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Regierungsmitglied in Syrien übergelaufen

Vize-Ölminister: Ich verlasse das sinkende Schiff *

Erstmals seit Beginn der Revolte vor einem Jahr ist ein ranghohes Mitglied der syrischen Regierung zu den Aufständischen übergelaufen. Die USA wollen diese künftig mit »nichtmilitärischem Material« beliefern.

Syriens Vize-Ölminister Abdo Hussameddin hat in der Nacht zu Donnerstag seinen Rücktritt angekündigt und seinen Kollegen geraten, ebenfalls »das sinkende Schiff« zu verlassen. »Ich, der Ingenieur Abdo Hussameddin, stellvertretender Ölminister (...) kündige hiermit meine Abkehr vom Regime und meinen Rücktritt an«, sagte Hussameddin. Er schließe sich nun der Revolution des Volkes an, »das die Ungerechtigkeit und die brutale Kampagne des Regimes zurückweist«.

Er habe 33 Jahre lang für die syrische Regierung gearbeitet und wolle nicht im Dienst eines »kriminellen Regimes« enden. Er sei sich durchaus bewusst, dass seine Entscheidung Folgen haben werde. »Dieses Regime wird mein Haus niederbrennen, meine Familie verfolgen und Lügen verbreiten«, sagte er. Trotzdem sollten all seinen Kollegen seinem Beispiel folgen. Ein Aktivist namens Rami, der das Video nach eigenen Angaben drehte und ins Internet stellte, sagte AFP in der libanesischen Hauptstadt Beirut, die Opposition habe dabei geholfen, Hussameddins Untertauchen zu organisieren. Die syrische Opposition begrüßte Hussameddins Übertritt. »Ich bin mir sicher, dass andere Regierungsmitglieder und Politiker das gleiche tun werden« sagte der Chef des Syrischen Nationalrates, Burhan Ghaliun. »Das Regime hat sie in den vergangenen 50 Jahren in ferngesteuerte Roboter verwandelt.« Der Aufstand werde sie aber wecken.

US-Verteidigungsminister Leon Panetta kündigte unterdessen im US-Senat an, die Aufständischen mit nichtmilitärischem Material, etwa Kommunikationsmitteln, versorgen zu wollen. Einseitigen Militäraktionen erteilte er aber eine Absage. US-Generalstabschef Martin Dempsey erklärte aber, es seien im Auftrag des Weißen Hauses bereits Pläne für eine mögliche militärische Intervention erarbeitet worden. Möglich seien die Errichtung einer Flugverbotszone, »begrenzte Luftangriffe« oder eine Seeblockade.

Der Sonderbeauftragte der UNO und der Arabischen Liga für Syrien, Kofi Annan, warnte vor einer weiteren »Militarisierung« des Konflikts. Dies könne die Situation weiter verschlimmern, sagte er nach einem Treffen mit dem Chef der Arabischen Liga, Nabil al-Arabi, in Kairo. Der frühere UN-Generalsekretär will am Samstag nach Syrien reisen. Derzeit befindet sich bereits die UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos zu einem dreitägigen Besuch in Syrien. Am Mittwoch hatte sie die lange zwischen Armee und Rebellen umkämpfte Stadt Homs besucht.

* Aus: neues deutschland, 9. März 2012


Spezialcamp in Libyen

Rußland wirft NATO-gestützter Führung in Tripolis Ausbildung syrischer Rebellen vor. US-Präsident Obama läßt Optionen für Militärintervention prüfen **

Vor einem Jahr haben sich NATO-Staaten und arabische Verbündete nach einer Resolution des UN-Sicherheitsrats ermächtigt, in Libyen militärisch auf seiten der Aufständischen zu intervenieren. Mittlerweile werden in dem ölreichen nordafrikanischen Land offensichtlich Syrer für den nächsten gewaltsamen »Regime change« trainiert. Darauf verwies Rußlands UN-Botschafter Witali Tschurkin am Mittwoch (7. März)) im Weltsicherheitsrat. Ihm lägen Informationen über ein von den libyschen Behörden geduldetes Lager vor, in dem »syrische Aufständische« geschult und für Angriffe gegen die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad nach Syrien geschickt würden, erklärte der Moskauer Spitzendiplomat. Dies sei »vollkommen inakzeptabel«. Sein Land sei außerdem besorgt über die »unkontrollierte Verbreitung von libyschen Waffen in der Region«.

Der Sitzung des UN-Sicherheitsrats wohnte auch der Chef der libyschen Übergangsregierung, Abdel Rahim Al-Kib, bei. Zu den russischen Vorwüfen schwieg er sich allerdings aus. Wenige Stunden zuvor hatte er in einer Rede am Internationalen Friedens­institut in New York allerdings erklärt, sein Land unterstütze die syrische Opposition finanziell.

Rußlands UN-Botschafter forderte auf der – medial wenig beachteten – Sitzung zudem von der NATO eine Entschuldigung für den Tod von Zivilisten bei den Luftangriffen auf Libyen im vergangenen Jahr. Der dank der Militärintervention ins Amt gekommene Libyer Al-Kib kritisierte Tschurkin scharf. Dazu habe es bereits – in Zusammenarbeit mit der NATO – eine umfassende Untersuchung gegeben. Er warnte Rußland vor »politischer Propaganda«. Auch die UN-Botschafter der USA, Frankreichs und Deutschlands wiesen den Vorwurf, die NATO habe Opfer unter den Zivilisten leichtfertig in Kauf genommen, entschieden zurück. Die Vorwürfe sind »haltlos«, sagte US-Botschafterin Susan Rice. Die Mär vom »hochpräzisen Einsatz« wies wiederum der chinesische Botschafter zurück.

Für Syrien fordert die Volksrepublik einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Gesprächen. Pekings Sondergesandter Li Huaxin traf sich während seines Besuchs in Syrien in den vergangenen Tagen sowohl mit Vertretern der Regierung als auch der Opposition.

US-Präsident Barack Obama läßt derweil Optionen für den nächsten »Präzisionskrieg« prüfen. Im Pentagon werden für eine Intervention in Syrien etwa humanitäre Missionen, die Überwachung der Seewege, Flugverbotszonen und begrenzte Luftschläge durchgespielt, sagte US-Generalstabschef Martin Dempsey am Mittwoch vor dem Verteidigungsausschuß des Senats. All das sei aber noch nicht mit Obama direkt, sondern mit dessen Sicherheitsberatern diskutiert worden. Außerdem gebe es noch keine Detailplanung. Verteidigungsminister Leon Panetta warnte in derselben Anhörung jedoch vor einem militärischen Eingreifen, da es den Bürgerkrieg verschlimmern könnte.

Über das Internetportal youtube wurde am Donnerstag unterdessen ein Video verbreitet, in dem der stellvertretende syrische Ölminister Abdo Husameddine aus Protest gegen das gewaltsame Vorgehen des Assad-Regimes seinen Rücktritt erklärt. Seinen Kollegen riet er, ebenfalls »das sinkende Schiff« zu verlassen.

** Aus: junge Welt, 9. März 2012


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