Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogan: Korridore - sofort!

Ankara appelliert an Damaskus zur Versorgung der Zivilbevölkerung *

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat die syrische Führung aufgefordert, Hilfsorganisationen umgehend die Versorgung der Zivilbevölkerung zu ermöglichen.

Es müssten »sofort Korridore für den Transport humanitärer Hilfe« geöffnet werden, sagte Erdogan am Dienstag (6. März) vor Abgeordneten seiner religiös-konservativen Regierungspartei AKP in Ankara. Zudem müsse die internationale Gemeinschaft den Druck auf Damaskus erhöhen, um die Gewalt gegen Zivilisten in Syrien zu stoppen. Erdogan kritisierte dabei das Zögern bestimmter Staaten, gegen die »Gräueltaten« in Syrien vorzugehen. Dies ermutige die Führung in Damaskus, noch brutaler gegen die Opposition zu agieren, sagte der Premier. Im Sicherheitsrat scheiterte eine Verurteilung der Gewalt in Syrien bisher am Veto Russlands und Chinas. Die syrische Armee hatte zuletzt mehrere Hochburgen der Protestbewegung im Land angegriffen. Die Führung in Damaskus weigert sich jedoch, Hilfsorganisationen wie etwa das Rote Kreuz in zerstörte Gebiete zu lassen, um die Verletzten zu versorgen.

Unterdessen schreitet die Spaltung der syrischen Armee offenbar immer mehr voran. In Foren der Protestbewegung wurden am Dienstag Namen und Wohnorte vermeintlicher »Mörder«, »Plünderer« und »Verräter« unter den Offizieren veröffentlicht.

Gleichzeitig verbreiteten Oppositionelle ein Video, das angeblich alawitische Deserteure zeigt, die sich der aus Fahnenflüchtigen bestehenden »Freien Syrischen Armee« anschließen. In dem Video, dessen Echtheit nicht überprüft werden konnte, fordert der Anführer der Gruppe die Alawiten in den syrischen Streitkräften zur Fahnenflucht auf. Präsident Baschar al-Assad, zahlreiche führende Kommandeure der Sicherheitskräfte und die Mitglieder der sogenannten Schabiha-Milizen gehören der Minderheit der Alawiten an.

Unterdessen forderte US-Senator John McCain einen Luftangriff auf Syrien. Das sei »der einzig realistische Weg«, um dort das »Gemetzel zu stoppen und unschuldige Leben zu retten«, sagte der prominente Politiker US-amerikanischen Medienberichten zufolge am Montag (Ortszeit) im US-Senat. Mit dem militärischen Eingreifen, angeführt von den USA, solle die syrische Opposition unterstützt werden, verlangte der Präsidentschaftskandidat der Republikaner von 2008. Für die Opposition müssten im Norden des Landes Rückzugsgebiete geschaffen werden, wo sie ihre politischen und militärischen Kräfte gegen das Regime von Machthaber Baschar al-Assad sammeln könnten.

* Aus: neues deutschland, 7. März 2012


Differenzen

Kriegsszenarien für Syrien **

Berliner Regierungsberater debattieren Kriegsszenarien für eine mögliche westliche Militärintervention in Syrien. Wie es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt, zeichne sich inzwischen ein »umfassender Bürgerkrieg« in dem Land ab, der »auch entlang konfessioneller Linien« verlaufe. Damit steige der Druck auf den Westen, militärisch zu intervenieren. Während Nahostexperten dringend raten, einen Streitkräfteeinsatz zu vermeiden und sämtliche Waffenlieferungen an die Aufständischen zu unterbinden, spricht sich ein Fachmann für »Sicherheitspolitik« für eine deutsche Beteiligung an einem Waffengang aus.

Aufgrund offenkundiger interner Differenzen hat die SWP im vergangenen Monat zwei durchaus unterschiedliche Stellungnahmen zur Frage nach einem möglichen Militäreinsatz der NATO in Syrien vorgelegt. Muriel Asseburg und Heiko Wimmen von der für Nahost zuständigen Forschungsgruppe konstatieren in SWP-Aktuell 12 (»Der gewaltsame Machtkampf in Syrien. Szenarien und Einwirkungsmöglichkeiten der internationalen Gemeinschaft«) zunächst, die Gewalt habe »dramatisch zugenommen«. Trotz immer wiederholter gegenteiliger Behauptungen habe man festzuhalten, daß »die Spitzen und das Gros des nach wie vor schlagkräftigen Sicherheitsapparats« weiter »loyal zum Regime« stünden. Die Aufständischen verübten zwar »immer wieder Anschläge auf Sicherheitskräfte, Armee und Geheimdienst«, stellten aber sicherlich »keine ernstzunehmende Herausforderung« für Damaskus dar, nicht zuletzt, weil sie ein »Sammelbecken auch krimineller Elemente und in lokale Rebellengruppen zersplittert« seien. Die Opposition sei »gespalten und (…) nicht geeint handlungsfähig«; das gelte, obwohl die Wirtschaftssanktionen die Lebenssituation der Bevölkerung schwer beeinträchtigten, auch für den Syrischen Nationalrat, den nur ein Teil der Einwohner unterstütze. Insbesondere werde eine ausländische Militärintervention, wie sie jüngst aus dem Nationalrat gefordert worden ist, »von vielen Syrern kategorisch abgelehnt«.

Asseburg und Wimmen listen in ihrer Kurzanalyse verschiedene Szenarien für die Entwicklung in Syrien auf. Demnach ist nicht auszuschließen, daß das Assad-Regime sich an der Macht halten kann; ebenso möglich sei aber der Übergang in einen umfassenden Bürgerkrieg, der »sehr wahrscheinlich entlang konfessioneller Linien ausgefochten« werde. Dabei stünden Sunniten gegen Alewiten und Christen. Das Gewaltpotential eines solchen Bürgerkriegs zeigt die Befürchtung von Beobachtern, daß die Zahl syrischer Flüchtlinge nach einem Sturz Assads in die Hunderttausende gehen könne. Die Nahostexperten mahnen daher, der Westen müsse alles tun, um eine Eskalation zu vermeiden; insbesondere müsse man Waffenlieferungen an die Aufständischen unbedingt unterbinden, weil »eine weitere Militarisierung des Aufstandes (…) das militärische Kräfteverhältnis kaum entscheidend verändern, jedoch die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung weiter in die Höhe treiben« werde. Die Autoren raten dazu, nicht militärisch zu intervenieren, sondern eine Isolation des Regimes auch innerhalb Syriens voranzutreiben – um es letztlich zur »Implosion« zu bringen. Freilich drohe auch hier das Abgleiten in einen gänzlich unkontrollierbaren Bürgerkrieg.

Grundsätzlich offen für militärische Interventionen der NATO gibt sich Markus Kaim, Leiter der SWP-Forschungsgruppe »Sicherheitspolitik«. Der Westen habe mit der Forderung, Assad müsse auf jeden Fall zurücktreten, seinen Handlungsspielraum »eingeengt«, deshalb sei er faktisch an einen »Regime change« gebunden, urteilt der Autor in SWP-Aktuell 11 (»Die Krise in Syrien. Möglichkeiten und Grenzen militärischen Eingreifens«). Ein Kriegseinsatz sei, sofern er durch diplomatische Aktivitäten begleitet werde, »nicht das Ende oder gar das Versagen von Politik«, sondern vielmehr »ihr essentieller Bestandteil«. Äußerungen von UN-Vertretern, laut denen es sich beim Vorgehen der syrischen Regierung um ein »Verbrechen gegen die Menschheit« handle, eröffneten prinzipiell die Möglichkeit, auch ohne Mandat des Sicherheitsrates zu handeln.

Der Autor listet fünf militärische Szenarien auf, die ihm zufolge »in der Wirklichkeit nicht so trennscharf abzugrenzen« wären. Sie reichen von direkter Unterstützung für die Aufständischen über die Einrichtung einer sogenannten Schutzzone auf syrischem Territorium – faktisch ist dies gleichbedeutend mit der Besetzung eines Teils des Landes – bis zu Kampfhandlungen der NATO. Die Entwicklung werde aller Voraussicht nach »der Libyen-Operation ähneln«: »Zuerst verdeckte Spezialoperationen, um die militärische Infrastruktur des Regimes zu schädigen«, außerdem »Angebote an hohe Vertreter des syrischen Militärs, die Seiten zu wechseln; daneben Ausbildung und Ausrüstung« der Aufständischen, »wohl nicht direkt, sondern über Verbündete in der Region« und danach dann die Einrichtung der erwähnten Schutzzonen. Der offene Krieg wäre damit nicht mehr zu vermeiden. Deutschland müsse sich an einem Angriff auf Syrien- beteiligen, und das nicht nur »symbolisch«.

(german-foreign-policy.com/jW)

** Aus: junge Welt, 7. März 2012


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Türkei-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zurück zur Homepage