei Entführten – der Überzeugung, dass wir das syrische Volk nicht für unsere bittere Erfahrung bestrafen können. Wo humanitäre Hilfe dringend notwendig und machbar ist, sollte sie geleistet werden. In einem Appell, den eine britisch-syrische Ärztin initiiert hat und der von international renommierten Ärzten unterzeichnet worden ist, darunter Nobelpreisträger, wird vom totalen Niedergang der medizinischen Versorgung in vielen Landesteilen berichtet.

37 Prozent der Hospitäler sind total zerstört, 15 000 syrische Ärzte haben das Land verlassen.

Und deshalb muss weiter Hilfe geleistet werden. So haben wir es auch in Afghanistan gehalten, als wir dort vor ein paar Jahren Opfer eines Überfalls geworden sind. Wir haben zwar unsere deutschen Mitarbeiter abgezogen, und wir werden auch jetzt erst einmal keinen deutschen Helfer nach Syrien schicken. Aber wir versuchen weiterhin Babynahrung, Medikamente und medizinische Geräte etc. für die notleidende Bevölkerung zu liefern.

Ist es nicht frustrierend, wenn gerade etwas aufgebaut ist, das kurz darauf wieder zerstört wird? Eine Sisyphusarbeit?

Deshalb beklage ich auch, dass bei uns, gerade jetzt im Wahlkampf, deutsche Waffenexporte in alle Welt und leider auch gerade in Krisenregionen nicht diskutiert werden, zumindest bis dato. Kriege würde es nicht geben, wenn nicht Waffen produziert und geliefert werden. Waffenproduktion und Waffenexporte zu beschränken oder besser ganz zu unterbinden, ist aus meiner Sicht die Hauptverantwortung Europas und anderer reicher Länder. Wenn wir nicht bereit sind, nicht nur von Abrüstung zu reden, sondern sie auch zu praktizieren, müssen wir uns nicht über Kriege wundern.

Wie kann der Krieg in Syrien beendet werden?

Ich bin – Gott sei Dank oder leider – kein Politiker. Ich hoffe zunächst darauf, dass diese furchtbaren chemischen Massenvernichtungswaffen in Syrien tatsächlich vernichtet werden und möglicherweise dann auch weltweit. Dass diese von allen Staaten geächtet werden und bleiben. Das ist schon mal ein sehr guter erster Schritt. Ich hoffe, dass die beiden Supermächte, die USA und Russland, die sich jetzt endlich mal wieder an einen Tisch gesetzt haben, weiterhin zusammenarbeiten und nicht gegeneinander. Und ich hoffe, dass wir den Krieg nach dem Krieg in Syrien vermeiden können, es zu einer vernünftigen und von beiden Seiten akzeptablen Lösung des Konflikts kommt. Der syrische Konflikt ist nicht durch Waffengewalt zu lösen, sondern nur durch einen Kompromiss.

Was meinen Sie mit »Krieg nach dem Krieg«?

Wenn die Großmächte doch noch militärisch eingreifen sollten, würde sich der Krieg ausweiten, auf die gesamte Region übergreifen. Das erfüllt mich mit großer Sorge. Denn schon jetzt hat der Krieg in Syrien eine Dimension erreicht, die an die letzte große Katastrophe, den Genozid in Ruanda, erinnert. Es sind bereits über 100 000 Tote gezählt. Knapp sechs Millionen Syrier sind auf der Flucht. Dieser Krieg muss besser heute als morgen beendet werden.

Es sieht aber nicht danach aus.

Das liegt unter anderem daran, dass im Nahen Osten zwei große politische Fragen unbeantwortet, ungelöst geblieben sind: Seit 60 Jahren sollte es einen Staat Palästina geben; um die endliche Einlösung dieses Versprechens an die Palästinenser sollten sich die europäischen Mächte bemühen. Zweitens ist ein wichtiges, großes Land der Region, Iran, de facto aus der Weltgesellschaft ausgeschlossen, vom Westen ausgegrenzt. Das ist ein Unding. Teheran muss bei allen, die Region betreffenden strittigen Fragen hinzugezogen werden. Iran ist ein nicht zu ignorierender Akteur.

Hätte die syrische Tragödie verhindert werden können?

Das frage ich mich auch immer wieder. Gab es Alternativen? Ist wirklich alles versucht worden, um Russland und Iran, Saudi-Arabien und Katar vor einem Eingreifen in den Konflikt abzuhalten? Meines Erachtens hat der Westen die alten Regeln der Realpolitik aus dem Blick verloren, vor allem das Prinzip »do ut des«: Ich gebe, damit du gibst. Wenn der Westen geostrategische Interessen seiner Kontrahenten nicht anerkannt, werden diese nicht zu Verhandlungen bereit sein. Vielleicht hätten Moskau und Teheran ihren Rückhalt für Assad aufgegeben, wenn ihnen eine Garantie für Militärstützpunkte in Syrien oder ein Entgegenkommen im Atomstreit angeboten worden wäre.

Sie beklagen vor allem das Los der syrischen Kindern...

Ich bin Jahrgang 1939 und habe als Kind Krieg, Flucht und Vertreibung erlebt. Ich weiß, was es bedeutet, wenn Familienbande zerrissen werden, die Eltern die Kinder nicht beschützen können. Krieg führt zu Verrohung und Barbarisierung. Ich habe gesehen, wie syrische Kinder eine kleine Katze zu Tode steinigten. Ein für mich schockierendes Erlebnis. Wir sind sofort dazwischen gegangen. Zu spät. Die Kinder wachsen unter verstörten Erwachsenen auf, sehen deren Ohnmacht und Verzweiflung. Das kann schlimmste langfristige Folgen haben. Es wächst eine Generation heran, die nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden kann und zu Taten in der Lage sein könnte, die wir uns nicht vorstellen können und nicht vorstellen wollen.

Ergo ist jetzt was geboten?

Es sollte schleunigst ein Waffenstillstand geschlossen werden, damit Wahlen stattfinden können. Dann werden wir sehen, wer die Herzen der Syrer gewinnt.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 20. September 2013


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