Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zu Hause im Feindesland

Wie die Drusen Sweidas sich trotz Syrienkrieges behaupten

Von Karin Leukefeld, Sweida *

Das Land der Drusen verändert sich im Syrienkrieg. Moscheen werden gebaut, Kontrollpunkte errichtet und viele verlieren ihr Zuhause.

»Einen Moment bitte, ich muss hören, was dort gesagt wird.« Schafik Hamze unterbricht das Gespräch und öffnet das Fenster. Durch das Wohnviertel fährt ein Lautsprecherwagen und wiederholt eine Ansage. Die Bevölkerung wird über den Tod von vier jungen Männern informiert, sagt die scheppernde Stimme durch die alte Anlage. Sie seien im Kampf für die Heimat gefallen, die Bewohner von Sweida, insbesondere diejenigen, die sie gekannt hätten, sollten kommen und ihnen die letzte Ehre erweisen. Dann werden die Namen genannt, die Beerdigung soll am Nachmittag stattfinden. »Ich werde dort hingehen«, sagt Herr Hamze und schließt das Fenster. »Einer der Toten gehörte zu unserer Familie.«

Schafik Hamze ist der Älteste einer angesehenen Drusenfamilie, die im 18. Jahrhundert aus Libanon kam und sich in Sweida ansiedelte. Seine Vorfahren bestellten das Land um den kleinen Ort Era, der nur wenige Kilometer von der Grenze zur Provinz Deraa entfernt liegt. Im Sommer 2013 war Hamze entführt worden, konnte mit einem Mitgefangenen aber fliehen. Mit ihrem bisherigen Leben war es danach vorbei für ihn und seine deutsche Frau Gabriele. Ihr Haus, das in einem großen Olivenhain lag, wurde von Kämpfern besetzt und in ein Waffenlager verwandelt. Aus seiner Heimat wurde Feindesland.

Nach Monaten der Unsicherheit fanden die Hamzes ein neues Heim. Regelmäßig besuchen sie die Inlandsvertriebenen, die in verschiedenen Ortschaften der Provinz Sweida Zuflucht gefunden haben. Sie helfen mit Medikamenten, Kleidung und Nahrungsmitteln. Doch die Not ist groß.

Die Syrer sind für ihre Hilfsbereitschaft bekannt. Mehr als 1000 private und religiöse Stiftungen und Vereine helfen den Mitmenschen nicht erst seit Ausbruch des Krieges in Syrien vor drei Jahren. Der »Arbeitskreis deutschsprachiger Frauen in Damaskus« – in dem sich Deutsche, Österreicherinnen und Schweizerinnen zusammengeschlossen hatten – half seit Jahren bei Härtefällen. Beim alljährlichen Weihnachtsbasar konnte die Spendenkasse aufgefüllt werden. Viele der Frauen haben Syrien verlassen, sie helfen jetzt aus der Ferne. Heike Weber und Gabriele Hamze sind in Syrien geblieben. An diesem Tag besuchen sie die Familie Raschid in Salkhat, der bei der Fertigstellung ihres Hauses geholfen worden war. Mit großem Hallo werden sie begrüßt, als sie mit ihrem Wagen in die Einfahrt einbiegen.

Salkhat liegt in der Provinz Sweida wenige Kilometer von der jordanischen Grenze entfernt. Eng schmiegen sich seine Häuschen an einen hohen Felsen, der majestätisch aus der Hochebene hervorragt. Drusen und Christen leben hier seit Jahrhunderten friedlich von ihrer Hände Arbeit. Sie bearbeiten das Land, sind Handwerker, die Frauen gelten als Künstlerinnen traditioneller Handarbeiten. Alle drei Töchter der Familie Raschid hatten bis 2011 Arbeit bei ANAT, Heike Webers international bekanntem Frauenprojekt. Der Krieg hat die Arbeiterinnen in alle Himmelsrichtungen vertrieben. Die Arbeit, die Weber in 30 Jahren aufgebaut hatte, musste eingestellt werden.

Für den Garten hat sie eine Aloe-Vera-Pflanze mitgebracht, die der Sohn der Familie gleich einsetzt. Auf der Terrasse vor dem Haus wird erfrischender Saft serviert, ein kühler Wind weht von der Hochebene herüber. In der Ferne ragt nahe der Grenze der Berg Abed Mar auf. Hier ist ein Mazaar, ein Schrein, zu dem die Drusen pilgern, erzählt Jasmin, die Schwiegertochter. Lange haben die alten Bekannten sich nicht gesehen, viel gibt es zu erzählen. Salkhat sei ruhig, Kämpfe gebe es hier nicht, erzählt Frau Raschid. »Kommt doch hierher und wohnt hier, bis alles vorbei ist«, lädt sie ein. Schweigend blickt die kleine Gesellschaft auf die neue Moschee, die am Ortsrand entstanden ist. Nur wenige Leute würden dorthin gehen, sagt Frau Raschid. Drusen und Christen hätten ihre eigenen Gebetsräume. Gebaut worden sei sie von einem Geschäftsmann aus Idlib. In den letzten Monaten seien einige Leute aus Idlib und Hama gekommen, die vor dem Krieg geflohen seien. Sie hätten Land gekauft, bauten Häuser, doch kenne man die Leute nicht. Eine Moschee habe es seit Menschengedenken hier nicht gegeben, murmelt Frau Raschid. Die Fremden sind ihr nicht geheuer.

Christen und Drusen haben den bewaffneten Aufstand nicht unterstützt. Auch wenn man viel an der Regierung zu kritisieren hat und so manch einer sich in den Reihen der politischen Opposition verortet, ging es den Leuten in Sweida nie darum, die Regierung zu stürzen. Viele engagieren sich in Versöhnungskomitees und helfen den Vertriebenen. Die jungen Männer dienen in der Armee des Landes, das ihnen seit seiner Unabhängigkeit 1946 wenig politische Freiheiten, aber immer Schutz gewährt hat.

Nun rücken die Kämpfer der Nusra-Front und des Islamischen Staates (in Irak und in der Levante) den Menschen in Sweida näher. Über das Dreiländereck Syrien-Irak-Jordanien schmuggeln sie Waffen durch die Badia, die Wüste, in die östliche Ghouta von Damaskus. Und aus Jordanien rücken Kämpfer über die UN-Pufferzone des Golan in Richtung Qunaitra vor. Aus den Grenzgebieten zur Provinz Deraa werden die Menschen vertrieben, Unbekannte aus den Golfstaaten kaufen in und um Sweida Land, Häuser schießen wie Pilze aus dem Boden.

In den Kampfgebieten werden Christen, Schiiten, Alawiten, Jesiden und Ismaeliten von Gotteskriegern ermordet. Die berufen sich auf Ibn Taymiyyah, der im 13. Jahrhundert lebte und heute als Urvater der Salafisten gilt. Sie bilden den Kern der Kampfverbände in Syrien, die unter der Fahne des Islams Terror verbreiten. In einer seiner Schriften bezeichnete der islamische Rechtsgelehrte die Drusen als »Ungläubige, deren Essen man nicht essen darf und deren Frauen man entführen kann«. Ihr Geld könne man ihnen abnehmen, und wenn sie sich widersetzen sollten, dürfe man sie töten. 800 Jahre ist das her – jetzt könnte das Mittelalter nach Sweida und nach Syrien zurückkehren.

Über Mittagessen und Tee ist es spät geworden. Die beiden Frauen verabschieden sich von den Raschids und fahren von Salkhat entlang der Grenze zu Jordanien in Richtung Westen. Rechts und links erstreckt sich die karge Hochebene, die östlich von Salkhat zur Badia, zur Wüste, wird. Hier leben die Beduinen mit ihren Viehherden. Ihre Wanderkultur steht im Gegensatz zur Kultur der Drusen, die sesshaft sind und den Boden bearbeiten. Durch die unterschiedliche Lebensweise gibt es zwischen beiden öfter Konflikte. Als Grenzgänger von Irak bis Saudi-Arabien haben die Beduinen Kontakte zu allen Seiten. Gegen Bezahlung schmuggeln sie Menschen und Waffen oder verkaufen Informationen.

Die wenigen Ortschaften liegen verlassen, abseits der Straße erinnern Grabstätten an Gefallene. Manche sind frisch, andere stammen aus den 1970er Jahren, als Syrien gegen die israelische Besetzung des Golan kämpfte. An einer Kreuzung stoppt der Verkehr, Militär und lokale Milizen haben einen Kontrollpunkt errichtet. Richtung Süden geht es nach Dibbin, ein christlicher Ort, hinter dem ein kleiner, ursprünglich nur militärisch genutzter Grenzübergang nach Jordanien führt. Nach Norden erstreckt sich, soweit das Auge reicht, ein Lastwagenstau. Seit die Transitstrecke von Damaskus über Deraa nach Jordanien zu unsicher geworden ist, verläuft die Alternativroute hier durch das Drusengebiet. Einen Tag habe er gewartet, ruft ein Fahrer herüber, der mit seiner Fracht aus Tartus gekommen ist. Nun hoffe er, in einer halben Stunde die Grenze passieren zu können. In Richtung Westen ist die Landstraße gesperrt. Nur wenige Kilometer von hier beginnt die Provinz Deraa, für die Menschen von Sweida heute ein Feindesland.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 19. August 2014


Das Herz des Widerstandes

Ein Blick auf die Geschichte des Landes macht deutlich: Ohne Drusen kein Syrien. Die Bevölkerungsgruppe fühlt sich bis heute dem Land eng verbunden.

Von Karin Leukefeld, Sweida **


Zur Unabhängigkeit Syriens haben die Drusen viel beigetragen. 1925 war Sweida das Herz eines Aufstandes gegen die französische Mandatsmacht, die – nach dem Motto »teile und herrsche« – das Land schon damals in kleine Staaten und Stadtstaaten aufteilen wollte. Die Drusen lehnten das Angebot eines »Drusenstaates« ab, sie wollten Unabhängigkeit für ganz Syrien. Von der Küste bis zum Arabischen Berg (Jebl Arab) bei Sweida kämpften Tausende mit Sultan Pasha al-Atrasch, dem legendären Drusenführer. Die Franzosen setzten die Luftwaffe ein und schlugen den Aufstand 1927 nieder. Sultan Atrasch floh nach Jordanien und kehrte 1937 wieder nach Sweida zurück.

Der 1885 in Al-Qurayya geborene Atrasch wurde an der Osmanischen Militärakademie in Istanbul ausgebildet. 1913 war sein Vater Zuqan, ein entschiedener Gegner der Osmanen, von diesen gehenkt worden, Pasha al-Atrasch übernahm die Führung seiner Familie. 1915 desertierte er aus der osmanischen Armee und schloss sich dem arabischen Widerstand gegen die Osmanen an. Er nahm Kontakt zur arabischen Nationalbewegung in Mekka auf, zwischen 1916 und 1918 war er Offizier der arabischen Armee unter der Führung von Sherif Husein. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches 1918 schloss Atrasch sich dem neuen König von Syrien, Faisal I., an.

Den ersten unabhängigen syrischen Regierungen von Schukri al-Quwatli und Adib al-Shishakli stand Atrasch kritisch gegenüber. Letzteren kritisierte er besonders für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Verhaftung von politischen Aktivisten. In politischen Tumulten Mitte der 1960er Jahre wurde Atrasch unter Hausarrest gestellt. Erst mit der Machtübernahme von Hafez al-Assad versöhnte sich der alte Revolutionär mit der syrischen Regierung. Sein Sohn Mansur wurde hoher Funktionär der Baath-Partei. Assad bezeichnete Atrasch respektvoll als »Verteidiger der syrischen Unabhängigkeit«. Sein Mausoleum steht in seinem Geburtsort Al-Qurayya, unweit der Grenze zu Jordanien.

Angesichts der allgemeinen Verunsicherung in Syrien und in den Nachbarstaaten erinnert man sich in Sweida an alte Pläne Israels, das 1967 versucht hatte, die Drusen auf seine Seite gegen Damaskus zu ziehen: Israel könne den gesamten Golan und den Süden Libanons und Syriens besetzen, wenn die dort lebenden Drusen es unterstützen würden. Im Gegenzug könnten die Drusen in dem besetzten Gebiet einen eigenen Staat bilden. Die Ablehnung kam prompt. »Die Drusen in Libanon und in Syrien haben sich ihren Nationen und nationalen Streitkräften verpflichtet«, hieß es in einer Erklärung. »Wir sind nicht die Grenzwächter von Israel, wir sind das Herz des Widerstandes.«

Daran hat sich bis heute nichts geändert. In einem aktuellen Interview mit der libanesischen Zeitung »Al-Akhbar« erklärte das geistliche Oberhaupt der Drusen in Syrien, Scheich Hammoud al-Hannawi, kürzlich: »Die Drusen werden sich gegen jede Aufspaltung in der Region wehren. Unsere Existenz basiert auf der Existenz des Syrisch-Arabischen Staates.«

** Aus: neues deutschland, Dienstag 19. August 2014


Zurück zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage