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Den Krieg ächten

Rezension. Jürgen Todenhöfers Buch »Du sollst nicht töten« ist ein einzigartiges Zeitdokument und ein leidenschaftliches Plädoyer für den Frieden

Von Thomas Wagner *

»Wenn ihr wüßtet, was ich weiß, / sprach Mahomet, / so würdet ihr viel weinen und wenig lachen.« Dieser, dem Propheten Mohammed zugeschriebene Spruch paßt auch gut zu jenem Buch, von dem hier die Rede ist. Dabei handelt es sich trotz seines in diese Richtung weisenden Titels nicht um ein Stück harmloser Erbauungsliteratur. »Du sollst nicht töten. Mein Traum vom Frieden« (2013) ist statt dessen eine kunstvoll zu einem Gesamtbild der gegenwärtigen Konflikte im Mittleren Osten und der arabischen Welt zusammengefügte Sammlung kenntnisreicher Reportagen, Analysen und Berichte des ehemaligen CDU-Politikers, Medienmanagers und heutigen Publizisten Jürgen Todenhöfer.

Bei den von ihm geschilderten »Abenteuern« in Afghanistan, Algerien, Libyen, Ägypten, Gaza, Irak, Iran und Syrien handelt es sich um dramatische Ereignisse, die zu erleben man niemandem wünscht. Die Rahmenhandlung besteht aus der Schilderung eines mehrere Stunden dauernden Mörsergranaten- und Raketenbeschusses von Todenhöfers Reisegruppe durch die libyschen Streitkräfte im März 2011. Dabei stirbt der neu gewonnene Freund Abdul Latif im Wüstensand, ohne daß ihm jemand zu Hilfe kommen kann.

Auch nach diesem traumatischen Erlebnis läßt der Autor keine Gelegenheit ungenutzt, um sich gegen die Militärintervention der NATO auszusprechen. Diese half zwar dabei, das vielen Libyern verhaßte Regime Muammar Al-Ghaddafis zu beseitigen, die NATO bombte das Land aber zugleich unter Inkaufnahme des Todes zahlreicher Zivilisten ins heutige Chaos. Symptomatisch für das schreckliche Versagen der NATO ist der barbarische Umgang mit dem gefangenen Feind. Die Verantwortlichen des westlichen Militärbündnisses haben nicht verhindert, daß der vernichtend geschlagene Staatsführer von verbündeten »Freiheitskämpfern« auf bestialische Weise zu Tode gefoltert wurde. Für Todenhöfer ist der Mord an dem Mann, der ihn kurz zuvor beinahe hatte umbringen lassen, »eine Schande für die NATO, eine Schande für die libysche Revolution, eine Schande für die Menschheit«.

Gefährliche Demokratie

Todenhöfer ermöglicht den Lesern einen kritisch distanzierten Blick auf die Politik des Westens. Ihm geht es um Aufklärung über die Kriegslügen der NATO, eine Kehrtwende gegenüber der muslimischen Welt und um die Ächtung des Krieges.

Seine über Jahrzehnte auf vielen Reisen und im Rahmen von Literaturstudien gewachsenen Kenntnisse über die Region haben aus dem Kritiker des Krieges der Sowjetunion in Afghanistan einen mindestens ebenso scharfen Kritiker der heutigen NATO-Aggressionen werden lassen. »Wir haben in der muslimischen Welt seit Beginn des Kolonialismus nie die Werte unserer Zivilisation verteidigt, sondern immer nur unsere Interessen«, lautet sein ernüchtertes Fazit. »Wo immer die USA ›Kriege gegen den Terror‹ führen oder fordern, geht es um ganz andere Dinge. In Afghanistan um die zentrale geostrategische Position in Asien, im Irak um Öl und im Konflikt mit dem angeblich nuklearsüchtigen ›Terrorstaat‹ Iran um die Vorherrschaft im Mittleren Osten. Fast immer ist das eigentliche Ziel die Durchsetzung imperialer Interessen der USA. In Mali geht es ausnahmsweise um postkoloniale Rohstoffinteressen Frankreichs. Vor allem um das Uran des Nachbarstaates Niger. Frankreich braucht es dringend für seine Stromversorgung. Wenn es in der Exkolonie ›Französisch-Westafrika‹ nur Sand gäbe, dürften sich Terroristen, Tuaregs und Malier die Köpfe einschlagen, solange sie wollten – Paris würde nie intervenieren.« Todenhöfer ist sich sicher, daß Demokratie das letzte ist, was die USA und ihre Verbündeten im Mittleren Osten anstreben. »Demokratie in diesen Ländern ist ihnen viel zu gefährlich. Da stünde ja alle vier, fünf Jahre die westliche Erdölversorgung auf dem Spiel. Es könnten Leute an die Macht kommen, die arabisches Öl lieber selbst behalten oder an China verkaufen würden. Nie wird der Westen in der arabischen Welt freie Demokratien anstreben. Das entspricht nicht seinen imperialen Interessen.«

Todenhöfer weiß auch aus eigener Erfahrung, wovon er hier spricht. In seiner Zeit als CDU-Politiker ist er selbst Teil dieser Politik gewesen. Wenn er als junger Bundestagsabgeordneter in den 1970er Jahren bei seinem Treffen mit dem saudiarabischen König Faisal demokratische Reformen angemahnt hätte, meint er heute, wäre er von seiner Partei sofort aller Ämter enthoben worden. Viele Jahre später mußte er erkennen, daß der Westen selbst die Terroristen hervorbrachte, die er zu bekämpfen vorgibt. So sind die Taliban und Al-Qaida in seinen Augen vor allem »Koproduktionen der Geheimdienste Saudi-Arabiens, Pakistans und der USA«. Den Drohnenkrieg der USA gegen diese Gruppierungen bezeichnet er als »Mord nach Mafiaart«, sogenannte humanitäre Interventionen als »eine besonders raffinierte Art zur Umgehung des lästigen Kriegstabus«.

Da Kriege in demokratischen Staaten ohne Übertreibungen und Lügen nicht mehr durchsetzbar sind, ist die Lüge, so Todenhöfer, die »erfolgreichste Massenvernichtungswaffe« des Westens geworden. Nicht wahrhaftig war von Anfang an die Haltung des Westens gegenüber dem syrischen Präsidenten. Zwar ist Baschar Al-Assad auch für Todenhöfer ein Diktator. »Aber wann immer er zu vorsichtigen demokratischen Reformen ansetzte, gab es wütende Kritik des Westens. Als er eine Volksabstimmung über eine neue Mehrparteienverfassung sowie freie Parlamentswahlen ankündigte, empörte sich selbst der im Syrienkonflikt meist maßvolle deutsche Außenminister. Das sei ein bösartige ›Finte‹, ein ›taktisches Manöver‹. Demokratische Anstrengungen Assads sind dem Westen ein großes Ärgernis. Sie gefährden den demokratischen Vorwand, unter dem er seinen antiiranischen Stellvertreterkrieg gegen Assad führt.«

Todenhöfer hat mit Assad fünfmal gesprochen und die Ergebnisse seiner Gespräche mit Unterstützung der Bundesregierung ans Weiße Haus weitergeleitet. In seinem Buch schildert er, wie es zu diesen Gesprächen kam. Er straft damit aber auch all jene Lügen, die ihn bezichtigten, ein Freund oder gar Agent des syrischen Machthabers zu sein. Denn weitaus mehr Interviews als mit Assad führte er mit Rebellen, Angehörigen der demokratischen Opposition, islamistischen Verbündeten von Al-Qaida sowie Opfern des Krieges. Nach all diesen Gesprächen und intensiven Recherchen vor Ort kommt er zu dem Ergebnis: Die Weltöffentlichkeit sei im Syrienkonflikt vor allem durch folgende »Unwahrheiten« manipuliert worden: »Durch die Behauptung, in Syrien kämpfe wie in Tunesien, Ägypten und Libyen ein ganzes Volk gegen seinen Diktator. In Wirklichkeit kämpft lediglich eine oppositionelle Minderheit gegen eine zahlenmäßig mindestens ebenso große Anhängerschaft der Regierung. Während die ›schweigende Mehrheit‹ entsetzt zuschaut. Durch die Behauptung, die Rebellen kämpften für Demokratie. In Wirklichkeit kämpft die überwältigende Mehrheit der Rebellen für ein radikales islamistisches Kalifat. Durch die Behauptung, die geschätzten 100000 Toten des Krieges seien Opfer der staatlichen Sicherheitskräfte. In Wirklichkeit sind grob gerechnet ein Drittel der Toten Soldaten und Polizisten, ein Drittel Rebellen und ein Drittel Zivilisten. Für den Tod der Zivilisten könnten beide Seiten in etwa gleichem Maße Verantwortung tragen.«

»Massakermarketing«

Eine Reihe von Lügen, mit denen westliche Politiker und Medien die Bevölkerung auf eine kriegerische Intervention in Syrien vorzubereiten versucht haben, hat Todenhöfer vor Ort selbst aufgedeckt. In der umkämpften Stadt Homs trifft er auf einen 50jährigen Ingenieur, der als einer der einflußreichsten Helfer der Aufständischen gilt. Dieser erklärt ihm, »wie eng die Rebellen mit Al-Dschasira vernetzt seien. In Homs gebe es vier Satellitenstationen, über die man jede Nachricht direkt zur Sendezentrale des katarischen Nachrichtensenders übermitteln könne. In seinem Wohnzimmer standen mehrere TV-Geräte, über die er gleichzeitig Al-Dschasira, Al-Arabija und CNN empfangen konnte. Gerade berichtete Al-Dschasira über eine nur 200 Meter von seinem Haus entfernt stattfindende Demonstration. Wie groß die Demo sei, frage ich: ›Nur 50 Mann, alles Freunde, aber das sieht man im Fernsehen nicht‹, feixt er. Ich erkundige mich, wie kürzlich in der Weltpresse die Nachricht aufkommen konnte, in Homs finde eine humanitäre Katastrophe statt. Es gebe kaum noch zu essen und zu trinken und nur noch gelegentlich Strom. Zum Zeitpunkt dieser Meldung war ich in Homs gewesen. Die Stände des Wochenmarktes seien mit Lebensmitteln prall gefüllt gewesen. Der Rebellenfreund mit den guten Beziehungen zu Al-Dschasira schaut mich stolz, fast begeistert an. ›Habe ich das nicht gut gemacht? Ich habe diese Meldung gestreut.‹«

In der Regel, so Todenhöfer, gelangten von Rebellen verfaßte Nachrichten in die Schlagzeilen der Medien. Beide Seiten hätten grauenvolle Morde verübt. Doch wenn sie von Regierungstruppen begangen wurden, seien die Opferzahlen oft schamlos übertrieben worden. Das stellte er jedenfalls immer dann fest, wenn er die Vorfälle recherchierte. Todenhöfer bezeichnet die gängige Praxis der Aufbauschens von Opferzahlen als zynisches »Massakermarketing«, das seine Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht verfehle. Auch nicht bei ihm selbst: »Wenn ich über längere Zeit nur die von den Rebellen verbreiteten Berichte über die Untaten der Regierung lese, erfassen auch mich Zorn und Entsetzen. Ich kann mich dem gar nicht entziehen. Nach der zehnten Meldung auf Spiegel-, Bild- oder Süddeutsche-Zeitung-Online über die Greueltaten der syrischen Regierung gerät mein gesamtes, mühsam recherchiertes Syrienbild ins Wanken. Hat man mich vielleicht doch hinters Licht geführt? Irre ich mich, wenn ich sage und schreibe, daß sich beide Seiten völlig verrannt haben, daß beide Seiten erbarmungslos Gewalt anwenden? Erleben wir doch den edlen Aufstand eines ganzen Volkes gegen seinen blutrünstigen Diktator? Und nicht den von mir geschilderten Bürgerkrieg zwischen zwei etwa gleich starken Lagern?«

Seine eigenen Nachforschungen bestätigten jedoch immer wieder, daß mindestens die Hälfte der Nachrichten über Syrien falsch oder irreführend waren. »Auch ganz banale Meldungen waren falsch oder grotesk übertrieben. Einmal war nach westlichen Medienberichten mitten in Damaskus das Hauptquartier der Baath-Partei durch Granaten ›mutiger Rebellen‹ schwer beschädigt worden. Der Vorplatz war daraufhin angeblich von Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt. Trotz der Warnung von Freunden fuhr ich zum Ort des Geschehens. Wieder rieb ich mir verwundert die Augen. Der Kreisverkehr vor dem Parteigebäude war lebhaft wie immer. Vor dem Haus standen zwei freundliche Polizisten mit ihrem geparkten Motorrad. Ich fragte, wo die schweren Beschädigungen seien. Sie zeigten auf den Eingangsbereich. Dort wurden gerade Glasscheiben ausgewechselt. Ungehindert konnte ich das Gebäude betreten. Mitarbeiter berichteten mir, daß die Täter aus einem vorbeifahrenden Auto eine ›Lärmbombe‹ auf die Parteizentrale geworfen hätten. Der Schaden? Zwei zersplitterte Glasscheiben. Zwei Tage lang hatten Medien weltweit über diesen ›kühnen‹ Anschlag auf das Zentrum der Macht im Herzen von Damaskus berichtet.«

Der Stellvertreterkrieg

Todenhöfer sucht das offene Gespräch mit allen Seiten. Dabei scheut er auch die Auseinandersetzung nicht. Das ermöglicht ihm, ein genaueres Bild von der Lage zu gewinnen, als es meist von den Massenmedien, erst recht von den Politikern der verschiedenen Konfliktparteien, vermittelt wird. So läßt er sich von »dem alten Marxisten Abdulasis Al-Khair«, der neun Jahre unter Hafis Al-Assad und fünf Jahre unter dessen Sohn Baschar Al-Assad im Gefängnis saß, erklären, daß es in seinem Land drei große Oppositionsgruppierungen gebe. Darunter »die seit vielen Jahren in kleinen Parteien organisierte demokratische innersyrische Opposition. Sie setze auf Verhandlungen mit allen. Mit den Rebellen, aber auch mit der Regierung. Ihr gehörten nationalistische, linke, liberale, aber auch islamische Parteien an. Auch er. Leider seien sie im Ausland fast unbekannt. Wahrscheinlich, weil sie nur syrische, aber keine westlichen Interessen verträten. Sie seien jahrelang verboten gewesen. Im Westen hofiere man vor allem die Exilopposition, zum Beispiel den ›Syrischen Nationalrat‹ mit Sitz in Istanbul. Der aber spielte in Syrien keine Rolle. Er gelte als Erfindung des Westens. Erheblich einflußreicher seien die zahlreichen bewaffneten Rebellengruppen in Syrien. Sie erwarteten vom Westen Waffen. Manche auch eine militärische Intervention.«

Todenhöfers Gesprächspartner hält nicht viel von Assad, da dieser die Eskalation der Gewalt mit zu verantworten habe. Doch gebe es nur mit ihm die Chance eines friedlichen Übergangs zur Demokratie. Kaum jemand, so Todenhöfer, habe ihn in Syrien so beeindruckt wie dieser Marxist. »Ich wollte ihn unbedingt wiedersehen. Und wäre gerne sein Freund geworden. Doch im September 2011 wird Al-Khair nach einer Chinareise auf dem Weg vom Flughafen ins Stadtzentrum von Damaskus angehalten und entführt. Er ist nie wieder aufgetaucht. Regierung und Rebellen beschuldigen sich gegenseitig der Tat.«

Todenhöfer unterteilt den syrischen Konflikt in vier Phasen, deren erste von März bis Ende April 2011 dauerte und zunächst durch überwiegend friedliche Demonstrationen der Opposition charakterisiert war. Diese vertrat anders als in Tunesien, Ägypten und Libyen allerdings nicht die Mehrheit des Volkes, sondern eine starke Minderheit gegen eine relativ stabile Regierungsmehrheit. Schon im April dieses Jahres versorgten Katar und Saudi-Arabien Teile der Opposition mit Geld und Waffen. »Die beiden begannen, den demokratischen Aufstand in Syrien in Abstimmung mit den USA systematisch zu kidnappen und für eigene politische Ziele einzusetzen. Die Rebellen wurden zunehmend von außen gesteuert. In Phase zwei von Mai bis August 2011 traten immer mehr bewaffnete Kämpfer auf. Manche von ihnen waren Scharfschützen, die merkwürdigerweise auf beide Seiten schossen. Auf Demonstranten und Sicherheitskräfte. Sie heizten die Lage dramatisch auf. Daß es diese perversen, schießenden Provokateure in Syrien gab, ist unter Experten unstrittig.« Schon zu Beginn seien die Demonstrationen nicht immer so friedlich gewesen, wie häufig behauptet wurde. »Allein in den ersten vier Monaten des Aufstands starben über 400 namentlich registrierte Polizisten und Soldaten. Auch ungezählte Rebellen und Zivilisten verloren ihr Leben.«

In der dritten Phase, die von August bis Ende 2011 dauerte, hätten sich die bewaffneten Rebellen als Schutztruppen der friedlichen Demonstranten dargestellt, ohne diese Rolle je wirklich gespielt zu haben. Die Brutalität sei auf beiden Seiten gewachsen. »In der vierten Phase, die Anfang 2012 begann und bis heute andauert, wurde das Land mit Geld und Waffen überschwemmt. Ab März 2012 auch mit schweren Waffen. Dahinter stehen als Finanziers und Organisatoren weiterhin Katar und Saudi-Arabien und zunehmend auch westliche Staaten. Die USA geben politische Schützenhilfe. Nichts geschieht ohne ihre Billigung. Offiziell sprechen sie sich gegen ›militärische Interventionen‹ des Westens aus, obwohl sie über ihre Stellvertreter seit langem intervenieren.«

Die Widerstandsfront stelle sich Mitte 2013 wie folgt dar: Es gebe 100000 bewaffnete Rebellen, von denen es sich bei über 80 Prozent um religiös motivierte Extremisten unterschiedlicher Richtungen handle. Unter ihnen befänden sich mehrere tausend ausländische »Dschihadisten« aus Libyen, Tunesien, Jordanien, dem Irak und auch aus Europa. Mindestens 15000 der extremistischen Rebellen zählten sich zur Al-Nusra-Front, die Al-Qaida-Chef Aiman Al-Sawahiri direkt unterstehe. Die »Freie Syrische Armee« habe dagegen höchstens noch 20000 Kämpfer.

Humanistische Haltung

Todenhöfers konsequente Haltung gegen jenen organisierten Massenmord, den wir Krieg zu nennen gewohnt sind, prägt die Art und Weise, wie er den Menschen vor Ort begegnet. Ob in Syrien, Afghanistan, Libyen oder Ägypten: Er ist stets bemüht, möglichst mit Repräsentanten, Anhängern und Opfern aller Parteien zu reden. In seinem Buch schildert er Gespräche mit einem hochrangigen Talibansprecher, Al-Qaida-Kämpfern, Angehörigen der »Freien Syrischen Armee« sowie der Truppen Baschar Al-Assads, iranischen Mullahs, dem Chefkoordinator der US-Geheimdienste, Admiral Dennis Blair, oder dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai. Die aus seiner Zeit als CDU-Politiker und stellvertretender Vorstand im Burda-Konzern stammenden Kontakte und das in dieser Zeit erworbene Vermögen werden ihm dabei manches Gespräch erst ermöglicht, die häufigen Reisen erleichtert und den Grundstock für sein soziales Engagement geliefert haben.

Die Vielfalt an geschilderten Perspektiven, der eingefangenen Stimmen, macht sein Buch zu einem einzigartigen Zeitdokument mit literarischen Qualitäten. Die Art und Weise, wie Todenhöfer, der als Kleinkind die Zerstörung Hanaus und als Student den Algerienkrieg erlebte, immer wieder in blutige Auseinandersetzungen, dramatisch zugespitzte Situationen und zuweilen welthistorisch bedeutsame Ereignisse gerät, erinnert ein wenig an Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens 1668 erschienenen »Abenteuerlichen Simplicissimus«. So wie jene, die sich für den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) interessieren, heute noch das Werk von Grimmelshausen zur Hand nehmen, werden künftige Generationen Todenhöfers Buch zu Rate ziehen, wenn sie sich ein umfassendes Bild von den gegenwärtigen Kriegen und Krisen in der vom imperialistisch agierenden Westen bedrohten muslimischen Welt machen wollen.

Sein Insistieren darauf, daß in fast allen politischen Konflikten, die heute zu Kriegen führen, mehr Verhandlungsmöglichkeiten vorhanden sind, als die Politiker wahrnehmen wollen, mag manchem als naiv erscheinen. Doch es ist die hierin zum Ausdruck kommende Haltung, die manche mit Einfalt verwechseln, die seinem Buch eine besondere Qualität verleiht. Statt sich auf die unangreifbare Position des zynischen Beobachters des vermeintlich Unabänderlichen zurückzuziehen, ist Todenhöfer dünnhäutig geblieben, ohne unter dem Eindruck vielfachen Schreckens den Verstand auszuschalten. Nachdrücklich verfolgt er ein Ziel, das er selbst wie folgt beschreibt: »Wir haben die Sklaverei, die Hexenverbrennung, den Kolonialismus, den Rassismus und die Apartheid überwunden. Wenn es uns gelingt, auch noch den Krieg zu ächten, hat die Menschheit einen großen Schritt nach vorne getan.« Sein Schreiben genügt dem Anspruch, den der Dichter Peter Hacks als den Zweck der Kunst formulierte. Dieser sei eben nicht die bloße Nachricht über die Wirklichkeit. »Der Zweck der Kunst ist Nachricht über eine Haltung, die man der Wirklichkeit gegenüber einnehmen kann.«

Jürgen Todenhöfer: Du sollst nicht töten - Mein Traum vom Frieden. Bertelsmann Verlag, München 2013, 448 Seiten, 19,99 Euro

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Oktober 2013


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