Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Chance, alle Seiten zusammenzubringen"

Waffenstillstände zwischen Aufständischen und syrischer Armee auf lokaler Ebene möglich. Nationale Versöhnung braucht Zeit. Deutschland könnte wichtige Rolle bei Vermittlung spielen. Ein Gespräch mit Ali Haidar *


Ali Haidar führt das syrische Ministerium für nationale Versöhnung, das nach den Wahlen 2012 neu gegründet wurde. Er ist Vorsitzender der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP), die seit 2007 im Parlament vertreten ist.


In der Umgebung der Haupstadt Damaskus und in der Provinz Homs gibt es lokale Waffenstillstände. Es scheint, als habe ein vorsichtiger Versöhnungsprozeß angefangen. Hat Ihre Arbeit Erfolg?

Das Klima hat sich in der letzten Zeit tatsächlich etwas verbessert, so daß in einigen Orten eine Versöhnung möglich ist. Es ist ein erster Schritt hin zu der umfassenden nationalen Versöhnung, die wir anstreben. Von Anfang an habe ich gesagt, daß keine Seite die andere besiegen kann und daß wir eine politische Lösung brauchen. Viele waren davon nicht überzeugt. Die bewaffneten Gruppen verstärkten ihre Aktionen und bereiteten den Boden für diese Gotteskrieger, Fundamentalisten und Takfiristen [1], die aus aller Welt hier auftauchten. Wir wollen, daß diejenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, umkehren, mit uns reden und nach einer politischen Lösung suchen.

Heißt es, daß die verschiedenen Seiten aufeinander zugehen?

Es ist nicht so, daß die Seiten ihre Ansichten und Ideologien geändert haben, nein. Sie sind in einer Sackgasse gelandet, sie kommen nicht weiter, und hier können wir ansetzen. Es geht dabei um lokale Lösungen aus eigener Kraft, unabhängig von auswärtiger Vermittlung. Auch wenn international viel die Rede ist von einer politischen Lösung in Syrien, Tatsache ist, daß der Konflikt von außen angeheizt wird. Was hier in Syrien geschieht, hat nichts mit den Gesprächen in Genf zu tun, das sind zwei unterschiedliche Entwicklungen.

Mit wem konnten Sie die lokalen Waffenstillstände vereinbaren?

Wir arbeiten mit lokalen Komitees zusammen, die eine friedliche Entwicklung wollen. Es ist der Versuch, die gewaltsame Herangehensweise in politische Aktion zu transferieren. Aber von der nationalen Versöhnung sind wir noch weit entfernt. Wir sprechen jetzt von einer »sozialen Versöhnung«. Die nationale Versöhnung muß das Ergebnis des politischen Prozesses sein, den wir wollen.

Sie sagen, die aktuelle Entwicklung basiert auf der syrischen Kraft, nicht auf internationalen Bemühungen. Hat die syrische Gesellschaft eine besondere Stärke?

Die syrische Gesellschaft kann es nicht akzeptieren, daß diese Gewalt anhält. Unsere Gesellschaft will eine friedliche Lösung, und genau das hat uns vor einem Bürgerkrieg bewahrt. Das ist die Stärke der syrischen Gesellschaft. Ausländische Akteure haben zwar Untersuchungen über die syrische Gesellschaft und Kultur erstellt, aber sie haben uns nicht verstanden. Sie denken, wir seien ein Mosaik, das leicht auseinanderbrechen kann. Aber wir sind eng miteinander verwoben wie ein Teppich. Dort, wo es keine Gewalt gab, leben die verschiedenen Religionen und Volksgruppen in großer Harmonie zusammen. Mehr als 1,5 Millionen »sunnitische Muslime«, die aus Homs, Aleppo oder Deir Ezzor fliehen mußten, leben in der Küstenregion mit den Alawiten und Christen.

Sie sagen, es gebe keinen Bürgerkrieg in Syrien, was ja in Deutschland immer wieder behauptet wird. Wenn es kein Bürgerkrieg ist, was geschieht dann hier in Syrien?

Alle, auch die ausländischen Medien, wissen, daß mehr als 70 Prozent der Kämpfer hier in Syrien Ausländer sind. Sie kommen aus 83 verschiedenen Ländern. Syrien ist ein Austragungsort internationaler Konflikte geworden.

Welche Bedeutung haben die Genfer Gespräche für Syrien?

Grundsätzlich haben wir sie begrüßt, um einen politischen Prozeß zu beginnen. Die Gespräche sind ein Werkzeug, nicht das Ziel. Wichtige Faktoren, die für einen Erfolg gebraucht werden, waren bei »Genf II« nicht gegeben. Erstens fehlte der ehrliche politische Wille verschiedener Staaten, damit meine ich die USA, Großbritannien und Frankreich. Zweitens sollten Vertreter aller Syrer an den Gesprächen teilnehmen. So will es »Genf I«, die Vereinbarung vom Juni 2012. Das war nicht der Fall. Die Amerikaner haben entschieden, wer die syrische Opposition ist. Sie haben die Leute ausgewählt.

Die Gespräche sind also nutzlos?

Für uns bietet »Genf II« eine gute Gelegenheit, hier in Syrien voranzukommen. Auch die letzte Resolution des UN-Sicherheitsrates über die Verteilung humanitärer Hilfe ist insofern hilfreich, als alle Akteure jetzt bemüht sind, ihr Image international zu verbessern. Das ist für uns die Chance, alle Seiten zusammenzubringen.

Werden die Gespräche in Genf fortgesetzt?

Ja, aber ein Ergebnis wird es erst dann geben, wenn sich die internationalen Kontrahenten geeinigt haben. Es ist zwar nicht wie im Kalten Krieg, aber wir haben eine Konfrontation zwischen Rußland und den USA. Es geht um die iranischen Atomanlagen, den Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel. Der Libanon steht vor einer politischen Veränderung, die Amerikaner wollen ihre Truppen sicher aus Afghanistan abziehen. Auch in der Türkei stehen Wahlen an, der Westen will dort Raketen stationieren, dann haben wir die Ereignisse in der Ukraine – das erinnert an die Situation direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Weltmächte verändern die Kräfteverhältnisse und ihre Einflußsphären. Genf wird schließlich zu einer neuen Jalta-Konferenz.

Die Menschen in Syrien haben schreckliches durchgemacht. Sie brauchen eine langfristige Fürsorge. Die soll der nationale Versöhnungsprozeß gewährleisten. Haben Sie einen Plan dafür?

Ja, aber es ist nicht mehr als ein Plan. Die soziale Versöhnung soll die Regierung veranlassen, den Menschen zuzuhören und sie zu unterstützen. Wir fordern alle Regierungsstellen auf, Akteure in der sozialen Versöhnung zu werden und diese zu fördern. Das Motto ist: vom gewaltsamen Konflikt zum Dialog. Da gibt es Erfolge, sogar mit den Führern einiger bewaffneter Gruppen treffen wir uns und reden mit ihnen. Wir wollen diejenigen erreichen, die überzeugt sind, daß die Entwaffnung Voraussetzung für den politischen Prozeß ist. Jeder, der seine Waffe abgibt, wird in diesen Prozeß eingegliedert. Am Verhandlungstisch sind wir bereit, mit jedem über alles zu reden. Über die Verfassung oder auch über vorgezogene Wahlen.

In Qariatain in der Provinz Homs habe ich eine Versammlung beobachtet, auf der zwei Geistliche gesprochen haben, die seit Monaten für eine lokale Versöhnung arbeiten und schon einigen Erfolg hatten. Offenbar hat man dort den Eindruck, daß die Regierung nicht wirklich die Verantwortung gegenüber den Menschen wahrnimmt. Kommt diese Kritik bei Ihnen an?

Die Kritik ist mir bekannt, und ich akzeptiere, wenn gesagt wird, die Regierung sei nicht ernsthaft um eine Lösung der Probleme der Menschen bemüht. Das Vertrauen zwischen der Regierung und der Bevölkerung muß wiederhergestellt werden. Jahrelang war die Kommunikation zwischen der Regierung und der Bevölkerung blockiert. Besonders in Gebieten, wo es gewaltsame Auseinandersetzungen gab, sind die Beziehungen nicht gut. Wir müssen daran arbeiten, und das braucht Zeit.

Die Mitgliedsländer der EU haben vor mehr als zwei Jahren ihre Botschaften in Syrien geschlossen. Gibt es Versuche, die Beziehungen wiederherzustellen?

Der größte Fehler, den die Europäische Union in dieser Krise gemacht hat, ist, daß sie alle diplomatischen Beziehungen mit Syrien abgebrochen hat. Die Regierungen haben alle Kanäle geschlossen und ihre Leute aus den Botschaften abgezogen, über die sie hätten erfahren können, was tatsächlich hier in Syrien geschieht. Statt dessen bekommen sie ihre »Informationen« über die Medien. Gleichzeitig hat Europa seine Rolle als Vermittler in dieser Region verspielt. Es wäre jetzt klug und mutig, wenn die Europäer ihren damaligen Fehler korrigieren und die Beziehungen wiederaufnehmen würden. Es geht nicht darum, der syrischen Regierung zu helfen, sondern es wäre im eigenen Interesse der EU, um wieder eine politische Rolle hier zu spielen. Deutschland könnte dabei eine zentrale Rolle spielen, denn es hat eine ausgewogenere Position eingenommen als die USA, Frankreich und Großbritannien. Wir wissen, daß etliche europäische Staaten Beziehungen zu Syrien wiederaufnehmen wollen. Aber sie scheuen davor zurück, den ersten Schritt zu tun. Sie warten auf einen großen Staat, der vorangeht.

[1] Takfirismus ist eine radikale Strömung im Islam, die anders praktizierende Muslime als »Ungläubige« verfolgt und tötet. Diese Ideologie hat einen Alleinvertretungsanspruch für die Muslime und kritisiert die heutige Ummah, die Gemeinde der gläubigen Muslime, als fehlgeleitet. Der Takfirismus richtet sich auch gegen die westliche Welt

Interview: Karin Leukefeld, Damaskus

* Aus: junge welt, Samstag, 1. März 2014


Hintergrund: Berlin empfängt »Seine Exzellenz«

Eine Delegation der selbsternannten »Interimsregierung« der oppositionellen syrischen Nationalen Koalition (Etilaf) ist in dieser Woche von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier im Auswärtigen Amt in Berlin empfangen worden. Neben dem »Ministerpräsidenten« Ahmed Tomeh, für den das Protokoll am Werderschen Markt ausdrücklich die Anrede »Seine Exzellenz« vorgegeben hatte, nahmen auch dessen Stellvertreter sowie die »Minister« der Ressorts Kultur und Familie, Wirtschaft und Finanzen, Energie und Bodenschätze an den Beratungen teil. Bei den Gesprächen ging es laut Auswärtigem Amt um die humanitäre Hilfe, die »hohe Bedeutung einer Fortsetzung der Genfer Friedensgespräche« sowie »um den Wiederaufbau in den von der syrischen Opposition kontrollierten Gebieten«. Steinmeier gab sich »entschlossen, die gemäßigten Kräfte der syrischen Opposition (zu) stärken«, was unter anderem mit einem »von Deutschland eingerichteten Treuhandfonds« geschehen solle. Der Geldtopf verfüge inzwischen über 50 Millionen Euro und werde »direkt für Hilfsprojekte in den von der gemäßigten Opposition kontrollierten Gebieten eingesetzt«. Über die Geldvergabe entscheidet nach Aussage Steinmeiers die Nationale Koalition. Wo diese von der »gemäßigten Opposition kontrollierten Gebiete« in Syrien liegen, wird in der Erklärung des Auswärtigen Amtes nicht erwähnt.

Der stellvertretende syrische Außenminister Feisal Mekdad bezeichnete den Besuch als »sehr schlechtes Signal«. Man habe erwartet, daß »Herr Steinmeier, der Syrien sehr gut kennt, bei seinem Amtsantritt die Situation analysieren würde, um dann im Interesse Deutschlands und der europäischen Union zu arbeiten«. Hilfe für die Nationale Koalition bedeute »direkte Unterstützung von Extremisten und terroristischen Gruppen«, sagte Mekdad gegenüber junge Welt. Er hoffe, Steinmeier werde sein Vorgehen überdenken, zumal es »gegen das Völkerrecht verstößt«.

Die »gemäßigte Opposition« der Nationalen Koalition hat ihren Sitz in Istanbul und wird von der Staatengruppe der »Freunde Syriens« finanziell und politisch unterstützt. Die von den USA ins Leben gerufenen »Freunde Syriens« werden von einer Kerngruppe aus elf Staaten geführt, der auch Deutschland angehört. Die »Freunde Syriens« haben die Nationale Koalition als die »legitime Vertretung des syrischen Volkes« anerkannt. Anläßlich der Syrien-Gespräche in Genf, bei denen eine Delegation der Nationalen Koalition den Sitz der syrischen Opposition eingenommen hatte, war die Koalition auseinandergebrochen. Der Syrische Nationalrat, der etwa ein Drittel der Mitglieder der Koalition stellte, war aus Protest gegen die Teilnahme an den Gesprächen ausgetreten.

(kl)




Zurück zur Syrien-Seite

Zur Syrien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage