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An allen Fronten zerrieben

Syrien: Al-Nusra-Front zunehmend geschwächt. Hastiger Rückzug aus Kleinstadt Kassab

Von Gerrit Hoekman *

Anfang der Woche haben die syrischen Regierungstruppen nach langer Belagerung die Stadt Kassab zurückerobert und die Islamisten der Al-Nusra-Front in die Flucht geschlagen. »Sicherheit und Stabilität sind wieder hergestellt«, zitiert die libanesische Tageszeitung As-Safir einen Sprecher der Armee.

Ende März hatten die Rebellen des syrischen Ablegers der Al-Qaida einen Angriff gegen die im Norden gelegene Hafenstadt und Assad-Hochburg Lattakia gestartet. Diese Offensive nannten sie »Al-Anfal« – nach der Sure im Koran, die von der Schlacht Mohammeds gegen seine Widersacher aus Mekka im Jahr 624 erzählt. Der so ideologisch aufgewertete Vorstoß sollte dem schlecht laufenden Aufstand gegen die Regierung in Damaskus eine neue Wende geben und den Islamisten einen Zugang zum Mittelmeer verschaffen. Die Rebellen überrannten zwar zunächst die überwiegend von Armeniern bewohnte Kleinstadt Kassab an der türkischen Grenze, doch die syrische Armee konnte den Vormarsch danach schnell stoppen.

Einheiten der Schiitenmiliz Hisbollah sollen die Syrer bei der Rückeroberung unterstützt haben, schreibt die Tageszeitung The Daily Star Lebanon. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte bestätigt die Einnahme von Kassab: »Die Kämpfer der Al-Nusra-Front und alliierter islamischer Bataillone ziehen ab.« Während des Angriffs der syrischen Armee hatte die Türkei ihre Truppen in Alarmbereitschaft versetzt, um zu verhindern, daß die Aufständischen über die Grenze fliehen. Das soll bei der Eroberung im März durch die Al-Nusra-Front noch anders gewesen sein. Damals berichteten Einwohner, die Rebellen hätten die Stadt von der Türkei aus kommend angegriffen. Ankara hat das bestritten.

Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur SANA sind bereits die ersten 250 Familien nach Kassab zurückgekehrt. Sie waren vor drei Monaten aus Angst vor den Islamisten geflüchtet. Rund 70000 Armenier lebten vor dem Krieg in Syrien, viele sind inzwischen ins Ausland geflohen. Die Gegend um Kassab ist als Sommerfrische beliebt, viele zu Geld gekommene Syrer haben sich auf den sanften, bewaldeten Hügeln über dem Mittelmeer niedergelassen.

Was letztendlich zum überraschend hastigen Abzug der Aufständischen aus Kassab geführt hat, ist unklar. Vielleicht spielt der Rücktritt von neun Rebellen-Kommandanten an unterschiedlichen Fronten in Syrien eine Rolle, die damit gegen die angeblich ungerechte Verteilung von Waffen protestierten. Wahrscheinlicher ist aber, daß die Al-Nusra-Front die Kämpfer dringend im Osten des Landes braucht, wo der »Islamische Staat in Syrien und in der Levante« (ISIL bzw. ISIS) immer unverhohlener die Macht und auch die Ölquellen an sich reißt. Nach Informationen der Tageszeitung As-Safir zieht ISIL in der Gegend schwere Waffen zusammen, die er im Irak erbeutet hat.Unklar ist, ob der »Islamische Staat« eine neue Offensive gegen die Al-Nusra-Front vorbereitet hat oder die Beute nur vor möglichen Luftangriffen im Irak schützen will, darunter angeblich auch erst kürzlich an Bagdad gelieferte amerikanische Panzer.

Die Dinge stehen im Moment jedenfalls nicht gut für die Al-Nusra-Front, die zwischen der syrischen Armee im Westen, ISIL im Osten und den kurdischen Peschmerga im Norden zerrieben wird. Sowohl in Aleppo, Idlib und in Deir ez-Zor ist der Einfluß des syrischen Arms der Al-Qaida stark gesunken. »Mit Ausnahme von Daraa, wo sie als die Hauptmacht angesehen werden kann, ist die Kontrolle der Al-Nusra-Front auf einige Gebiete um Hama und Homs begrenzt«, beurteilt As-Safir die Lage der Islamisten.

Bislang hat sich die syrische Armee auf die Al-Nusra-Front konzentriert, ISIL griff sie nur hin und wieder an. Doch seitdem der »Islamische Staat« mit brachialer Gewalt und hoher Geschwindigkeit durch den Irak pflügt, hat Syrien offenbar seine Taktik geändert. In der vergangenen Woche habe die Luftwaffe mehrmals ISIL-Stellungen in den Provinzen Hasakeh und deren Hochburg Raqqa bombardiert, berichtet The Daily Star Lebanon.

* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Juni 2014


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