Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rebellen unter Druck

Syrien: Regierungstruppen setzen Offensive gegen Aufständische fort. Schwere Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsgegnern

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die syrischen Streitkräfte gehen weiterhin hart gegen die bewaffneten Aufständischen vor. Die Kämpfe konzentrieren sich seit Tagen auf das Umland von Damaskus und Homs, gekämpft wurde auch an der jordanischen Grenze, bei Hama und in Aleppo. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten ist unbekannt. Am Freitag starben in Damaskus erneut Menschen durch Mörsergranaten, die die bewaffneten Gruppen abgefeuert hatten.

Im Umland der Hauptstadt wurden die Kämpfer nach Armeeangaben in den letzten Tagen immer mehr in den Vororten Harasta, Kabun, Jobar und Barzeh zusammengedrängt. Aus Dareya haben die Aufständischen sich abgesetzt – u.a. in den benachbarten Vorort Maadamiya, der einer Blockade seitens der Armee unterliegt. Industriegebiete von Kabun seien zu großen Teilen wieder unter Kontrolle, hieß es in einer Stellungnahme der Streitkräfte. Zu den »befreiten« Einrichtungen gehören eine Großbäckerei, eine Seifenfabrik sowie der zentrale Pullman-Busbahnhof von Damaskus, von dem früher die Überlandbusse Richtungen Norden abfuhren. Aufnahmen des staatlichen Fernsehens zeigten die weitgehend zerstörte Station sowie verbrannte Fahrzeuge.

Die Pressestelle der oppositionellen Nationalen Koalition in Istanbul erklärte, die Streitkräfte würden in Qaboun und Barzeh 40000 Zivilisten belagern und warnte vor einer Offensive von Militär- und Sicherheitskräften. Die internationale Gemeinschaft sei verantwortlich, »die Verbrechen von Assad gegen die Menschlichkeit (…) und den Einsatz international verbotener Waffen« zu beenden. Sie müsse zudem »Zivilisten schützen und die syrische Revolution unterstützen«, hieß es in der Erklärung. Einwohner aus Barzeh berichteten derweil, daß es einem Ältestenrat des Ortes sieben Mal gelungen sei, zwischen Armee und Aufständischen eine Waffenruhe zu vermitteln. Die sei jedesmal durch Streit unter den Aufständischen wieder gebrochen worden.

In der Stadt Homs konzentrieren sich die Kämpfe auf Khalidiya, die einst christlich geprägte Altstadt. Auch in Gebieten um die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers (Qalaat Al-Hosn) wurde gekämpft. Meldungen zufolge wurde dabei ein Turm der Burg aus dem elften Jahrhundert beschädigt. Die Anlage gehört zum Weltkulturerbe.

Proteste der Bevölkerung und innere Kämpfe haben die Aufständischen in den letzten Wochen zusätzlich geschwächt. In den »befreiten Gebieten« in Rakka und Aleppo, organisiert die Bevölkerung immer häufiger Proteste gegen die »Revolutionsgerichte« des »Islamischen Staates von Irak und Syrien« und anderer islamistischer Gruppen. Die Gerichte verhängen drakonische Strafen und wollen der Bevölkerung ihr Verhalten und den Frauen ihre Kleidung vorschreiben. In Aleppo setzten Demonstranten die Öffnung eines Kontrollpunktes der »Freien Syrischen Armee« durch. Ziel war, der Bevölkerung des benachbarten Stadtteils zu ermöglichen, den Kontrollpunkt zum Einkaufen zu passieren.

Einer AP-Meldung zufolge haben sich am Samstag in Aleppo offenbar Kämpfer des »Islamischen Staates von Irak und Syrien« mit Kämpfern der »Freien Syrischen Armee« (FSA) ein Gefecht geliefert. Am Tag zuvor hatte die FSA bekanntgegeben, daß Kamal Hamami (Abu Basir) bei einem Treffen in der Provinz Latakia von bis dahin verbündeten Al-Qaida-Kämpfern getötet worden war. Hamami gehörte dem Obersten Militärrat der FSA an. Der Rat war auf Betreiben der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Saudi-Arabiens im Herbst 2012 gegründet worden.

Die Vereinten Nationen haben derweil angekündigt, einer Einladung der syrischen Regierung nach Syrien zu folgen. Der Leiter der UN-Untersuchungsmission für chemische Waffen, Ake Sellstrom, wird mit der UN-Repräsentantin für Abrüstung, Angela Kane, in den nächsten Tagen in Damaskus erwartet. Bei den Gesprächen soll geklärt werden, wie die UN-Mission den möglichen Einsatz von chemischen Waffen in Syrien untersuchen können.

Die Aufständischen, Frankreich, Großbritannien und die USA werfen den syrischen Streitkräften vor, international geächtete chemische Waffen einzusetzen. Damaskus beschuldigt die Aufständischen, dies zu tun. Russische Waffeninspektoren haben der UNO Proben und Untersuchungsergebnisse über den möglichen Einsatz von chemischen Waffen in der Provinz Aleppo im März übergeben. Demzufolge sollen die Aufständischen Sprengköpfe von selbst hergestellten Raketen mit Giftgas gefüllt eingesetzt haben.

* Aus: junge Welt, Montag, 15. Juli 2013


Leben in der Kampfzone

Impressionen aus der belagerten Stadt Sahnaya

Von Karin Leukefeld, Sahnaya **


Sahnaya ist etwa 15 Kilometer südwestlich der syrischen Hauptstadt Damaskus gelegen. Mit Beginn des Krieges haben sich die Menschen daran gewöhnt, daß der Weg mit dem Minibus, dem »Servis«, eine Stunde oder auch länger dauern kann. Lange Autoschlangen stauen sich zu den Stoßzeiten vor den Kontrollpunkten von Armee und Sicherheitsdiensten. Am Morgen, wenn die Menschen ins Zentrum zur Arbeit fahren, und am Nachmittag, wenn sie die Stadt verlassen und sich auf den Heimweg machen, ist Geduld angesagt. Kofferräume werden geöffnet, kleine Lieferwagen mit Obst und Gemüse müssen nicht selten die Ware abräumen und werden nach Sprengstoff durchsucht. Die Männer müssen ihre Ausweise zeigen, die Frauen bleiben meist unbehelligt. Neuerdings wird schon mal nach den letzten Rechnungen für Strom, Telefon und Wasser gefragt. Möglicherweise soll der Druck auf säumige Zahler erhöht werden.

Sahnaya grenzt an die Satellitenstadt Dareya. Dort waren vor einem Jahr Kämpfer unterschiedlicher Verbände der Aufständischen einmarschiert und hatten die örtliche Bevölkerung eingeschüchtert. Zwischen Zeiten der Waffenruhe, die immer wieder von örtlichen Persönlichkeiten vermittelt wird, liefern Armee und Aufständische sich fast täglich Kämpfe. Die Zivilbevölkerung ist seit langem in die angrenzenden Ort Jdeideh Artouz, Qutsayia oder nach Sahnaya geflohen, erzählt ein junger Mann aus Sahnaya. Safwan ist Lehrer und hilft als Freiwilliger beim Syrischen Arabischen Roten Halbmond (SARC). 15000 Familien aus Dareya habe der Ort aufgenommen, erzählt er. Eine Familie zählt bis zu acht Personen, Sahnaya ist von 45000 Einwohnern auf etwa 75000 angewachsen. Viele Menschen mißtrauten dem SARC, doch er wisse, welch gute Arbeit gemacht werde, sagt Safwan.

Der Lehrer Safwan ist im Ort kein Unbekannter. Bei den letzten Wahlen hat er auf einer unabhängigen Liste kandidiert, der Stadtrat von Sehnaya wird mehrheitlich von den Kommunisten und von der Syrischen Nationalistischen Sozialistischen Partei (PPS) gestellt. Die Baath-Partei spiele traditionell in dem Ort keine Rolle, sagt der Dreißigjährige. Vor den Aufständischen in Dareya habe man eine »rote Linie« gezogen und den Kämpfern klargemacht, daß für sie in Sahnaya kein Platz sei.

Safwan stammt aus einer bedeutenden religiösen Drusenfamilie in Sahnaya, wo er geboren wurde. Selber habe er mit Religion »nichts am Hut«, wie er sagt. Man dürfe aber »die Bedeutung der Religion in Syrien nicht vernachlässigen«. Mehrheitlich seien die Syrer moderate Muslime, die die alten Religionen respektierten. Schon bevor der Islam sich im 7. Jahrhundert von Mekka ausgebreitet habe, hätten Christen, Assyrer und Juden in der Region gelebt. Die syrische Kultur sei von den alten Völkern und ihren Religionen geprägt und tief verwurzelt, das verbinde die Menschen trotz aller Konflikte.

Für die jungen Leute von Sahnaya habe sich das Leben sehr geändert, erzählt der zwanzigjährige Hisham. Er studiert in Damaskus Jura und betreibt einen Laden für Accessoires und Kleidung für Leute seines Alters. Früher konnte er seine Freunde in Cafés oder Parks treffen, Nächte hindurch hätten sie diskutiert und Pläne geschmiedet. Die meisten seiner Freunde hätten jetzt das Land verlassen. »Wir leben im Krieg, da nimmst du entweder eine Waffe oder einen Stift, oder du gehst fort«, sagt Hisham. Er lehnt die Militarisierung des Konflikts in seiner Heimat ab und hat angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben. »Früher oder später wäre diese Krise gekommen«, ist er überzeugt. »Doch wäre sie nur zehn Jahre später gekommen, hätten wir eine aktive Zivilgesellschaft gehabt, die uns organisiert und durch die Krise hätte führen können«. Nun sehe er überall nur noch Zerstörung.

Musa ist 21 und stimmt zu, daß die Geschehnisse in Syrien vor allem für die jungen Leute alles verändert hätten. Früher habe er Pläne gemacht und lange im voraus überlegt, was er studieren, arbeiten, wie er sein Leben gestalten wolle. »Egal was passiert, ich bin jung und habe das Leben vor mir«, habe er damals gedacht und keine Angst vor Problemen gehabt. Heute sei die Zukunft unklar. Er mache sich Sorgen um die Familie. Die Gesundheit seines Vaters habe sich verschlechtert, auch die finanzielle Lage der Familie sei sehr schwierig. Neben den materiellen Problemen laste der Krieg emotional schwer auf den Menschen. Manche Leute hofften, daß der nächste Tag besser werde. Doch er sei Realist und sage sich: »Heute ist besser als morgen.«

** Aus: junge Welt, Montag, 15. Juli 2013

Versorgungskrise: Drastische Inflation

Mit Beginn der Unruhen in Syrien vor mehr als zwei Jahren, haben syrische Geschäftsleute elf Milliarden US-Dollar in den Libanon transferiert. Die Erwerbslosigkeit ist auf mehr als 49 Prozent gestiegen, das einst schuldenfreie Syrien ist heute tief verschuldet. Das ist einem aktuellen Bericht der UN-Kommission für Wirtschaft und Soziales für Westasien (ESCWA) zu entnehmen.

Die Lage der ohnehin durch die Sanktionen von USA und Europäischer Union massiv belasteten Wirtschaft des Landes hat sich in den letzten Monaten durch eine inflationäre Entwicklung der syrischen Währung verschärft. Manipulationen mit dem syrischen Pfund haben den Preis für einen US-Dollar (USD) in schwindelerregende Höhen getrieben. 2010 kostete ein USD etwa 50 Syrische Pfund (SYP). Anfang 2013 war der Preis auf 85 SYP gestiegen, nur wenige Monate später, im Juni 2013, auf teilweise mehr als 300 SYP und hat sich inzwischen bei 250 SYP eingependelt. Grundnahrungsmittel und Medikamente haben sich im Preis teilweise vervierfacht, was für die Bevölkerung, die durch den Krieg oft alles verloren hat, kaum zu schultern ist. Schlimmer noch als im Rest des Landes sind die Preise in Aleppo in die Höhe gestiegen. Die Belagerung ganzer Stadtviertel hat Nahrungsmittel verknappt. Bewaffnete Gruppen, die in der Stadt und außerhalb Straßen kontrollieren, verlangen Wegezoll. Oft werden ganze Ladungen mit Getreide oder Olivenöl von den Aufständischen beschlagnahmt und andernorts zu eigenen Preisen verkauft. Eine Einwohnerin aus dem Teil von Aleppo, der unter Kontrolle der syrischen Streitkräfte steht, schickte an ihre Freundinnen vor wenigen Tagen eine Preisliste, um ihre Lage zu beschreiben. Ein Kilo Brot (aus einer privaten Bäckerei) kostet demnach 350 SYP, vor dem Krieg 80 SYP. Zucker kostet 275 SYP (Kilo), früher 120 SYP. Sechs Flaschen Wasser (Liter) kosteten früher 150 SYP, heute 450.

Dennoch gelingt es Syrien, wirtschaftlich noch auf den Beinen zu bleiben. Mit finanzieller Unterstützung befreundeter Staaten wie Rußland, China und Iran kann der Staat seinen Beamten und Angestellten regelmäßig Löhne zahlen. Dort, wo kein Krieg herrscht, wird die Bevölkerung weiterhin mit Strom und Wasser versorgt.

(kl)




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