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Eskalation bleibt aus

Tausende Syrer protestieren nach Freitagsgebeten. Ihre Forderungen reichen von raschen Reformen bis zum "Regime change"

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Erneut haben Tausende Syrer für mehr und schnellere Reformen in ihrem Land demonstriert. Nach dem Freitagsgebet (13. Mai) zogen die Menschen in verschiedenen Orten durch die Straßen. Proteste wurden unter anderem aus Hassakeh (Ostsyrien), Daraa (jordanische Grenze) und Homs gemeldet. Auch der Abgang von Präsident Baschar Al-Assad wurde gefordert, wie der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira berichtete. Die Parolen reichten von »Freiheit, Freiheit« über den Sturz des Regimes bis hin zu »Allah ist groß«. Gefordert wurde auch die Freilassung von Gefangenen. Al-Dschasira strahlte Handyaufnahmen aus verschiedenen Orten in einer Endlosschleife aus, die von Telefongesprächen mit Teilnehmern der Proteste ergänzt wurden. Auch in Kamischli demonstrierten Tausende und forderten Freiheit. Die Stadt wird vor allem von Kurden und verschiedenen christlichen Gruppen bewohnt und liegt im Nordosten des Landes unmittelbar an der Grenze zur Türkei. Weder Sicherheitskräfte noch Soldaten schritten ein, bis Redaktionsschluß wurden keinerlei Zwischenfälle bekannt. In Damaskus und Aleppo, den politischen und wirtschaftlichen Metropolen, blieb es ruhig. In Aleppo hatten am Donnerstag Hunderte Studierende auf dem Campus der Universität für ein Ende der Militäraktionen demonstriert, sie waren von Sicherheitskräften auseinandergetrieben worden.

Im Vorfeld der Freitagsproteste hatte Präsidentenberaterin Bouthaina Shaa­ban bekräftigt, Präsident Assad habe Militär und Sicherheitskräfte ausdrücklich aufgefordert, keine Waffen gegen die Demonstranten einzusetzen. Der für religiöse Angelegenheiten zuständige Minister Mohammad Abdul-Sattar Al-Sayyed hatte am Donnerstag bei einem Treffen mit christlichen und muslimischen Vertretern in Damaskus gefordert, das Freitagsgebet nicht länger zum Anlaß für Proteste zuzulassen. Der Großmufti von Syrien, Ahmad Badreddin Hassoun, wandte sich mit einer ähnlichen Botschaft in Raqqa an Geistliche beider Kongregationen. Hassoun mahnte zur Geduld und sagte, Syrien mache bereits Fortschritte bei den Reformen, die Regierung arbeite daran, die Lebensbedingungen seiner Bevölkerung zu verbessern.

Im Vorfeld der Freitagsgebete hatten westliche Medien die Öffentlichkeit auf neue Auseinandersetzungen in Syrien vorbereitet. Menschenrechtsaktivisten hätten berichtet, die syrische Regierung setze das Militär gegen ihre Gegner ein. Auch wurde von einer Umzingelung der Stadt Hama durch Soldaten und Panzer gemeldet. Hama war 1982 Schauplatz eines blutigen Massakers geworden, als syrische Sicherheitskräfte und die Armee gegen Mitglieder der Muslimbruderschaft vorgegangen waren. Die Regierung sprach von 2000, Amnesty International von bis zu 25000 Toten.

In Homs und Daraa hatten Sicherheitskräfte weiter Razzien durchgeführt, wobei Hunderte Menschen festgenommen worden waren. Syrische Menschenrechtler im Exil sprachen von 18 Toten und sagten, die Armee beschieße Wohnviertel in Homs. Freigelassene hätten eine Erklärung unterschreiben müssen, nicht gefoltert worden zu sein und zukünftig nicht mehr an »Randale« teilzunehmen.

Die syrische Nachrichtenagentur SANA berichtete, daß Soldaten weiterhin in Homs und Daraa nach bewaffneten Gruppen suchten. Dabei war in ­Daraa am Donnerstag ein Soldat getötet worden, zwei wurden bei dem Versuch verletzt, Bewaffnete festzunehmen. Am Mittwoch waren in Homs bei einer ähnlichen Operation vier Angehörige der Streitkräfte getötet worden.

Am Mittwoch hatte Ministerpräsident Abdel Safar ein Programm vorgestellt, in dessen Verlauf jährlich 10000 Hochschulabsolventen bei Regierungsbehörden angestellt werden sollen. Damit soll der hohen Arbeitslosenquote von schätzungsweise 20 Prozent besonders unter Akademikern entgegengewirkt werden. Die private syrische Zeitung Al-Watan berichtete am Donnerstag, Präsident Assad habe sich mit einer Delegation sunnitischer Geistlicher aus Hama getroffen. Die Geistlichen hätten ihn gebeten, sich der Auswirkungen des Massakers im Jahr 1982 anzunehmen. Viele Menschen lebten seitdem im Exil, auch sei die genaue Zahl der Toten bis heute nicht bekannt. Assad sagte zu, die Fälle der im Exil Lebenden zu überprüfen, solange diese »als loyale Bürger bekannt seien«.

Rußland warnte unterdessen vor einer ausländischen Intervention in Syrien. Ein »Szenario wie in Libyen« müsse in Syrien vermieden werden, zitierten russische Nachrichtenagenturen Außenminister Sergej Lawrow bei einem Besuch in Kasachstan.

* Aus: junge Welt, 14. Mai 2011


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