"Ready to go"
US-Streitkräfte warten auf Obamas Angriffsbefehl gegen Syrien. Arabische Liga verweigert den Segen zum geplanten Krieg. Keine Überfluggenehmigung aus Österreich
Von Knut Mellenthin *
Die US-Streitkräfte stehen bereit zum Angriff auf Syrien. Das verkündete Pentagon-Chef Chuck Hagel am späten Dienstag abend im britischen Sender BBC. »Wir haben unsere Kräfte in Stellung gebracht, damit sie jede Option ausführen können, zu der der Präsident zu greifen wünscht. We are ready to go.« Zuvor soll aber offenbar noch die Sitzung des britischen Parlaments am heutigen Donnerstag abgewartet werden. Premier David Cameron hat die Abgeordneten aus dem Urlaub zurückbeordert. Offenbar hofft der Vorsitzende der Konservativen auf ein »demokratisches Mandat« für militärische Aktionen, das auch die oppositionelle Labour Party einbindet. Deren maßgebliche Politiker haben bisher keine Kritik an der Kriegsplanung geäußert, aber betont, daß zuvor das Parlament befragt werden müsse.
Der US-Präsident, der laut Verfassung Oberkommandierender der Streitkräfte ist, wird vor dem Befehl zum Losschlagen wahrscheinlich die Debatte im UN-Sicherheitsrat abwarten, die am Mittwoch beginnen sollte. Cameron hat angekündigt, daß Großbritannien dort einen Resolutionsentwurf einbringen würde, der die seit Tagen laufende beweislose Verurteilung der syrischen Regierung wegen des Giftgasangriffs vom 21. August fortsetzen soll. Zunächst war unklar, ob der britische Antrag auch ein Mandat für Militärschläge enthalten sollte. Daß die Russen einem solchen Antrag nicht einmal zustimmen könnten, wenn er sich »nur« auf die Verurteilung der syrischen Führung beschränken würde, steht von vornherein fest. Auch China wird vermutlich nicht für eine solche Entschließung zu gewinnen sein.
Indessen sind die USA und ihre Verbündeten am Dienstag mit ihrer Absicht gescheitert, sich von der Arabischen Liga, dem lockeren Dachverband von 22 überwiegend arabischen Staaten, eine Aufforderung zum Krieg gegen Syrien erteilen zu lassen. Neben Algerien und dem Libanon sprach sich auch das ägyptische Militärregime dagegen aus. Immerhin wurde auf dem Treffen aber eine Verurteilung Syriens wegen des Giftgaseinsatzes verabschiedet. Demgegenüber erklärte der Chef der kurdischen PYD im Norden Syriens, Saleh Muslim, das Regime in Damaskus sei nicht für den Chemiewaffeneinsatz verantwortlich. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters beschuldigte er indirekt die Aufständischen. Es gebe dort Kräfte, die das Regime als Schuldigen darstellen wollten.
Der Sonderbeauftragte der Arabischen Liga und der UNO für Syrien, der Algerier Lakhdar Brahimi, hat sich am Mittwoch entschieden und eindeutig gegen die geplanten militärischen Angriffe ausgesprochen. »Es wird schon genug getötet in Syrien, man will nicht noch mehr Tötungen, man will, daß das Töten aufhört.« Auf jeden Fall dürfe es aber keine Kriegshandlungen gegen Syrien ohne Zustimmung aller 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats geben. Auch Österreich sprach sich gegen einen nicht von den Vereinten Nationen mandatierten Einsatz aus und will NATO-Kampfflugzeugen auf dem Weg nach Syrien die Überfluggenehmigung verweigern, berichtete am Mittwoch die Kronen Zeitung unter Berufung auf einen Sprecher des Außenministeriums in Wien.
Unterdessen hat UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Mittwoch mitgeteilt, daß das Expertenteam der Vereinten Nationen noch vier Tage für die Beendigung der Untersuchung des mutmaßlichen Giftgaseinsatzes bei Damaskus brauche. »Sie arbeiten sehr hart, unter sehr, sehr gefährlichen Umständen.« Nach den vier Tagen müßten die Ergebnisse mit Experten analysiert werden, erst danach könne dem Sicherheitsrat ein Bericht überstellt werden.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 29. August 2013
Angetreten zur Strafaktion
Der Westen scheint zum Schlag gegen Syrien auch ohne UN-Mandat bereit
Von Uwe Kalbe **
Die Unbestimmtheit der Informationen ist
das vielleicht augenfälligste Indiz für einen
nahenden Militäreinsatz gegen Syrien. Die
Wahrheit stirbt im Krieg zuerst ... Es seien
»Anzeichen« eines Chemiewaffeneinsatzes
gefunden, wurde am Mittwoch UN-Sondergesandter
Lakhdar Brahimi zitiert. Die
USA erklärten, jederzeit zum Schlag bereit
zu sein. Ein Einsatz der Bundeswehr sei
wenig wahrscheinlich, erklärten in Interviews
Politiker aus Union und FDP.
Es sei nicht vor dem heutigen Donnerstag
mit einem Militärschlag zu rechnen,
verlautete in Washington. Präsident Barack
Obama wolle auf die Entscheidung
des britischen Unterhauses in London
warten, dessen Mitglieder aus dem Urlaub
zurückgerufen worden sind. Auf das französische
Parlament scheint Obama nicht
warten zu wollen – dieses soll erst am
4. September zusammentreten.
Den Grund für einen offenbar punktuell
geplanten Schlag westlicher Staaten gegen
Syrien liefert die Behauptung, das Regime
von Baschar al-Assad habe vorige Woche
nahe Damaskus Chemiewaffen gegen Zivilisten
eingesetzt, mit hunderten Todesopfern
als Folge. Barack Obama und David
Cameron hätten »keinen Zweifel« mehr an
dieser Version der Ereignisse, teilten Washington
und London nach einem Telefonat
des US-Präsidenten mit dem britischen
Premierminister mit. Kein Zweifel heißt
gleichwohl: Überzeugung statt Information.
Russland bezweifelte die Stichhaltigkeit
der Ergebnisse und forderte einen Informationsaustausch.
Die Recherchen in Syrien
scheinen jedoch nur noch eine untergeordnete
Rolle zu spielen. Am Mittwochnachmittag
wurde bekannt, dass die UNInspekteure
ihre Untersuchung nicht wie
angekündigt am heutigen Donnerstag,
sondern wohl erst am Wochenende abschließen
werden. Die Experten brauchten
noch vier weitere Tage, sagte UN-Generalsekretär
Ban Ki Moon in Den Haag. Zuvor
hatte sich Ban gegen einen
Militärschlag ausgesprochen
und für eine diplomatische
Lösung geworben.
Die Zustimmung des
Londoner Unterhauses für
einen Einsatz dürfte Formsache
sein. Cameron kündigte
über den Informationsdienst
Twitter einen Vorstoß im UNOSicherheitsrat
an. Er habe eine Resolution
vorbereitet, die er den Mitgliedern noch am
Mittwoch unterbreiten wollte – also neben
den USA, Großbritannien und Frankreich
auch China und Russland, die ein militärisches
Vorgehen strikt ablehnen. Sie hätten
nun Gelegenheit, »Verantwortung gegenüber
Syrien zu übernehmen«, teilte die
Downing Street mit. Während die Organisation
für Islamische Zusammenarbeit
(OIC) »entschiedenes Handeln« gegen die
syrische Regierung forderte, hat inzwischen
Iran als Verbündeter der syrischen
Regierung eine drohende Haltung eingenommen.
Parlamentspräsident Ali Laridschani
warnte vor Konsequenzen, die Israel
im Falle eines Angriffs auf Syrien entstehen
könnten.
Ein UNO-Mandat für einen Militärschlag
gegen Syrien ist angesichts der Haltung
Moskaus und Pekings nicht zu erwarten.
Gleichwohl wird dies zu einem Kern
der Debatten in Deutschland. Bundeskanzlerin
Angela Merkel gab am Mittwoch
den Ton vor und forderte Russland und
China auf, der britischen Initiative im Sicherheitsrat
keine Steine in den Weg zu legen.
Außenminister Guido Westerwelle
(FDP) wünschte sich eine
»geschlossene Haltung« des
Gremiums. Vor der Botschafterkonferenz
im Auswärtigen
Amt hatte er zuvor
erklärt, Deutschland werde
am Ende »zu denjenigen gehören,
die Konsequenzen für
richtig halten«. Die »Frankfurter
Allgemeine« zitierte ihn mit den
Worten: »Hierzu stehen wir in enger Abstimmung
mit den Vereinten Nationen und
unseren Verbündeten.«
Ein Eingreifen auch ohne UNO-Mandat
hielt Entwicklungsminister Dirk Niebel
(FDP) für akzeptabel. Der Chemiewaffenangriff
auf Zivilisten rechtfertige eine
Strafaktion. Ähnlich argumentierte Ruprecht
Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen
Ausschusses im Bundestag. SPDFraktionschef
Frank-Walter Steinmeier
empfahl dagegen dringend, den G 20-Gipfel
nächste Woche im russischen Petersburg
abzuwarten. Wie die Kanzlerin denkt,
deutete Regierungssprecher Steffen Seibert
an: Ein Vorfall wie der Giftgaseinsatz müsse
»geahndet« werden.
** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013
Weitere Berichte aus Istanbul,Tel Aviv, Washington, London, Paris, Moskau und von der Arabischen Liga
Türkei steckt zwischen Baum und Borke
Erdogan will eine »Schutzzone«
Von Jan Keetman
Angesichts des erwarteten Militärschlages
gegen Syrien fällt in der Türkei vielen
der 1. März 2003 ein. Überraschend
lehnte das Parlament an jenem Tag den
Antrag der noch neuen Regierung von
Recep Tayyip Erdogan ab, den USA die
Eröffnung einer Nordfront gegen Irak von
der Türkei aus zu gestatten. Es war das
einzige Mal, dass ein erheblicher Teil der
Abgeordneten von Erdogans AK-Partei
gegen die eigene Regierung stimmte. Das
türkische Parlament warf den USA ein
milliardenschweres Hilfspaket vor die
Füße. US-Generäle machten die Türkei
später dafür verantwortlich, dass die Army
es schwer hatte, Irak zu kontrollieren.
Heute ist es unwahrscheinlich, dass
die Regierung das Parlament in ähnlicher
Weise fragen wird. Die Operationen gegen
Syrien werden wohl ohne türkische Beteiligung
und ohne die Verwendung der
US-Basis Incirlik in der Türkei ablaufen.
Innenpolitische Probleme bereiten sie
trotzdem; dies nicht nur von Seiten der
Opposition, die geschlossen gegen eine
Unterstützung der Kriegsalliierten stimmen
will, falls es doch zu einer Parlamentsentscheidung
käme. Die Zeitung »Zaman« schreibt: »Sollen nun die kommen‚
›die Blut und Öl trinken‹ und das
Assad-Regime zerstören?«
Damit erinnert die Zeitung an die
scharfe antiwestliche Rhetorik Erdogans
zum Militärputsch in Ägypten. Die AKP
hat gute Beziehungen zu den Muslimbrüdern
und sieht in ihnen eine verwandte
Bewegung. Erdogan macht insbesondere
den Westen für den Putsch verantwortlich.
Andererseits fordert die Türkei seit
langem ein westliches Eingreifen in Syrien.
Ihr schwebt die Errichtung einer
»Schutzzone« an ihrer Grenze vor. Sie
würde die syrischen Flüchtlinge fernhalten
und den Rebellen als Basis dienen.
Eine bloße Strafexpedition ist nicht im
Interesse Erdogans. Er will mehr, ohne
selbst teilzunehmen und damit noch tiefer
in den syrischen Bürgerkrieg hineinzuschlittern.
Schon jetzt treffen im Grenzgebiet
abgefeuerte Geschosse türkische
Bürger. Sie machen hierfür die eigene
Regierung verantwortlich, weil sie mit ihrer
Unterstützung der Rebellen den Krieg
an die Grenze geholt hat.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013
Israel bereitet sich auf weiteren Krieg vor
Schlange stehen für Gasmasken
Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv
In Israel spricht man dieser Tage nicht
gerne über Außenpolitik. Nicht über
Ägypten. Und schon gar nicht über Syrien.
Das Büro des Regierungschefs habe
allen Beamten schriftlich auferlegt, nicht
mit den Medien zu sprechen, sagt ein
Mitarbeiter des Außenministers. Es drohe
ansonsten die fristlose Kündigung.
Doch die Situation ist auch so deutlich:
Regierung und Bevölkerung bereiten sich
auf einen weiteren Krieg vor. In Jerusalem
befindet sich das »Sicherheitskabinett
«, ein innerer Kreis von Ministern, der
Entscheidungen über Krieg und Frieden
fällt, in einer Art Dauersitzung. An den
Grenzen zu Syrien und Libanon werden
zusätzliche Armee-Einheiten und Abwehrbatterien
stationiert. Und überall
stehen Menschen Schlange, um eine neue
Gasmaske zu bekommen. Seit dem Irakkrieg
Anfang der 90er Jahre schien die
Gefahr eines Giftgasangriffs auf Israels
Städte nicht mehr so real wie heute. Mit
den Sparmaßnahmen im Ende Juli beschlossenen
Haushalt hatte man sogar
das Budget für die Gasmasken gestrichen.
Nun versucht die Regierung händeringend,
diesen Schritt, der ab 2014 gelten
sollte, rückgängig zu machen.
Denn selbst ohne dieses Detail wird ihr
Krisenmanagement häufig kritisiert. Premier
Benjamin Netanjahu warnte zwar,
jeder Angriff auf Israel werde eine harte
Reaktion nach sich ziehen, und Verteidigungsminister
Mosche Jaalon erklärte,
das Militär sei auf jedes Szenarium vorbereitet.
Aber die Medien melden Zweifel
an. So haben die »Iron Dome«-Systeme,
also Raketenabwehrbatterien, mehrfach
Raketen nicht abfangen können. Und
längst ist klar, dass »Iron Dome« selbst im
Idealfall nur so viel abfängt, wie es Abfangraketen
in der Batterie gibt. Und deren
Zahl ist begrenzt.
Ein Kommentar der Zeitung »Haaretz
« wirft dem Premier »strategische
Blindheit« vor: Er habe die Allianzen mit
westlichen Staaten vernachlässigt, sich
lieber auf die Innenpolitik konzentriert.
Und auch in »Jedioth Ahronoth« wird der
Eindruck geäußert, dass Israels Regierung
bei den Beratungen des Westens
über Syrien nur eine Beobachterrolle
einnimmt.
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
USA beharren auf Rolle des Weltpolizisten
Bevölkerungsmehrheit dagegen
Von Max Böhnel, New York
Etwas anderes als der Ehrgeiz der USA,
ihre »credibility« (Glaubwürdigkeit) als
Weltpolizist unter Beweis zu stellen, ist
wenige Tage oder Stunden vor den zu erwartenden
Angriffen auf Syrien nicht zu
entdecken. Wie immer vor einer Aggression
Washingtons werden die Münder von
Offiziellen in den Ministerien ebenso
schmal wie die Kanäle, durch die Informationen
aus Weißem Haus, Pentagon
und Außenministerium fließen. Interessanterweise
berichteten bis Mittwochmorgen
die von PR-Beauftragten gefütterten
Medien ausgerechnet darüber, was
die Obama-Regierung nicht beabsichtige:
Es gehe nicht um einen Regimewechsel
und nicht darum, Präsident Assad an den
Verhandlungstisch zu bomben. Weder
habe man vor, Bodentruppen einzusetzen,
noch seien Angriffe auf Anlagen mit
chemischen Waffen oder die Durchsetzung
einer Flugverbotszone vorgesehen. Es gebe vorerst auch keine Planungen,
Flugzeugrollbahnen zu zerstören. Auf
keinen Fall würden sich die USA in den
syrischen Bürgerkrieg ziehen lassen.
Offensichtlich versucht das Weiße
Haus den Eindruck zu erwecken, es gehe
mit Samthandschuhen zu Werke. Das ist
kein Wunder. Denn eine neue militärische
Intervention Tausende Kilometer von den
USA entfernt findet in der Bevölkerungsmehrheit
Umfragen zufolge keine Unterstützung.
Etwa 60 Prozent sind Reuters/
Ipsos zufolge der Meinung, die USA
sollten sich aus dem Bürgerkrieg heraushalten.
Selbst wenn sich beweisen ließe,
dass die umstrittenen Giftgasangriffe vom
Assad-Regime zu verantworten sind, betrüge
die Ablehnung noch 46 Prozent. Nur
ein Viertel der Bevölkerung wäre dafür.
Aber diese Umfragen sind ein paar Tage
alt. Erfahrungsgemäß lässt die Kritik am
Weißen Haus erheblich nach, wenn der
Präsident, zum militärischen Oberbefehlshaber
mutiert, Angriffe auf ein anderes
Land zur Angelegenheit der nationalen
Sicherheit erklärt.
Bis Mittwochmorgen wurde in den
Medien die Version, dass die Giftgasangriffe
dem Assad-Regime zuzuschreiben
seien, nur ganz vorsichtig hinterfragt.
Demnach wartete man auf Beweise, die
USA-Auslandsgeheimdienste innerhalb
kürzester Zeit vorlegen würden.
In der »New York Times« hieß es am
Dienstag, Obama strebe mit den Angriffen
die »Abschreckung und Reduzierung« der
Fähigkeit zum Einsatz chemischer Waffen
durch Assad an. Auf einer ersten Liste
stünden bis zu 50 Ziele, darunter Luftwaffenbasen,
Kommando- und Kontrollgebäude
und »konventionelle« Einrichtungen
der syrischen Armee. Die Mehrzahl
der Angriffe würde von vier USAZerstörern
im Mittelmeer ausgehen – mit
Tomahawk-Marschflugkörpern.
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
London meint die UNO nicht zu brauchen
Blair begeistert über Cameron
Von Ian King, London
»Wir können nicht untätig zusehen, wie
ein Diktator sein Volk mit Giftgas ermordet
«, sagte der britische Premier David
Cameron. Am Donnerstag wird im Unterhaus
über angeblich »chirurgische«
Angriffe gegen Assads Stützpunkte debattiert.
Doch viele Abgeordnete und
noch mehr Wähler erinnern sich mit
Grauen an Irak und die Folgen. Auch 2003 hatte die »Doktrin der humanitären Interventionen« einen Schießkrieg
rechtfertigen müssen. Auch damals
plädierten Waffeninspektoren für mehr
Zeit: damals, um Massenvernichtungswaffen
zu finden; heute, um genau zu
wissen, wer sie im Vorort von Damaskus
gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt hat.
Damals waren die Regierungen der USA
und Britanniens sich ihrer Sache sicher,
heute steht sogar Frankreich auf ihrer
Seite. Auch 2003 hieß es, Rückendeckung
durch die UNO sei nicht nötig. Und von
Bord einer Luxusjacht im Mittelmeer
zwischen St. Tropez und Sardinien meldete
sich ein alter Kriegstreiber: Tony
Blair stimmte dem geplanten Syrienkrieg
begeistert zu. Der Mann, der seit Jahren
dem Nahen Osten Frieden bringen soll.
Aber nicht alle Briten sind von Gedächtnisschwund
befallen. Vor den Ferien
verlangten über 80 konservative Abgeordnete
»keinen Krieg ohne vorherige
Parlamentsabstimmung!« Labours
Schattenaußenminister Douglas Alexander
laviert: »Wir sagen nicht definitiv
Nein zur Intervention, aber die Regierung
soll vorher die juristischen Grundlagen
für den Krieg verdeutlichen. Auf keinen
Fall gibt es von uns einen Blankoscheck.«
2003 war Alexander vertrauensseliger.
Tory-Hinterbänkler wie Adam Holloway
mahnen, Entsetzen über ein Verbrechen
sei keine Strategie: Was sei der von Cameron
angestrebte Endzustand? Sogar
der rechte Julian Lewis warnt davor, Al-
Qaida-Sympathisanten und religiösen
Fanatikern unter den syrischen Rebellen
den Rücken zu stärken. Sowohl rechte
Militärstrategen wie Max Hastings im
rechten »Daily Telegraph« wie engagierte
Christen um Giles Fraser im linksliberalen
»Guardian« monieren »leere, gefährliche
Gesten«, die den Syrern noch mehr
Blutvergießen bescheren würden. Von
den Folgen fürs Verhältnis zu Russland,
China und Iran spricht keiner – außer
Blair, der gegen Teheran marschieren
lassen will. Von Russland hat er noch
nichts verlauten lassen.
Das YouGov-Institut meldet unverändert,
nur 25 Prozent der Briten würden
den Bombenkrieg unterstützen, 50 Prozent
seien dagegen. Die Lügen, Fehler
und Massenmorde vor zehn Jahren sind
nicht vergessen. Gewiss, die Briten trauen
Assad nicht über den Weg. Aber ihren
eigenen Regierenden auch nicht.
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
Frankreich will Verantwortliche »bestrafen«
Linksfront warnt vor Krieg
Von Ralf Klingsieck, Paris
Frankreichs Präsident François Hollande
hat am Dienstag im Elysée vor den
französischen Botschaftern in aller Welt
angekündigt, dass sich Paris an einer militärischen
Aktion zur »Bestrafung« der
Verantwortlichen für den Chemiewaffeneinsatz
in Syrien beteiligen werde.
Gleichzeitig werde die militärische Hilfe
für die Gegner Präsident Assads verstärkt,
»denen wir vertrauen«. Vorgesehen
ist beispielsweise die Lieferung von
Boden-Luft-Raketen.
Dieses militärische Engagement hält
der Präsident, der die UNO in diesem Zusammenhang
nicht erwähnte, für »nötig,
um die Bedingungen zu schaffen, dass
in Syrien später einmal eine politische
Lösung gefunden werden kann«. Das militärische
Engagement, das sich zunächst
auf den Einsatz von Flugzeugen
und Raketen beschränken dürfte, begründet
der französische Präsident nicht
zuletzt mit der »völkerrechtlichen Verpflichtung
zum Schutz der Zivilbevölkerung«.
Nach der Sozialistischen Partei, die
sich vorbehaltlos hinter die Entscheidung
ihres Präsidenten stellt, hat nach
anfänglichem Zögern auch die Führung
der oppositionellen Rechtspartei UMP ihre
Zustimmung erklärt. Einzelne rechte
Politiker wie der Senator Philippe Marini
geben allerdings zu bedenken, es
existiere bisher kein Beweis dafür, dass
der Chemiewaffeneinsatz in den Vororten
von Damaskus tatsächlich durch
die Armee Assads erfolgt sei und dass
es sich nicht um eine Aktion von Aufständischen
handelte, die eine ausländische
Militärintervention gegen Damaskus
provozieren wollen. »Wir sollten
uns an das Beispiel der angeblichen
Massenvernichtungswaffen in Irak
erinnern, mit denen seinerzeit das Eingreifen
gerechtfertigt wurde«, betonte
Marini.
Andere kritische und warnende Stimmen
kommen fast ausschließlich von den
Kräften links der Sozialisten. So verlangte
der Nationalsekretär der Französischen
Kommunistischen Partei (FKP),
Pierre Laurent, eine Debatte im Parlament
vor einem »Militärschlag« in Syrien
und nicht erst danach. Der Vizepräsident
der Linksfront Jean-Luc Mélenchon
schätzte ein, dass eine militärische
Aktion »ein gigantischer Fehler«
wäre, weil er »möglicherweise der Einstieg
in einen Krieg sein kann, der noch
größer und vernichtender wäre als alles,
was wir bisher in dieser Region erlebt
haben«. Auch Mélenchon führte das
Beispiel Irak zum Vergleich an: Es habe
Frankreich zur Ehre gereicht, dass es
sich seinerzeit nicht an dem Irak-Kriegsabenteuer
der Vereinigten Staaten beteiligte..
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
Russland pocht aufs Völkerrecht
»Militärschlag« wird abgelehnt
Von Irina Wolkowa, Moskau
Lob für die Ablehnung eines »Militärschlags
« gegen Syrien und für die Warnungen
vor den Folgen an die Adresse
der »Hitzköpfe« im Westen, wie Außenamtssprecher
Alexander Lukaschewitsch
formulierte, bekamen Kreml und Außenministerium
sogar von kritischen Medien
wie Radio »Echo Moskwy«. Der versuchte
Export der Demokratie habe schon in
Irak, in Libyen und in Ägypten für Instabilität
gesorgt und Tausende Menschen
das Leben gekostet. Die »Demokratisierung
« Syriens werden ähnlich katastrophale
Folgen haben. Auch sei die Beweislage
bei der Giftgasattacke ähnlich
prekär wie bei den Kernwaffen, die angeblich
im Besitz des irakischen Diktators
Saddam Husein waren.
Während Außenminister Sergej Lawrow
den Westen dazu aufforderte, wenigstens
die Ergebnisse der UN-Untersuchungen
abzuwarten, glauben Beobachter
in Moskau inzwischen, ein Angriff
werde nicht vor dem G-20-Gipfel nächste
Woche in St. Petersburg beginnen. Immerhin
ist US-Präsident Barack Obama
nun doch zu einem Gespräch mit Amtskollegen
und Gastgeber Wladimir Putin
bereit. Der russische Präsident, davon
sind Experten mehrerer Denkfabriken
überzeugt, werde alles daran setzen, den
Amerikaner davon zu überzeugen, dass
militärische Interventionen ohne UNMandat
die von Moskau und Washington
mühsam ausgehandelte globale Sicherheitsarchitektur
zu Makulatur machen. Und damit zugleich das Völkerrecht, das
die Anwendung militärischer Gewalt gegen
souveräne Staaten nur mit dem Mandat
der Weltorganisation erlaubt. Ein solches
Mandat indes dürfte allein schon an
Russlands Veto im Sicherheitsrat scheitern.
Assads Verbleib an der Macht und damit
der Schutz russischer Interessen in
Syrien sind dabei zweitrangig. Moskau
pocht vor allem deshalb auf Einhaltung
völkerrechtlicher Normen, weil anderenfalls
Einfluss und Rolle der Vereinten
Nationen weiter abnehmen. Denn die
UNO – vor allem der Sicherheitsrat, zu
dessen ständigen Mitgliedern Russland
gehört – spielt eine Schlüsselrolle in den
Plänen von Kreml und Außenministerium,
den Status einer Supermacht zurückzugewinnen,
wie ihn die Sowjetunion
einst besaß. Ohne sie oder gar an ihren
Interessen vorbei ging nichts in der
internationalen Politik. Mit außenpolitischen
Erfolgen – das war am Beispiel der
Sowjetunion ebenfalls zu besichtigen –
lässt sich auch eine autoritäre Innenpolitik
besser durchsetzen. Moskaus Rückzug
aus Afghanistan stärkte Reformanhänger
und Dissidenten, eine politische Niederlage
in der Syrienkrise könnte der Anfang
vom Ende der Ära Putin sein.
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
Arabische Liga hat Assad ausgeschlossen
Wenig Gefahr droht von Osten
Von Roland Etzel
Die von den USA angestrebte »Koalition
der Willigen« für einen Angriff auf Syrien
fühlt sich auch deshalb so sicher,
weil sie von anderen arabischen Staaten
so gut wie keinen Gegenwind zu erwarten
hat. In der Arabischen Liga, der
alle arabischen Staaten zwischen Marokko
im Westen und Oman im Osten angehören,
ist die syrische Regierung fast
völlig isoliert. Seit zwei Jahren ist die Mitgliedschaft
von Damaskus suspendiert,
im März wurde sie auf die Dachorganisation
der Exilgruppen in Istanbul
übertragen. Die Liga hat den Sturz von
Präsident Baschar al-Assad zum offiziellen
Ziel erklärt und unterstützt die
Kriegspläne des Westens ohne Einschränkung
– auf dem Papier.
Die Entscheidungen der Liga sind notorisch
intransparent. Nach früheren Beschlüssen
gegen die syrische Regierung
wurde nie das Abstimmungsverhalten der
einzelnen Staaten bekannt gegeben. So
auch diesmal. Lediglich aus inoffiziellen
Quellen war bekannt geworden, dass
sich zum Beispiel Irak und Libanon dem
Beschluss gegen Syrien widersetzt hätten.
Algerien, Irak und Jemen sollen sich
der Stimme enthalten bzw. an dem Votum
nicht teilgenommen haben. Von der
jetzigen Entschließung der Liga für einen
Angriff auf Syrien gibt es erneut keine
Nachrichten über das Stimmverhalten.
Es ist aber davon auszugehen, dass
die arabische Front keineswegs so einheitlich
steht wie behauptet. Während
zum Beispiel Jordanien als erstes arabisches
Nachbarland Syriens öffentlich
Assads Rücktritt forderte, ist die Haltung
des Nachbarn Irak genau gegensätzlich.
Die schiitisch dominierte Regierung
in Bagdad verweigert Anti-Assad-
Kämpfern das Einsickern über die
irakische Grenze respektive den Waffenschmuggel
über sie.
Von dieser, der Ostseite, droht Damaskus
die wenigste Gefahr, zumal sich
dahinter Iran befindet, der potenteste
Verbündete Assads in der Region. Die
Regierungen und Herrschaftssysteme
beider Staaten – schiitisch bzw., dem
verwandt, alawitisch dominiert – befinden
sich in einer Art Schicksalsgemeinschaft.
Nicht wenige Beobachter sehen
den Hauptgrund für den in seiner
Einseitigkeit und Rigorosität nicht rational
nachvollziehbaren Kurs des Westens
gegen Assad sogar darin, dass so
die Islamische Republik Iran isoliert und
entscheidend geschwächt werden soll.
Etwas unerwartet ist, dass die Wortführer
der Schwellenländer wie Brasilien,
Indien oder Südafrika bisher jegliche
klare Positionierung gegen den
Westen in der Frage vermieden. Das war
beim Krieg gegen Libyen noch anders.
(neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013)
Stellungen sind bezogen
Von Uwe Kalbe ***
Zurückhaltend klingen die Kommentare
deutscher Politiker,
nachdenklich beinahe. Die Frage
nach den Folgen für Syrien, für
den Nahen Osten wird gestellt, auf
Risiken verwiesen. Wenigstens die
Untersuchungen der UNO-Spezialisten,
die dem Verbrechen an der
Zivilbevölkerung nachgehen sollen,
seien abzuwarten, lautet der
Rat, nicht zuletzt von Politikern
der Regierungskoalition.
Wer sieht, wie die bekannten
Rituale in den NATO-Hauptstädten
jetzt ihren Lauf nehmen, wie Waffen
und Worte geschärft werden,
ahnt, dass Warnungen nichts
fruchten werden. Der ahnt, wie
alles endet. Und beinahe könnte er
auf die Idee kommen, einen feinen
Unterschied in deutschen Kommentaren
zu erkennen gegenüber
dem grobschlächtigen Drohen etwa
in London oder Washington.
Diesen feinen Unterschied gibt
es auch. Er trägt ein Datum:
22. September. Selbst wenn nicht
alles vom Wahlkampf bestimmt
wird, gefärbt wird es davon schon.
Bei einer Zweidrittelmehrheit in
der Bevölkerung, die einen Militäreinsatz
auch im Falle Syriens
ablehnt, bleiben Befürwortungen
in jedem Politikerhals stecken.
Doch man möge genau zuhören. Den Krieg aus prinzipiellen Gründen,
nicht nur wegen fehlender
Mandate oder Erfolgsaussichten,
lehnt außer der LINKEN niemand
ab. Und schon gar nicht wird über
Kriegsschiffe geredet, die auf dem
Weg ins Mittelmeer sind oder bereits
dort kreuzen. Oder die Patriot-
Raketenstaffeln, mit denen
Deutschland längst seine Stellungen
gegen Syrien bezogen hat.
*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 29. August 2013 (Kommentar)
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